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Frankreich und die Kernenergie – welche Opportunität für Europa?

Lesezeit: 5 Minuten

In unseren Industriegesellschaften ist die Energiepolitik von Paradoxen durchzogen. Ideologie versus Pragmatismus, Ökologie versus wirtschaftlicher Appetit, idealistische Nüchternheit versus materialistischer Hedonismus. Nichts sollte von der Energiepolitik weiter entfernt sein als Effekthascherei oder emotionale Reaktionen. Doch in unserer Zeit entgeht nichts dieser Geißel. Bietet der Preisanstieg in diesem Herbst und die Gefahr von Engpässen Europa die Gelegenheit, einen Kurs zu setzen? Das wiedererwachte Interesse an der Kernenergie liefert einige Anhaltspunkte für eine Antwort.

Wiederbelebung des französischen Atomprogramms

Frankreich – In einer Fernsehansprache am 9. November kündigte der französische Präsident Emmanuel Macron den Bau von sechs neuen Atomreaktoren in Frankreich an: eine wegweisende Entscheidung seit dem Abschluss des Baus des letzten französischen Reaktors im Jahr 1997. Es handelt sich in zweierlei Hinsicht um eine voluntaristische Entscheidung: Der Produktionskoeffizient der französischen Kernkraftwerke schwankt zwischen 73% und 75% und liegt damit unter dem Spitzenwert von 77%, der im Jahr 2005 erreicht wurde. Außerdem sollte die Entscheidung über den Bau neuer Reaktoren nicht vor der Inbetriebnahme des Prototyps eines Kernreaktors der neuen Generation, des EPR (European Pressurized Reactor) in Flamanville, getroffen werden. Dieser kumuliert bereits zehn Jahre Verspätung und 8,9 Milliarden Euro Mehrkosten.

Da die Wirtschaft um jeden Preis „dekarbonisiert“ werden soll, befindet sich die Kernenergie in einer günstigen Lage. Und der Anstieg der Energiepreise in diesem Herbst hat dazu geführt, dass man sich offen zu dem bekennt, was für viele Umweltschützer ein Tabu ist. Die EU braucht dringend viel und billigen Strom, und die Atomindustrie hat keine andere Wahl, als sich weiterzuentwickeln, um nicht deklassiert zu werden.

Die Ankündigung Frankreichs ist im Übrigen Teil einer Strategie, die seit mehreren Jahren gereift ist. Im Jahr 2018 empfahl ein vom französischen Wirtschaftsminister Bruno Lemaire in Auftrag gegebener Bericht den Bau von sechs neuen EPR-Reaktoren ab 2025. Im November 2020 sah ein weiterer Bericht vor, dass der Staat die Hälfte des auf 47,2 Milliarden Euro geschätzten Budgets finanzieren sollte. Am Tag vor der Rede des Präsidenten erklärte EDF (Électricité de France) auf einer Pressekonferenz, dass man bereit sei, falls ein Bauprogramm gestartet werde.

Auch die Präsidentschaftswahlen im April 2022 spielen eine Rolle: Alle Kandidaten für die Vorwahlen der Rechten sowie Marine le Pen und Éric Zemmour wollen den Bau von Kernreaktoren wieder aufnehmen.

Europäische Erwartung in Bezug auf die Kernenergie

Emmanuel Macrons Erklärung knüpft an den gemeinsamen Standpunkt an, den viele europäische Länder etwas früher im Herbst veröffentlicht hatten. Die Minister von zehn EU-Mitgliedstaaten veröffentlichten nämlich im Oktober einen gemeinsamen Tribünenbeitrag mit dem Titel „Wir Europäer brauchen Atomkraft!“ Dieser Tribut kam zu einem günstigen Zeitpunkt, da Europa mit einem Anstieg der Gaspreise konfrontiert war. Darüber hinaus schwächte die politische Ungewissheit nach den Wahlen Deutschland, wo die Koalitionsverhandlungen stattfanden. Die Bundesrepublik steht zu ihrem hartnäckigen Willen, aus der Kernenergie auszusteigen. Die Länder, die den Gemeinsamen Standpunkt unterzeichnet haben, umschließen den deutschen Raum einer interessanten Koalition. Auf der einen Seite Frankreich, einer der weltweit führenden Akteure im Bereich der Kernenergie, auf der anderen Seite die vier Visegrád-Staaten Polen, Ungarn, Tschechien und die Slowakei, die auf den Osten außerhalb des Schengen-Raums (Bulgarien, Rumänien) und den integrierten westlichen Balkan (Kroatien, Slowenien) ausgedehnt wurden. Ohne einen baltischen Partner, Finnland, auszuschließen.

