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Wenn „deutsche moralische Verantwortung“ zum zynischen Spiel wird

Lesezeit: 4 Minuten

Europäische Nachbarn ignorieren, um mit Russland besser verhandeln zu können, oder: wenn die „deutsche moralische Verantwortung“ zum zynischen Spiel wird

Ein kürzlich gegebenes Interview des deutschen Bundespräsidenten Steinmeier, in dem er die historische Verantwortung seines Landes betonte, löste in Polen und der Ukraine heftige Proteste aus. Warum das?

Fast drei Generationen sind vergangen, seitdem Deutschland den Zweiten Weltkrieg verloren hat und sich mit den vielen unmenschlichen Grausamkeiten auseinandersetzen musste, die der Nationalsozialismus vor und während des Krieges begangen hat. Seitdem hat die deutsche Nation ihre Identität und Würde auf diesen beiden Worten aufgebaut: „Nie wieder“. Dieses „nie wieder“ läuft jedoch aus dem Ruder. Einerseits hat man den Eindruck, je tiefer die Verbrechen im Nebel der Geschichte versinken, desto mehr Raum – zumindest rhetorisch – geben Schulen, Medien und Politikerreden den zwölf Jahren des „Tausendjährigen Reiches“, das die Bühne der kollektiven Geschichte jenseits des Rheins fast vollständig einnimmt.

Auf der anderen Seite wird deutlich, dass die „Erinnerungsarbeit“, auf die Deutschland so stolz ist, instrumentalisiert wird. In einer nahezu hegelianischen dialektischen Pirouette wird das (täglich wiederholte) Eingeständnis der deutschen Schuld zunehmend als Argument benutzt, um die Richtigkeit einer ganzen Reihe von politischen Positionen zu bestätigen, die höchst umstritten sind.

Ein paar kaum karikierte Beispiele: „Wir entschuldigen uns für den deutschen Totalitarismus, und deshalb wollen wir Polen und Ungarn zwingen, nur Parteien zu wählen, die wir Deutschen für politisch korrekt halten… Wir entschuldigen uns für den preußischen Militarismus, und deshalb ziehen wir es vor, dass die Franzosen und Amerikaner unsere Kriege für uns führen, indem sie ihre eigenen Bürger opfern…. Wir entschuldigen uns dafür, dass wir versucht haben, Europa zu erobern, und deshalb sind wir zu dem Opfer bereit, heute eine Führungsrolle in Europa zu übernehmen… Wir entschuldigen uns dafür, dass wir die ethnische Zusammensetzung Europas radikal verändern wollten, und deshalb zwingen wir unsere Nachbarn, einen Teil der vielen Millionen von Einwanderern aufzunehmen, die wir angestiftet haben, nach Europa zu kommen… Wir entschuldigen uns für den Holocaust an den Juden, deshalb unterstützen wir das Recht der Palästinenser, Israel täglich zu bombardieren, und wir wollen gute Beziehungen zum Iran, der alle israelischen Juden ins Meer zurückwerfen will… usw.

Das jüngste Beispiel für diese Pirouette ist aber zweifellos ein Interview, das der deutsche Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (SPD) am 6. Februar 2021 der Rheinischen Post gegeben hat, und zwar über die höchst umstrittene russisch-deutsche Pipeline „Nord Stream 2“. Darin erklärt er:

Nach der nachhaltigen Verschlechterung der Beziehungen in den vergangenen Jahren sind die Energiebeziehungen fast die letzte Brücke zwischen Russland und Europa. Beide Seiten müssen sich Gedanken machen, ob man diese Brücke vollständig und ersatzlos abbricht. Ich finde: Brücken abzubrechen ist kein Zeichen von Stärke.

Was auf den ersten Blick sehr richtig und moralisch klingen mag, ist es viel weniger, wenn wir uns an den realen Kontext erinnern, denn die Pipeline ist weit davon entfernt, eine Brücke zwischen Russland und Europa zu sein, sie ist vor allem eine Lebensader für Deutschland allein. In der Tat steht Deutschland vor den Scheren seiner sehr teuren „Energiewende“, die nach der Abschaltung von Atomkraftwerken und dem Ausstieg aus der Kohle zu einem extremen Anstieg der Energiepreise führte: Deutschland ist nun auf die Energielieferungen seiner Nachbarn angewiesen, und der russische Energiemarkt ist von entscheidender Bedeutung, um zu verhindern, dass in Deutschland Heizungen und Lichter ausgehen.

