Von Modeste Schwartz.
Ungarn – Am Montag, den 26. Februar ist das Ungarn Viktor Orbáns mit einem Kater aufgestanden. Die Niederlage des Kandidaten der Fidesz-Mehrheit bei einer außerordentlichen Gemeindewahl (wegen des Todes des Amtsinhabers) hätte an sich nicht die Wirkung eines Erdbebens haben müssen. Auch in Hódmezővásárhely (Neumarkt an der Theiß), einem Marktflecken in dieser großen östlichen Ebene, die seit sehr langer Zeit als eine uneinnehmbare Hochburg der Fidesz gilt. Letztendlich – in Ungarn ist die Wahl des Bürgermeisters nicht mit der des Gemeinderats verbunden – handelte es sich vor allem um zwei Persönlichkeiten: einerseits ein ziemlich farbloser Fidesz-Kandidat, ein „Ersatzkandidat“, dessen Namen am Montag noch niemand kannte, und dessen Aufgabe es war, als Platzhalter für den eigentlichen Hausherr zu fungieren: János Lázár, Nummer zwei der Regierung; andererseits Péter Márky-Zay, eine Art Macron „von rechts“, gerade aus den USA zurückgekehrt, praktizierender Katholik bis zum Exhibitionismus und Vater von sieben Kindern. Sein Sieg ließ übrigens manche sagen, dass er in Hódmezővásárhely gewonnen habe, weil er dem Fidesz mehr entsprach als der Fidesz-Kandidat selbst.
Leider ist es alles andere als sicher. Einerseits beeilte sich Péter Márky-Zay gleich am Tag nach der Wahl gemeinsam mit dem Szegediner sozialistischen Bürgermeister einer EU-Fahne zu huldigen bzw. wiederholt Taten an den Tag zu legen, die jede Verwechslung mit dem Fidesz unmöglich machen. Besonders die Analyse der Ergebnisse zeigt aber im Gegenteil, dass die Fidesz-Wählerschaft nicht kleiner wurde; qualitativ hat sie sich womöglich entwickelt – und verlor, meiner Meinung nach, ein paar Punkte in der Mitte, seitdem der Fidesz einen härteren sozial-patriotischen Kurs gegenüber Brüssel eingenommen hat, aber die gewann sie am rechten Rand durch ehemalige Wähler oder Sympathisanten der Jobbik zurück, die durch den Verrat dieser ehemaligen rechtsradikalen Partei enttäuscht sind, die seit sechs Monaten in die Hände der linksliberalen Opposition spielt. Das bedeutet – wie die Zahlen der Wahlbeteiligung es zeigen – dass die Opposition es war, die mobilisieren konnte. Und zwar konnte sie nicht nur mobilisieren – was schließlich nicht allzu schwierig ist, gegenüber einer 8 Jahre alten Mehrheit, die ganz natürlich durch die Ausübung der Macht aufgerieben wird – sondern konnte sie auch und besonders ihre Unstimmigkeiten – trotz des Nichtvorhandenseins eines gemeinsamen Programms! – rein technisch überwinden.8
Was in der Tat den „Fall Hódmezővásárhely“ – besonders, wenn es sich am kommenden 8. April erweist, dass er eine Generalprobe für die ungarischen Parlamentswahlen war – zu einem seltsamen Präzedenzfall nicht nur in Ungarn, sondern europaweit macht, ist, dass diese siegreiche Opposition keinesfalls vereint ist.