Der finnische Fall verdient es, näher betrachtet zu werden. Dieses wohlhabende Land in der EU, das bereits 1995 mit Schweden und Österreich in die EU-15 aufgenommen wurde, ist führend in der Lobbyarbeit für die Kernenergie. Fünf politische Parteien, darunter die Grünen, bilden die regierende Koalition. Bisher schlossen die Grünen aus, die Kernenergie als nachhaltig zu betrachten, was genau die Forderung ist, die in der gemeinsamen Erklärung aufgestellt wird. Es scheint also ein Aggiornamento im Gange zu sein, selbst im hohen Norden, wo die grüne Sensibilität eine beträchtliche politische Kraft darstellt. Paradoxerweise unterstützt das Dogma der entropischen Klimaerwärmung die Forderungen der Atomlobby nach „technologischer Neutralität“ in Bezug auf den Kohlenstoffausstoß.

Neues Kräfteverhältnis in der EU

Die länderübergreifende Zusammenarbeit variiert je nach Thema. Es ist bekannt, wie sehr das Thema Migration den Osten und den Westen der EU spaltet. In Bezug auf die Kernenergie geht es um eine Konstellation von Ländern, die Deutschland und einigen seiner Nachbarn (Österreich, Dänemark, Belgien, Luxemburg) gegenüberstehen. Viktor Orbán und Emmanuel Macron konnten im Frühjahr ihre Solidarität in der Atomfrage anlässlich des EU-Gipfels am 25. März zeigen. Eine Übereinstimmung der Ansichten, die zu dem gemeinsamen Bestreben, eine europäische Verteidigungspolitik zu entwickeln, hinzukommt. Auf der anderen Seite beabsichtigt Deutschland, im Anschluss an Angela Merkels Entscheidung von 2011, vorzeitig aus der Kernenergie auszusteigen, diesen Weg weiterzuverfolgen. Diese Entscheidung, die nach dem Unfall in Fukushima getroffen wurde, gehörte teilweise zur politischen Kommunikation, um den Umweltschützern den Wind aus den Segeln zu nehmen. Nun möchte Deutschland seine Entscheidungen und deren Konsequenzen auf Europa ausdehnen. Die Energiefrage verspricht, noch heißer zu werden, da der Winter kalt – und die Energiepreise hoch – sein werden.

Die europäischen Verträge erlauben es jedem Land, über seinen Energiemix zu entscheiden, wobei es einen engen Spielraum hat, um das doppelte Ziel einer reichlich vorhandenen und kohlenstofffreien Energieversorgung zu erfüllen. Die Unterzeichner aus zehn europäischen Regierungen sind der Meinung, dass eine Zukunft mit geringem CO2-Ausstoß nur möglich ist, wenn die Kernenergie ohne Tabus anerkannt und mit Gas ergänzt wird. Die Unterzeichner betonen, dass bereits die Hälfte des kohlenstofffreien Stroms in Europa aus Kernkraft stamme und dass die Kernkraft unverzichtbar sei. Ziel ist es, dass die Kernenergie wie Gas einen neutralen Status erhalte. Und damit die Kernenergie in den europäischen Rahmen für eine nachhaltige Finanzierung einzubeziehen. Darum geht es bei der europäischen Taxonomie, für die auf höchster europäischer Ebene Lobbyarbeit betrieben wird. Der Kampf ist unentschiedener denn je, da die Europäische Kommission ihre Entscheidung bis Ende 2021 treffen muss.

