Polen, Warschau – Im Gespräch mit Maciej Szymanowski, polnischer Historiker und Schriftsteller, Berater des Sejm-Marschalls für internationale Fragen und V4-Experte: „Die Visegrád-Gruppe ist das Symbol einer erfolgreichen Transition nach dem Fall des Kommunismus“.
Mitte November haben Ferenc Almássy und Olivier Bault Maciej Szymanowski, den Berater des Sejm-Marschalls (Präsident des Parlaments) für internationale Angelegenheiten und die Visegrád-Gruppe getroffen. Maciej Szymanowski ist Historiker und Politologe, aber er arbeitete auch als Journalist für unterschiedliche Medien in den Visegrád-Ländern und unterrichtete an der katholischen Universität in Budapest. In der Vergangenheit leitete er auch die polnischen Institute in Budapest und Prag. Ferner spricht er alle vier Sprachen der Visegrád-Gruppe. Herr Szymanowski empfing die Mitarbeiter der Visegrád Post Mitte November 2017 im Sejmgebäude in Warschau.
Ferenc Almássy: Ich möchte mit einer persönlichen Frage beginnen. Wieso haben Sie sich für Ungarn interessiert?
Maciej Szymanowski: Aus Faulheit! Wenn ich das Gymnasium in Kattowitz besuchte, lernte ich Englisch und Russisch – was damals Pflicht war – und auch Latein. Die Lateinlehrerin verlangte sehr viel von uns und ich verbrachte die ganze Woche dabei über mein Latein zu brüten. Ich hatte keine Zeit mehr für Mathematik oder Englisch. Jedoch wußte ich, dass diejenigen, die Ungarisch als dritte Fremdsprache hatten, Zeit zum Feiern bzw. für die anderen Fächer hatten. Also habe ich anfangs Ungarisch aus Faulheit gewählt, ohne je zuvor in Ungarn gewesen zu sein. Ich hätte genauso Tschechisch statt Ungarisch wählen können, aber damals hatten die Tschechen keinen so guten Ruf in Polen, und in meiner Familie mochte man sie nicht. Ich hätte auch noch Tschechisch in der Universität lernen können. Ich studierte damals jugoslawische Philologie und beschäftigte mich also mit Serbien und Kroatien. Und da ich gute Noten bei den Prüfungen hatte, hat man mir vorgeschlagen, meine Zeit nicht mit dem Balkan zu vergeuden, sondern lieber Tschechisch zu lernen, was ich aber ablehnte. Ich rede darüber, weil es sehr wohl illustriert, wie sehr Gott Humor hat. Ich habe es zweimal abgelehnt, Tschechisch zu lernen, aber schließlich mußte ich es trotzdem, weil ich eine Tschechin geheiratet habe.
FA: Ihr Interesse für Ungarn wurde anfangs also durch Faulheit diktiert, aber Sie haben Beharrlichkeit gezeigt. Sie haben das polnische Institut jeweils in Budapest und Prag geleitet. Was hat Sie dazu gebracht, sich im Allgemeinen für Ost- und Mitteleuropa bzw. für die Visegrád-Gruppe zu interessieren?
Maciej Szymanowski: Es ist ein faszinierender Teil des europäischen Kontinents. Man braucht bloß sein Auto zu nehmen und ein paar Stunden zu fahren, um durch mehrere Länder mit anderer Sprache, anderer Kultur, anderer Küche zu gelangen. Diese Vielfalt Mitteleuropas, das ein Teil des Westens ist – zumindest der Teil Mitteleuropas, wo ich mich bewege –, hat mich immer fasziniert. Das ist es, was mich dazu gebracht hat, mich mit diesem Teil Europas zu beschäftigen.
FA: Sie sprechen von Mitteleuropa, um unter anderem die Länder der Visegrád-Gruppe zu bezeichnen. Innerhalb der Europäischen Union zeichnen sich diese Länder als eine zusammenhängende Gruppe aus, die mit einer Stimme spricht. Aber im Westen des Kontinents, in Frankreich z.B., bezeichnet man die Visegrád-Gruppe als Osteuropa.
Maciej Szymanowski: Schauen wir erst mal auf die Landkarte: wo ist Mitteleuropa? Ich sage, Mitteleuropa ist da in der Mitte des Kontinents; es ist geographisch bzw. mathematisch. Der Mittelpunkt des Kontinents zu sein nimmt man in Anspruch in Prag auf dem Hauptplatz der Altstadt, bzw. ebenfalls in Suchowola in Polen, in Kremnitz (Kremnica) in der Slowakei bzw. in Tállya in Ungarn. Es gibt noch weitere Orte, die sich als Zentrum Europas sehen, etwa in Litauen und in der Ukraine. Mitteleuropa besteht also aus all diesen Ländern.