Nicht nur, dass trotz einer ziemlich raschen und sehr überraschenden Versöhnung, die ungarische Linke (soziologisch rechts bzw. auf eine liberal/antifaschistische Ideologie fokussiert) und die Jobbik (vor drei-vier Jahren noch durch eindeutige ethnopluralistische, islamophile und antizionistische Positionen karakterisiert) beim bloßen Gedanken an eine gemeinsame Liste vor Grauen erschauern – aber selbst die sogenannte Linke konnte sich nicht einigen: die ehemalige postkommunistische Partei der 90er Jahre (MSZP) hat es nur durch die Abspaltung von dessen Demokratischer Koalition (DK) geschafft, sich vom sehr kompromittierenden Milliardär Ferenc Gyurcsány zu entledigen – der 2010 mit einem der demütigendsten Ergebnisse in der demokratischen Geschichte des Landes von den ungarischen Wählern geschaßt wurde. Hinzu kommen noch die LMP (Akronym des Satzes „man kann Politik anders machen“ auf Ungarisch) und die sehr junge Bewegung Momentum – zwei bürgerlich-alternative Innenstadtparteien, deren Ideologie irgendwo zwischen der Macron’schen Partei En Marche und den Grünen liegt, und die, ehrlich gesagt, die MSZP fast genauso verabscheuen und verachten wie den Fidesz.
Und trotzdem wurde Péter Márky-Zay gewählt, und zwar mit einem eindeutigen Sieg. Vorgestellt als „unabhängiger Kandidat“ versuchte er jedoch seine Verbindung mit der Jobbik nicht zu verbergen – was offensichtlich ein Großteil der heimischen „linken“ Wählerschaft nicht daran hinderte, ihm ihre Stimmen zu schenken.
Obwohl sie wohl die Hälfte der mediatischen Arena dominiert, zögert die Opposition zu Viktor Orbán nie davor, seine Regierung als eine „Diktatur“ darzustellen – und propagiert solche Verleumdungen, ohne jedwede Strafe zu erhalten: was wohl zeigt, inwieweit das Regime eine Diktatur sei). Diese Oppositionsmedien haben freilich den Sieg Hódmezővásárhely als ein heldenhaftes und spontanes „Erwachen des Volkes“ vorgestellt. Das ist freilich absolut falsch. Seit mehreren Monate haben sich diverse NGOs (deren Finanzierung wahrscheinlich unsere ganze Aufmerksamkeit verdienen würden) – die bekannteste ist wahrscheinlich die „Bewegung für ein gemeinsames Land“ (Közös Ország Mozgalom) von Márton Gulyás (ehemaliger Stipendiat des Aspen Institute, eines durch die Carnegie Corporation, den Fonds der Gebrüder Rockefeller, die Bill Gates Foundation, die Lumina Foundation und die Ford Foundation großzügig finanzierten Think Tanks, der bis vor kurzem von Walter Isaacson, dem früheren Direktor von CNN, geleitet wurde, dessen tiefgehende Verbindungen mit der CIA allgemein bekannt sind) – zum Ziel gesetzt, bei der Überbrückung der Unstimmigkeiten der ungarischen Opposition abzuhelfen, indem sie die Rolle einer neuartigen Schnittstelle spielt, zwischen einer als vereinigbar betrachteten Wählerschaft, über eine Frontalopposition gegen die Orbán-Regierung hinaus zu keiner Einigung fähigen Oppositionsparteien und einer (wohl aus Gründen, die mit ihrer Finanzierung zu tun haben könnten) durchaus dem Gedanken einer gemeinsamen Front geneigten Oppositionspresse. Im Hinblick auf den 8. April wird ihre Hauptaufgabe sein, aufgrund von Umfragen in jedem Wahlkreis herauszufinden, welcher Oppositionskandidat die meisten Siegeschancen habe, um dann mit dem „spontanen“ Rückzug der anderen Kandidaten zu rechnen.
Wird sich diese hybride Struktur am 8. April durchsetzen, hinter der Viktor Orbán selber in einem neulichen Interview im Rundfunk sagte, er würde „die Hand Soros’ erkennen“? Angesichts der letzten Umfragen darf man es bezweifeln: auch wenn sie vom Fidesz enttäuscht oder ihm traditionell feindlich gesinnt sind, fragen sich zahlreiche ungarische Bürger – zu Recht – wie ein Ungarn ausschauen würde, das (ein bißchen nach dem Vorbild der Ukraine nach dem Maidan) von einer „Chaoskoalition“ von Rechtsradikalen, Linksradikalen und Grünen regiert würde. Es stimmt wohl, dass die sogenannten Rechtsradikalen, durch den Jobbik-Vorsitzenden Gábor Vona, neulich Zugeständnisse geliefert haben, was einige Hauptthemen des Brüssler oligarchischen Konsens betrifft, und so wurden sie plötzlich europhil und homophil. Aber diese zweckmäßige Verklärung überzeugt ziemlich wenig die Linken, während sie sehr lebhafte Debatten und den Anfang einer Spaltung in der Jobbik hervorruft. Eins kann man bezüglich der Zukunft der ungarischen Politik mit Sicherheit sagen: wenn Gábor Vona am 9. März nicht zum Ministerpräsidenten wird, so wird er sicher an diesem Tag in Pension gehen.