Man sollte sich die Absurdität der Situation vergegenwärtigen: Verschiedene Energiequellen werden einem tugendhaften Wettbewerb ausgeliefert. Eine lange Tradition von mehreren Jahren oder Jahrzehnten und regelmäßige Innovationen ermöglichen es den Anlegern, die Projekte ihrer Wahl in Kenntnis der Sachlage zu begleiten. Doch alles scheint letztlich an der grünen Taxonomie zu hängen, die die Europäische Kommission nur zögerlich fertigstellt.

Was will Europa?

Die Wiederbelebung der Kernenergie ist ein Garant für strategische Autonomie und Selbstversorgung mit Energie. Ohne sie ist es unmöglich, die Entwicklung einer Industriepolitik und die Aufrechterhaltung produktiver Arbeitsplätze in unseren Ländern angesichts der internationalen Konkurrenz ins Auge zu fassen.

Die Kernenergie scheint für viele europäische Länder eine vorteilhafte Wette zu sein. EDF hat der polnischen Regierung ein unverbindliches Angebot zum Bau von vier bis sechs Kernreaktoren mit der EPR-Technologie unterbreitet. Dies würde die Energieagenda Polens bis 2050 unterstützen. Ein solcher Kernkraftwerkspark würde 40% des polnischen Energiebedarfs für 60 Jahre decken. Dies ist ein bereits bestehender Trend: Das polnische Kernenergieprogramm (PPEJ) wird seit seiner Konzeption, mit Unterstützung der französischen Regierung, von EDF genau beobachtet.

Es könnte sein, dass die französische EU-Ratspräsidentschaft in der ersten Hälfte des Jahres 2022 die Gelegenheit biete, der Wiederbelebung der Kernenergie in der EU den ihr gebührenden Platz einzuräumen. Nicht isoliert, sondern nach einem Gesamtplan, bei dem der Bau von Kernreaktoren viele Länder betreffen würde, was die Produktionskosten entsprechend senken würde.

Dies gilt vor allem für einen neuen Typ von Kernreaktor: die kleinen modularen Reaktoren (SMR: small modular reactors). In diesem Bereich sind die USA und Russland Frankreich weit voraus: Ein Prototyp soll dort erst 2030 entstehen, und der kommerzielle Betrieb würde natürlich später erfolgen. Kleine modulare Reaktoren eignen sich hervorragend als Ersatz für Kohlekraftwerke; die bestehende Infrastruktur kann beibehalten werden, indem man die gleichen Schaltstationen und Hochspannungsleitungen nutzt, um den Strom in die Städte zu leiten.

Fazit: die europäische Vielfalt im Energiebereich akzeptieren

Frankreich kann keinen Schlussstrich unter die Kernkraft ziehen und Deutschland kann keinen Schlussstrich unter seine Kombination aus Windkraft und Erdgas ziehen: Beide Systeme müssen nebeneinander existieren und die europäische Taxonomie muss diese Pluralität widerspiegeln. Wenn Paris die deutsche Entscheidung zum Ausstieg aus der Kernenergie respektiert hat, muss Berlin den von Frankreich, Finnland und Mitteleuropa gewählten Ansatz respektieren. Es gibt noch mehr. 1957 wurden durch den Vertrag von Rom die EWG (Europäische Wirtschaftsgemeinschaft) und die EAG (Europäische Atomgemeinschaft) gegründet. Mit anderen Worten: Die Zusammenarbeit im Bereich der Atomenergie war von Anfang an ein Eckpfeiler der europäischen Einheit. Schließlich bedeutet die Marginalisierung der zivilen Atomkraft auch den Niedergang der militärischen Atomkraft. Aus dieser Sicht ist der Ausstieg aus der Kernenergie nicht nur ein wirtschaftlicher Schaden, sondern auch eine politische Verstümmelung mit weitreichenden Folgen für Europa im 21. Jahrhundert.