Skip to content Skip to sidebar Skip to footer

„In der türkischen Welt sieht man Ungarn als Brückenkopf zur EU“

Die Magyar Nemzet ist die größte Tageszeitung Ungarns. Die 1938 gegründete Magyar Nemzet (dt. Ungarische Nation) ist eine führende Zeitung der Konservativen und steht der Regierung von Viktor Orbán nahe.

Lesezeit: 5 Minuten

Dieser Artikel ist am 6. Dezember 2021 in der Magyar Nemzet  erschienen.

– In der türkischen Welt sieht man Ungarn als Brückenkopf zur Europäischen Union – so beschreibt János Hóvári, Leiter des Budapester Büros der Organisation der Turkstaaten, die Bedeutung Ungarns in der türkischen Welt. Der ehemalige ungarische Botschafter in Ankara sprach auch über die ungarisch-türkischen Beziehungen sowie über den für die erste Hälfte des nächsten Jahres geplanten gemeinsamen Gipfel der V4-Länder und der Turkstaaten, der auf Initiative des ungarischen Premierministers Viktor Orbán veranstaltet wird.

Auf seinem letzten Gipfeltreffen beschloss der Türkische Rat, sich in Organisation der Turkstaaten umzubenennen, und begründete dies mit seinem Wunsch, eine stärkere Rolle in der internationalen Gemeinschaft zu spielen. Welche Maßnahmen wird dies in der Praxis bedeuten?

Die Umbenennung bedeutet im Wesentlichen, dass die Organisation der Turkstaaten (OTS), die derzeit eine 2009 initiierte zwischenstaatliche Zusammenarbeit zwischen Aserbaidschan, Kasachstan, Kirgisistan, Usbekistan und der Türkei darstellt, in Zukunft ein größeres Gewicht in der internationalen Politik haben möchte. Aus diesem Grund verabschiedete sie auf ihrem letzten Gipfeltreffen in Istanbul einen strategischen Plan, der sich bis 2040 erstreckt. Die von den fünf OTS-Staaten bewohnte Region ist ein idiosynkratisches Netzwerk, das eine Bevölkerung von fast 160 Millionen Menschen und die Wirtschaft dieser Bevölkerung zwischen Europa und Asien verbindet, aber auch eine Einheit, die durch ein immer deutlicheres System geostrategischer und geopolitischer Interessen, die sich aus ihrer eigenen Situation ableiten, zusammengeschweißt wird. Der Wille, diese Einheit innerhalb der globalen Verflechtungssysteme anzunehmen, spiegelt nicht nur den gegenwärtigen Alltag dieser riesigen Region, die sich vom Bosporus bis zum Altai erstreckt, wider, sondern auch ihre Zukunft. Da Ungarn seit 2018 ein Beobachterstaat dieser Organisation ist, betrifft diese Namensänderung auch uns, und wir haben sie freilich gebilligt.

Aus geografischer Sicht ist Ungarn wirklich weit von den Turkstaaten entfernt. Inwiefern kann es von diesem Beobachterstatus profitieren?