Die „Hardliner“ der Fidesz haben übrigens entschieden, diese Drohung – ohne Panikmache – ernst zu nehmen und – durch Zsolt Bayer – zum einem Friedensmarsch (nach dem Vorbild aus dem Jahr 2012, das beinahe eine Million Demonstranten auf den Straßen von Budapest versammelt hatte) für den 15. März aufgerufen – wobei auch das Datum kein Zufall ist: am 15. März gedenkt alljährlich das ungarische Volk (in Ungarn und den angrenzenden Ländern) der ungarischen Revolution von 1848, die die habsburgische Monarchie im Blut hatte niederschlagen lassen, und worin viele die Vorgänger des „europäischen Projekts“ sehen wollen. Auf jeden Fall wird die Mobilisierung so groß sein, wie es nur geht.
Auch wenn es bereits jetzt sicher erscheint, dass die neue taktische Waffe der „Opposition“ dem Fidesz seine Zweidrittelmehrheit kosten wird, so ist es doch wahrscheinlich, dass er eine einfache Mehrheit bis 2022 behalten wird. Da allerdings keine NGO einen einzigen ungarischen Wähler zwingen kann, seine Stimme einem ihm ideologisch sehr enfernten Kandidaten zu geben, was immerhin in Hódmezővásárhely geschehen ist, so wäre der Fidesz gut beraten, mittelfristig auf eine tiefgehende Reflexionsarbeit über dieses Problem nicht zu verzichten.
Unter der Wirkung des Elektroschocks von Hódmezővásárhely hat diese Reflexionsarbeit übrigens schon begonnen. Sie fokussiert sich derzeit auf die Kommunikationsstrategie des Fidesz, so wie sie bisher von dessen Werbeguru Árpád Habony definiert wurde. Manche prangen eine obsessive Übergewichtung der Migrationsthematik an, während andere darauf hinweisen, dass auch wenn Orbán im Grunde Recht hat, die übertriebene Vereinfachung der Botschaften kontraproduktiv sein könnte, indem man u.a. dem bestausgebildeten Teil der Bevölkerung den Eindruck einer Indoktrinierung „nach altem Muster“ gebe.
Dieses Kalibrierproblem in der Kommunikation ist meiner Meinung nach durchaus vorhanden, doch stellt es besonders das Symptom einer unterschwelligen soziologischen Wirklichkeit dar: nach 8 Jahren einer vorbildlichen und wirksamen Politik im Dienste der ungarischen Mittelschicht (praktisch die einzige in Europa, die nicht systematisch von der Regierung geopfert wurde) befindet sich der Fidesz immer mehr im Zangengriff zweier strukturell feindlichen Kategorien – eine alte und eine neue: ein Subproletariat, für das er in der Tat nicht allzu viel getan hat, und eine „kreative Klasse“, für die er alles getan, und die ihn trotzdem verraten wird. Die fehlende Unterstützung der weniger vermögenden Schichten für das „Projekt eines Neuen Ungarns“ des Fidesz ist meiner Meinung nach nicht so sehr die Konsequenz davon, dass letztere sich für die Migrationsproblematik nicht interessieren, die vom laufenden Wahlkampf in den Vordergrund gestellt wird, als von einem gewissen Mißtrauen gegenüber einer sozial-politischen Fidesz-Elite, die öfters eine soziale Verachtung schlecht verbirgt, die schließlich sehr ähnlich ist wie die, die Ferenc Gyurcsány und dessen Helfershelfer vor 2010 zur Schau stellten. Wenn der Fidesz sich weiterhin durchsetzen kann, so ist es vor allem dank der – im besten Sinne populistischen – Persönlichkeit seines Vorsitzenden Viktor Orbán, eines Mannes aus dem Volk, der bis heute eine wirkliche Empathie für die Ungarn aller Klassen und aller Regionen und – soweit man beurteilen kann – eine aufrichtige Zuneigung für das Volk behalten hat, aus dem er stammt.