Olivier Bault: Auf politischer Ebene im Rahmen der Europäischen Union, denken Sie, dass dieses Mitteleuropa, und namentlich die Visegrád-Gruppe, eine Einheit bildet, wenn man z.B. von einem Europa mit zwei Geschwindigkeiten spricht?
Maciej Szymanowski: Es ist eine schwierige Frage, aber ich werde mich bemühen darauf zu antworten. Die Visegrád-Gruppe oder V4 besteht aus vier Staaten deren Völker eine eher schwierige Geschichte hinter sich haben. Wie die anderen Völker Mitteleuropas wurden sie mit den osmanischen, russischen und deutschen Imperialismen konfrontiert, und mußten kämpfen um zu überleben. Aber sie haben überlebt und sie bildeten oft kleine aber starke Nationen. Wir sind sehr verschieden, aber wir haben auch viel Gemeinsames. Warum sind wir so verschieden? Wissen Sie z.B., dass genetisch betrachtet – was das Gen R1a1 betrifft –, die Ungarn näher zu den Polen stehen, als z.B. die Tschechen, obwohl die Tschechen Westslawen sind, wie wir? Aber so oder so haben wir auch unheimlich viel Gemeinsames. Das sieht man z.B. sehr gut, wenn Ungarn, Polen, Tschechen und Slowaken nach Westeuropa oder gar auf ein anderes Kontinent reisen, um an wissenschaftlichen Konferenzen teilzunehmen. Gewöhnlich sitzen sie gemeinsam beim Essen. In unserer westlichen Kultur ist das Essen ein Moment der Intimität und es ist uns nicht egal, mit wem man da sitzt. Sehr oft bei diesen Konferenzen setzen sich die Ungarn, die Tschechen und die Polen am selben Tisch. Warum? Weil sie sich zusammen wohl fühlen. Und warum fühlen sie sich wohl? Weil wir alle ungefähr die gleichen Filme gesehen haben, weil wir die gleichen Bücher in der Schule gelesen haben, und weil wir viele gemeinsame Gesprächsthemen haben.
FA: Man sagt öfters, dass die Visegrád-Gruppe gegründet wurde, um einen gemeinsamen Beitritt ihrer Mitglieder in die EU und in die NATO zu erleichtern. Gab es nicht eben andere Gründe, die aus dieser Intimität unter unseren Völkern hervorgehen?
Maciej Szymanowski: Doch, da die Visegrád-Gruppe in historischen Treffen aus dem 14. Jahrhundert wie in wichtigen historischen Ereignissen wurzelt. Für die Ungarn z.B. gab es eine sehr wichtige verlorene Schlacht gegen die Türken, die Schlacht bei Mohács. Die Ungarn haben dort gekämpft und sind dort neben den Polen gefallen. Es gab viele historische Momente, wo wir Seite an Seite waren. Es ist auch vorgekommen, dass wir gegeneinander standen, aber meistens waren wir im selben Lager. Wir haben auch als gemeinsames Erbe, dass wir den deutschen nationalen Sozialismus in einer besonders aggressiven und zerstörerischen Form und dann den sowjetischen internationalistischen Sozialismus erlebt haben.
FA: Nach den Wahlen in Österreich ist es wahrscheinlich, dass sich dieses Land der Visegrád-Gruppe annähert. Gibt es andere Länder in Ost- und Mitteleuropa, die sich in naher Zukunft der V4 annähern bzw. sogar sich ihr anschließen oder die Standpunkte der V4 in Europa unterstützen könnten?
Maciej Szymanowski: Die Visegrád-Gruppe gehört der Europäischen Union, genauso wie die skandinavischen Länder. Aber sie ist auch das Symbol für eine erfolgreiche Transition nach dem Fall des Kommunismus 1989. Es ist uns gelungen, die Demokratie und die Marktwirtschaft so ziemlich rasch wieder herzustellen, und zwar dermaßen, dass wir manchmal Probleme mit Ländern wie Frankreich haben, die den freien Dienstleistungs- und Personenverkehr einschränken möchten. Die V4 hat also gezeigt, dass es in diesem Teil Europas möglich war, die Sachen schnell und gut zu machen, und das ist ein Vorbild für die Ukraine, für Weißrussland und andere. Seit Jahren hat die V4 auch eine V4+-Formel, die einen Kooperationsrahmen mit anderen Ländern für bestimmte Bereiche bzw. Ziele darstellt. Eines unserer großen Ziele im Moment ist es z.B. ein Netz von Autobahnen und Transportwegen sowie ein Energienetz auf der Nord-Süd-Achse, sprich von Skandinavien nach Kroatien, zu entwickeln, und zwar auf gleichem Niveau wie im westlichen Teil der Europäischen Union. Derzeit bauen wir z.B. die Via Carpatia um den Osten Polens mit der Slowakei und Ungarn zu verbinden. Langfristig soll die Via Carpatia von Litauen nach Kroatien führen, und vielleicht sogar bis in die Türkei. Polen hat einen Flüssigerdgashafen gebaut und wird ihn vergrößern. Die Idee ist, dass das Gas, das von der Ostsee – bzw. in Zukunt auch über die Insel Krk in Kroatien – kommt, in alle Länder in der Region verteilt werden kann.