Am Anfang des 21. Jahrhunderts haben geografische Entfernungen nicht mehr die gleiche Bedeutung wie vor hundert oder zweihundert Jahren. Istanbul ist nicht weiter von Budapest entfernt als Brüssel. Und die Region um das Kaspische Meer ist von uns genauso weit entfernt wie beispielsweise Marokko oder Ägypten. Ungarn ist wirtschaftlich stark mit der Türkei verbunden und in den letzten Jahren hat unser Handel mit allen OTS-Mitgliedsstaaten zugenommen. Es ist eine Region, in der die Summe unserer Exporte die unserer Importe übersteigt: Der Überschuss liegt bei etwa 1,5 Milliarden US-Dollar. Aber es gibt noch mehr: Ungarischen Fachkräften und ihren Unternehmen eröffnen sich in Zentralasien neue Möglichkeiten – Möglichkeiten, zur Erneuerung der Innovationsfähigkeit der Gesellschaften und Volkswirtschaften in dieser Region beizutragen. Und die Hunderte von Studenten, die sich derzeit in Ungarn aufhalten, werden diesen Beitrag bald mit einem lokalen Hinterland sui generis ausstatten. Eigentlich wurde die türkische Welt ab Mitte des 19. Jahrhunderts auf den Namen Ungarn [magyar, was auf Ungarisch und in den Turksprachen „ungarisch“ bedeutet – AdÜ.] aufmerksam, als sie begann, Asien – von Istanbul bis zu den Turkvölkern Sibiriens – auf der Suche nach Brudervölkern zu durchforsten, so wie wir selbst schon früher damit begonnen hatten. Schon damals kamen mehrere dieser Forscher zum Studium nach Budapest und wurden zu großen Gelehrten – zum Beispiel Bekir Çobanzade oder Hamit Zübeyr Koşay.

Es ist jedoch richtig, dass der Name Ungarns im Laufe des vergangenen halben Jahrhunderts an vielen Orten der türkischen Welt etwas an Glanz verloren hat. Und nach dem Ende des Kalten Krieges haben wir nicht genug getan, um dies zu ändern.

Daher war es für uns an der Zeit, eine entschlossenere Außenpolitik in Bezug auf diese Region zu verfolgen. Und das natürlich nicht nur, um Licht in das Dunkel unserer Vergangenheit zu bringen, sondern vielmehr, um in der internationalen Gemeinschaft politische, wirtschaftliche und kulturelle Partner im Osten unseres Landes zu finden, so wie wir sie im Westen haben, und um Freunde zu gewinnen und so Mitteleuropa, dessen Herz und Seele wir sind, zu einem echten Zentrum zu machen.

Was verbindet Ungarn mit den Turkvölkern? Und wie sehen sie uns?

– Aufgrund unserer wirtschaftlichen Interessen müssen wir gute Beziehungen zur türkischen Welt haben. Und in dieser Hinsicht müssen wir nur dem Beispiel Tschechiens und sogar Deutschlands folgen. Es wäre gut, wenn wir mit der türkischen Welt, proportional zu unserer Bedeutung, über einen ebenso umfangreichen Außenhandel wie Berlin oder Prag verfügen würden. Es ist jedoch beruhigend zu sehen, dass wir ihnen dicht auf den Fersen sind. Die Türkei ist ein riesiger Markt, während die zentralasiatischen Länder an der Schwelle zu großen Entwicklungen stehen – nicht zuletzt aufgrund ihrer jungen Bevölkerung. Es sind erst wenige Jahre her, dass der größte Staat der Region, Usbekistan, mit dem Autoritarismus in der Wirtschaftspolitik gebrochen und sich für ausländische Investitionen geöffnet hat. Mehr noch, die Turkvölker betrachten uns als Mitglieder ihrer Großfamilie: Die Ungarn sind für sie ein Zweig desselben Baums, ein westlicher Zweig, der weit vom Stamm gefallen ist, aber der Ursprung eines erfolgreichen Volkes ist.

In der türkischen Welt sieht man Ungarn als Brückenkopf zur Europäischen Union – die in dieser riesigen Region eine stärkere und konstruktivere Rolle übernehmen muss.

Ministerpräsident Viktor Orbán hat dies bereits mehrfach betont: Für Budapest ist es aus geopolitischer Sicht von großer Bedeutung, nicht nur mit Berlin und Moskau, sondern auch mit Ankara ein strategisches Bündnis und freundschaftliche Beziehungen zu pflegen. Warum ist es angesichts der aktuellen geopolitischen Lage wichtig, freundschaftliche Beziehungen mit der Türkei zu pflegen?