Und so kommen wir zum Knoten des Problems: obwohl diese juristisch völlig unbegründet ist, verweist die so oft von den Agenten des westlichen Soft-Powers gegen Orbán formulierte Anschuldigung auf die Wirklichkeit einer persönlichen Macht innerhalb des Staates und der Partei, die absolut legitim und so von den Wählern gewollt ist, jedoch stört dies die hohen Sphären. In Wirklichkeit deuten manche Zeichen (darunter ein halbes Geständnis von Márton Gulyás am Ende eines neulichen Interviews) darauf, dass die internationalen Sponsoren der neuen hybriden Struktur am Werk in Ungarn nicht unbedingt vorrangig das Ziel hätten, eine neue parlamentarische Mehrheit zu schaffen – die, angenommen, dass die Wähler sich überzeugen ließen, höchstwahrscheinlich zu einer ununterbrochenen Regierungskrise, ja sogar mittelfristig zu einer Aufstandssituation führen würde. Es ist durchaus denkbar, dass das vorrangige – viel realistischere und weniger abenteuerliche – Ziel eher eine Schwächung des Fidesz in der Wählergunst und im Parlament sei, was eine Palastrevolution innerhalb der Partei möglich machen würde, um damit Viktor Orbán von der Macht in Partei und Staat zu verdrängen. Tatsächlich, wenn die unmittelbare Umgebung Viktor Orbáns (wie z.B. der Präsident des Parlaments László Kövér oder der Starpublizist des Fidesz Zsolt Bayer) dessen populistisch-souveränistische Entwicklung befolgt bzw. mitgetragen (in manchen Fällen sogar verstärkt) hat, so träumen doch viele unter den Fidesz-Baronen der 1990er Jahre noch von einem Ungarn, das einem Musterschüler von Brüssel gliche, und wären bereit (z.B. im Energiebereich) die ungarischen nationalen Interessen auf dem Altar der institutionellen Russenfeindlichkeit zu opfern, sich „zuvorkommender“ mit den Banken zu zeigen und sich gelinder auszudrücken, wenn es von Libyen oder Syrien die Rede ist – kurz gesagt: ein Ungarn „à la Macron“. Schließlich, Ironie des Schicksals, können viele dieser Barone etwas diskreter böse auf Orbán sein (dessen Namen von Soros’ mediatische Echo-Chamber zum Synonym für „Korruption“ gemacht wurde), und zwar wegen der Politik der mani pulite, die er diskreterweise in den letzten Jahren innerhalb der Partei aufgezwungen hat – und die sich durch die lautstarke Exkommunion des Magnats Simicska geäußert hat – der seitdem zu einem der wichtigsten Mäzenen dieser Opposition geworden ist, die behaupte, „das System ändern“ zu wollen.
Gemäß manchem Geflüster ist sich Viktor Orbán übrigens durchaus dieses Risikos bewußt, und hätte seit den letzten Europawahlen dafür gesorgt, einen Teil seiner Barone nach Brüssel zu entfernen, wo sie scheinheilig im EU-Geld und im liberalen Konsens schwimmen und sich dabei tageweise gegen ihren Chef verschwören können – aber das tun sie dann fern ihrer Basen und Netzwerke in Ungarn. Stimmen diese Informationen? Und wenn ja, wird es für Orbán genügen um einen Putsch zu vereiteln, wenn einmal für den Morast der Fidesz-Kader sein Name nicht mehr für einen „Sieg auf jeden Fall“ bürgen kann? Wäre es nicht doch eher an der Zeit, das Parteiapparat an die Basis näher zu bringen – die einstimmig an Orbán glaubt? Die Zukunft wird es uns zeigen.