FA: Der Bau einer Nord-Süd-Achse ist ein strategisches Ziel für Polen. Es ist auch der Zweck der Drei-Meere-Initiative. In einem Kontext von Spannungen zwischen den USA und Russland, läuft man da nicht die Gefahr, diese Region in einer Pufferzone zwischen Russland und dem Westen des Kontinents zu verwandeln?
Maciej Szymanowski: Hoffentlich nicht. Die Drei-Meere-Initiative, das sind große Infrastrukturprojekte zwischen Ländern des östlichen Teils der EU. Sie werden selbstverständlich eine Wirkung auf Länder haben, die keine EU-Mitglieder sind und teilweise der EU nicht beitreten, sondern bloß gute Beziehungen mit ihr pflegen wollen. Wir bemühen uns das zu berücksichtigen, denn die EU wurde ursprünglich gegründet, um den Kontinent insgesamt zu vereinen, und nicht um ihn zu dividieren. Was die geopolitischen Aspekte dieser Projekte betrifft, ist es schwierig in einigen Sätzen zu antworten. Ich bin allerdings überzeugt, daß sich die Spannungen zwischen Washington und Moskau – wie auch zwischen Warschau und Moskau – früher oder später zwangsweise abschwächen werden, denn die Politik der Konfrontation liegt nicht im Interesse Russlands. Langfristig ist eine solche Politik sehr schädlich, insbesondere eben für die Russische Föderation. Russland hat riesige Probleme mit der Wirtschaft und der Demographie, so z.B. mit der Entvölkerung Sibiriens, sowie viele weitere noch. Das alles macht, dass es eine solche Politik der Konfrontation langfristig nicht wird aushalten können.
FA: Wie sind die Beziehungen der V4 mit den anderen Mächten, wie z.B. China? Kann man von einer Außenpolitik der V4 sprechen oder von getrennten Außenbeziehungen zwischen jedem Land der V4 und diesen Mächten?
Maciej Szymanowski: Meiner Meinung nach führen wir als Visegrád-Gruppe jeweils eine einander sehr naheliegende Außenpolitik, die unserer Mitgliedschaft in EU und NATO den Vorrang gibt. Die Polen und die Ungarn sind eher pro-EU. Sie sind zu 70-80 % über ihre Mitgliedschaft in der Europäischen Union zufrieden. Es ist etwas weniger der Fall in der Slowakei und in Tschechien, aber man kann sagen, dass wir trotz allem insgesamt alle pro-EU und pro-NATO sind. Es ist für uns eine Frage der Sicherheit. Unsere Politik geschieht also im Rahmen der NATO und der EU, einschließlich der Außenwelt – wie z.B. China – gegenüber. Es gibt dieses große chinesische Projekt der Neuen Seidenstraße, und alle V4-Länder nehmen daran teil. Da gibt es auch keinen wesentlichen Unterschied zwischen der Außenpolitik Polens und z.B. derjenigen Tschechiens oder Ungarns. Im Wesentlichen sind wir unter uns einverstanden.
OB: Gibt es trotz allem keine wichtigen Gegensätze zwischen den Beziehungen von Polen zu Russland und denen von Ungarn zu Russland oder auch der Slowakei zu Russland? Die führenden Politiker in Ungarn, der Slowakei und Tschechien sagen oft, dass man die nach der Annexion der Krim verhängten Sanktionen aufheben sollte.
Maciej Szymanowski: Man soll eher von einem Unterschied zwischen den Beziehungen von Russland zu Polen und denjenigen von Russland zu den anderen V4-Ländern. Es ist eine klassische Strategie der Division. Ein typisches Beispiel für diese russische Strategie ist die Frage des Wracks des polnischen Regierungsflugzeugs – das 2010 bei Smolensk abgestürzt ist – und von dessen Flugschreiber, den Russland weiterhin ablehnt, Polen zurückzugeben.
OB: Glauben Sie, dass es sich dabei um eine absichtliche Provokation handelt?
Maciej Szymanowski: Ja. Es ist eindeutig eine Strategie der Provokation mit dem Zweck, einen Keil zwischen den Mitgliedern der Visegrád-Gruppe und der Drei-Meere-Initiative zu treiben. Russland mag solche Kooperationen in diesem Teil Europas nicht, wenn es daran nicht teilnimmt. Unsererseits wissen wir, dass allein die Zusammenarbeit in Mitteleuropa uns eine Garantie für den Fortschritt und den Frieden gibt.