Der Bau einer direkten Pipeline ist daher kein humanitärer Akt im Namen Europas, sondern die Lösung eines Dilemmas, für das Deutschland selbst die volle Verantwortung trägt.

Dies ist umso wichtiger, als das „Europa“, das Deutschland zu repräsentieren vorgibt, sich weitgehend gegen „Nord Stream 2“ positioniert hat: Frankreich, Polen, die baltischen Staaten, Schweden, Dänemark, selbst die Europäische Kommission (und die USA) sehen die Annäherung zwischen Berlin und Moskau mit einer gewissen Skepsis, und

wenn Deutschland also behauptet, im Namen Europas und der Liebe zwischen den Völkern zu handeln, so deckt es im Grunde nur seinen eigenen Energiebedarf.

Diese Doppelmoral wird noch erschreckender, wenn man im selben Interview die Scheinheiligkeit liest, mit der Steinmeier die „besondere Verantwortung“ des modernen Deutschlands instrumentalisiert:

„Für uns Deutsche kommt noch eine ganz andere Dimension hinzu: Wir blicken auf eine sehr wechselvolle Geschichte mit Russland zurück. Es gab Phasen fruchtbarer Partnerschaft, aber noch mehr Zeiten schrecklichen Blutvergießens. Am 22. Juni jährt sich zum 80. Mal der Beginn des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion. Mehr als 20 Millionen Menschen der damaligen Sowjetunion sind dem Krieg zum Opfer gefallen. Das rechtfertigt kein Fehlverhalten in der russischen Politik heute, aber das größere Bild dürfen wir nicht aus dem Blick verlieren.“

Dieses „größere Bild“ wirkt sehr selektiv und hat zu massiven Einwänden der osteuropäischen Staaten geführt. Denn wenn der deutsche Einmarsch in Russland die deutsche Regierung dazu verpflichtet, sich für gute Beziehungen zum heutigen Russland und das materielle Wohlergehen seiner Bürger (und vor allem seiner Oligarchen) verantwortlich zu fühlen, wie sieht es dann mit den Beziehungen zu Polen und der Ukraine und deren eigenen wirtschaftlichen Interessen aus?

Steinmeier scheint zu vergessen, dass Russland nicht 1941 als Gegner, sondern 1939 als Verbündeter Hitlers in den Krieg eintrat, um die polnische Nation, die während der deutschen Besatzung 6 Millionen Einwohner verlor (davon 3 Millionen Juden), teilen und letztlich auslöschen zu können: Würde diese „historische Verantwortung“ nicht bedeuten, die aktuellen polnischen Einwände gegen eine Pipeline ernst zu nehmen, die das Risiko birgt, die bestehenden Leitungen durch die Ukraine und Polen zu umgehen und so zu einem bequemen Energiedruckmittel für Moskau zu werden?

In der Tat könnte durch die deutsche Pipeline nun der Rest Europas ungehindert beliefert werden, während Moskau seine beiden größten Widersacher in Europa, die Ukraine (die sich in einem indirekten Krieg befindet, um die Integrität ihres Territoriums zu verteidigen) und Polen (das durch die jahrhundertelange Russifizierung traumatisiert ist und das den russischen Zugang zu seiner Enklave Kaliningrad hindert), unter Druck setzen kann. Dank der deutschen Initiative wird dieses zunehmend uneinige Europa in Zukunft noch weiter geteilt werden können, während Deutschland die Rolle der Energiedrehscheibe spielen kann.

Die Schwächung des polnischen Nachbarn durch ein Bündnis mit Russland, alles im Namen der „deutschen Verantwortung“ für die Verbrechen des Zweiten Weltkrieges – das ist ein erschütternder Zynismus, den die so im Stich gelassenen Völker nicht so schnell vergessen werden…