In den letzten Jahrzehnten hat sich die Türkei zu einem wichtigen Machtzentrum entwickelt, das dem demografischen Gewicht des Landes, seinem wirtschaftlichen Gewicht und seinem sicherheitspolitischen Gewicht entspricht. Im Bereich des Warenhandels hat sich der ungarisch-türkische Handel schon seit einigen Jahren das Ziel gesetzt, fünf Milliarden US-Dollar zu erreichen. Wenn unsere Schätzungen stimmen, dürften wir Ende 2021 sehr nahe an dieses Ziel herankommen. Der kombinierte Wert unserer Exporte und Importe wird dann wahrscheinlich 4,4 Milliarden US-Dollar betragen. In den letzten Jahren haben sich zwischen der ungarischen und der türkischen Wirtschaft wichtige wirtschaftliche und finanzielle Verbindungen entwickelt – Verbindungen, die wir hoffentlich auch auf den Märkten von Drittländern nutzen können. Außerdem besteht kein Zweifel daran, dass es die Türkei ist, die den Migrantenstrom über die Ägäis blockiert – ein Strom, der dann durch den Balkan fließt und auch unser Land bedroht. Derzeit ist Ankara ein sehr wichtiger stabilisierender Faktor sowohl im Nahen als auch im Mittleren Osten, den neuen Quellen der Migration, sei es aufgrund der Bürgerkriege dort oder aufgrund anderer Krisen. Die Türkei spielt nicht nur in den laufenden Sicherheitsprozessen in Südosteuropa, sondern auch in denen in Mittelosteuropa eine wichtige Rolle.

Auf Initiative des ungarischen Premierministers soll in der ersten Hälfte des Jahres 2022 in Budapest ein Gipfeltreffen der Mitgliedsstaaten des Türkischen Rates und der Visegrád-Gruppe stattfinden. Könnte Ungarn zu einer Brücke zwischen diesen beiden Regionen werden?

Mit Blick auf die türkische Welt stimmen die Interessen der verschiedenen V4-Länder überein. Die Tschechen blieben trotz des Zusammenbruchs der Sowjetwelt in Zentralasien präsent. Was die Türkei betrifft, so begannen sie Ende der 1990er Jahre, dort strategische Investitionen zu tätigen. Die Beziehungen der Polen zur Türkei ähneln in vielerlei Hinsicht den Beziehungen der Ungarn zu diesem Land. Das Osmanische Reich hat die im 18. Jahrhundert vorgenommene Teilung des Königreichs Polen nie anerkannt. Dass Polen für seine Botschaft in Ankara ein so riesiges Gebäude zur Verfügung hat, liegt daran, dass man in Warschau in der Zwischenkriegszeit Ankara als potenziellen Zufluchtsort betrachtete – und ab 1939 wurde Ankara tatsächlich zu einem solchen. In Zentralasien und Aserbaidschan gibt es in jeder größeren Stadt eine polnische Gemeinde, deren Existenz durch die Präsenz römisch-katholischer Kirchen sichtbar gemacht wird. Gegenwärtig ist für die polnische Wirtschaft die türkische Welt ein wichtiger und wachsender Markt. Auch in Pressburg (Bratislava) wird eine äußerst aktive Türkeipolitik betrieben, wenngleich der Handlungsspielraum der Slowaken in den weiter entfernten türkischen Ländern durch die geringe Größe ihrer diplomatischen Vertretung in der Region eingeschränkt ist. Insgesamt kann man jedoch sagen, dass die V4 für die OTS einen gleichwertigen Partner wie Deutschland darstellt – auch wenn wir im Bereich des Warenhandels bislang nur etwa zwei Drittel der Ergebnisse unserer deutschen Freunde erreichen.

Dennoch wird der geplante diplomatische Gipfel in Budapest, dieses Treffen zwischen den V4- und den OTS-Ländern in jedem Fall ein historischer Moment sein, der Moment der Initiative und der Gestaltung der Zukunft.

Edith Krisztina Docza

Von der Visegrád Post aus dem Ungarischen übersetzt.