FA: Sie haben gesagt, dass sich die Spannungen zwischen Russland einerseits und Westeuropa und den USA andererseits langfristig abschwächen sollten. Denken Sie, dass dies für die V4 eine Chance sein wird, wirklich zum Mittelpunkt des Kontinents zwischen Russland und dem Westen zu werden? Insbesondere nach dem Bau der Infrastrukturen auf der Nord-Süd-Achse könnte dieser Teil Europas am Scheideweg stehen zwischen Ost und West.
Maciej Szymanowski: Wir wollen ganz sicherlich nicht am Scheideweg zwischen Ost und West stehen. Wir wollen einfach ein Bestandteil des Westens sein, und zwar mit guten Infrastrukturen, um die Menschen unter sich zu verbinden. Ich habe die Spezifizität erwähnt, die Mitteleuropa vom westlichen Teil des Kontinents unterscheidet, wie z.B. die unterschiedliche Erfahrung im Zweiten Weltkrieg oder die Tatsache, dass wir nacheinander erst von den Deutschen, dann von den Sowjets besetzt wurden. Für uns kam der Zweite Weltkrieg 1989 zu Ende, oder genauer 1993 in Polen und 1991 in Ungarn, wenn die sowjetische Armee unsere jeweiligen Staatsgebiete verlassen hat. Deswegen haben wir eine andere Vision der Vergangenheit als die Franzosen z.B. Allerdings hat dieser Teil Europas, wo wir uns befinden, niemals gegen den westlichen Teil Europas gekämpft, denn wir sind ein Teil der westlichen, lateinischen und christlichen Kultur, die auf der griechischen Philosophie, dem römischen Recht, usw. beruht.
FA: Denken Sie nicht, dass im Rahmen der Europäischen Union, der dieser Teil Europas zu gleichen Bedingungen beigetreten sein sollte, wie die Anderen, man die Entwicklung einer insbesondere wirtschaftliche und insbesondere deutsche Dominanz beobachten kann, und dass die Länder Mitteleuropas mit denen im Westen nicht gleichgestellt werden?
Maciej Szymanowski: Die meisten Wirtschaftswissenschaftler stellen fest, dass die Eurozone günstiger ist für die deutsche Wirtschaft als für die italienische oder die spanische. Es ist eine Tatsache. Aber wir sind nicht in der Eurozone und dies belastet uns nicht. Wir haben andere Probleme im Bereich der Steuereinnahmen. Die deutschen oder französischen Unternehmen fliehen oft vor den polnischen Steuern, aber es handelt sich da um ein breiteres Phänomen, das nicht allein die Länder unserer Region betrifft. Umgekehrt haben die V4-Länder einen Handelsüberschuss gegenüber Deutschland, im Gegensatz zu Frankreich.
OB: Innerhalb der Europäischen Union werden Polen und Ungarn mit ziemlich brutalen Angriffen konfrontiert und ihnen wirft man vor, die europäischen Werte, die demokratischen Prinzipien, usw. zu verletzen. Sind die Ursachen dieser Angriffe die gleichen für beide Länder?
Maciej Szymanowski: Es gibt in der Tat Ähnlichkeiten. Es besteht weiterhin sowas wie ein geistiger Eiserner Vorhang. Im Westen des Kontinents hat man wenig Kenntnisse über unseren Teil Europas, wegen der kommunistischen Ära und der Teilung, die diese hervorgerufen hat. Im Jahre 2012 hat die frühere polnische Regierung eine Studie mit Fragen folgender Art durchführen lassen: Kennen Sie eine polnische Stadt oder eine polnische Persönlichkeit? Was die Städte betrifft, waren 38 % der Deutschen nicht in der Lage Krakau oder Warschau zu erwähnen. Bei den Franzosen und Briten waren es 62 bzw. 63 %. Das Problem ist also zuerst, dass man uns weiterhin nur sehr schlecht kennt. Dann gibt es freilich weitere Faktoren, die noch dazu kommen. Die derzeitigen Regierungen in Polen und Ungarn sind rechtsgerichtet, und dies unterscheidet sie – auf der Ebene der Werte und der geführten Politik – von den Regierungen Emmanuel Macrons oder Angela Merkels. Es ist übrigens durchaus natürlich: die Regierungen ändern sich und das ist es, was die Vielfalt Europas ausmacht. Gegenüber diesen Angriffen sollte man ruhig bleiben. Es ist nur schade, wenn manche führende Politiker dazu neigen, sich öfters über die Probleme anderer Länder zu Wort zu melden, als über die Probleme ihres eigenen Landes.