Dieser Artikel ist am 17. Juni 2021 in der Magyar Nemzet erschienen.
Das am Dienstag vom ungarischen Parlament verabschiedete Gesetzespaket gegen Pädophilie hat nicht nur in Ungarn, sondern auch im Ausland für Aufsehen gesorgt. Obwohl die Gesetze dem Schutz von Kindern dienen sollen, wurden sie von LGBTQ-Organisationen und den dahinter stehenden politischen Kräften als gezielter Angriff auf Homosexuelle interpretiert. Da die internationale Presse die Gesetze als schwere homophobe Diskriminierung bezeichnete, sahen sich viele Politiker gezwungen, der ungarischen LGBTQ-Community ihre volle Solidarität und Unterstützung zu versichern. Brüssel erwägt rechtliche Schritte gegen Ungarn.
Am Dienstag verabschiedete das ungarische Parlament mit 157 gegen eine Stimme – die Jobbik-Abgeordneten hatten mit der Mehrheit gestimmt – das Gesetz zur „Änderung bestimmter Gesetze zum Schutz von Kindern und zur strengeren Bestrafung von Pädophilie-Delikten“. Die Reaktion der LGBTQ-Lobby war vorhersehbar: Nach der Gay-Pride-Demonstration am Montag wurde eine ungarische bzw. internationale Kampagne gegen dieses als homophob deklarierte Gesetzespaket gestartet.
Mit Füßen getretene Rechte?
„Wenn Viktor Orbán den Unterschied zwischen einem Schwulen und einem Pädophilen nicht kennt, sollte er József Szájer oder Gábor Kaleta fragen“ – so Zita Gurmai von der Ungarischen Sozialistischen Partei im Gespräch mit ATV TV.
Die linken Tenöre sprechen von Rechten der LGBTQ-Community, die angeblich mit Füßen getreten wurden, und versprechen, dass sie, falls sie 2022 gewählt werden, sofort daran gehen würden, diese Gesetze zu ändern. András Schiffer sagte gegenüber dem Radiosender Spirit FM, dass die Gesetze ein politischer Trick des Fidesz seien, der es ihnen erlaube, die Opposition später anzugreifen. Er glaubt, dass die Gesetze gegen Pädophilie verfassungswidrig seien. Die Schriftstellerin Noémi Kiss hat sich als Feministin immer wieder gegen die Sexualisierung von Kindern ausgesprochen. Sie ist der Meinung, dass es wichtig sei, in den Schulen über Homosexualität zu informieren. Im Gespräch mit ATV sagte sie aber auch, dass es einige Aspekte dieses Gesetzes gebe, über die selbst innerhalb der LGBTQ-Community die Meinungen auseinandergehen: „Nehmen wir das Beispiel der Geschlechtsumwandlung, die Gegenstand einer sehr lebhaften Debatte zwischen den verschiedenen Organisationen ist, genauso wie es eine sehr hitzige Debatte in der Welt der Genderstudien gibt. […] Geschlechtsumwandlungstherapien ohne psychologisches Screening und strenge Aufsicht in die Schulen zu lassen – das ist eine Idee, mit der ich nicht einverstanden bin.“
Gestern hielten Háttér und der ungarische Ableger von Amnesty International eine weitere Demonstration vor dem Sándor-Palast ab, in dem sich die Büros des ungarischen Präsidenten, János Áder, befinden. Zusätzlich zu diesen ungarischen politischen und medialen Reaktionen berichteten auch viele ausländische Medien – hauptsächlich mit liberaler Ausrichtung – über die Ereignisse, und zwar in einem ganz besonderen Stil.
Verzerrte Medienberichterstattung
Neben den fraglichen Gesetzen griff die Neue Zürcher Zeitung auch das Institut für juristische Analyse und Forschung Alapjogokért Központ (Zentrum für Grundrechte) an. Für die Schweizer Tageszeitung schürt die Politik der ungarischen Regierung die Homophobie. Ferner ist sie über den wachsenden Einfluss von religiös-fundamentalistisch geprägten zivilgesellschaftlichen Organisationen wie dem Institut Alapjogokért Központ besorgt.
In einem Interview mit Magyar Nemzet erklärte Erik Tóth, Chefanalytiker des Instituts Alapjogokért Központ, dass sein Institut Anschuldigungen zurückweist, es würde Homophobie schüren und als „religiös-fundamentalistisches“ Gremium versuchen, die laufende öffentliche Debatte zu seinem eigenen Vorteil zu instrumentalisieren. – „Was wir für wünschenswert halten, ist die Bewahrung der nationalen Identität und Souveränität sowie der Traditionen der christlichen Gesellschaft. Wir glauben jedenfalls an die Pflicht, uns ohne Zaudern auf die Seite der Vernunft zu stellen und daran zu arbeiten, ein Gegengewicht zu diesem Fundamentalismus der Menschenrechte und der politischen Korrektheit aufzubauen, der heute in viele Lebensbereiche eindringt.“
Die EU-Kommissarin für Gleichstellung, Helena Dalli, deutete auf Nachfrage des Spiegels an, dass die Europäische Kommission die Zahlung von Hilfsgeldern an Ungarn aussetzen würde, wenn Ungarn auf Anweisung der Orbán-Regierung tatsächlich Bildungsmaterial über Homosexualität zensieren würde.
Die Deutsche Welle behauptete ihrerseits, dass LGBTQ-Menschen nun Viktor Orbáns neuer Staatsfeind Nummer eins seien.
Die britische Tageszeitung Daily Telegraph glaubt, dass die Verbote Ungarn wieder einmal in einen Frontalzusammenstoß mit Brüssel bringen werden, das in der Vergangenheit seine Bedenken über die Maßnahmen der ungarischen Regierung gegen die Presse und ihre Verstöße gegen die Rechtsstaatlichkeit geäußert hat. Die Nachrichtenseite Voice of America zitiert einen Tweet des deutschen Europaministers Michael Roth, der sagte, die Entscheidung des ungarischen Parlaments sei eine weitere schwerwiegende Diskriminierung sexueller Minderheiten, die allem widerspreche, was man als gemeinsame europäische Werte betrachten könne.
Laut der neuen Berichterstatterin des Europäischen Parlaments für Ungarn verletzen diese Gesetze die europäischen Werte und greifen die Rechte von LGBTQ-Menschen unter dem Vorwand an, Kinder zu schützen. Gwendoline Delbos-Corfield forderte die Mitgliedsstaaten auf, die ungarische Regierung am kommenden Dienstag bei der Artikel-7-Anhörung zur Verantwortung zu ziehen.
Kampf der pädophilen Freunde
Wie in Ungarn hat das Anti-Pädophilen-Gesetz auch bei der europäischen Linken die Alarmglocken schrillen lassen. Am Dienstag hielten LGBTQ-Organisationen in Brüssel und eine Gruppe von linksliberalen Europaabgeordneten eine „Mini-Demonstration“ gegen besagtes Gesetz vor dem Europäischen Parlament in Brüssel ab. Terry Reintke von den Grünen, ein unverblümter Kritiker der ungarischen Regierung und ein Vorkämpfer für die Rechte von Homosexuellen in der EU, sagte, dass „die Europäische Kommission Ungarn streng sanktionieren sollte, denn das ist es, was die Europaabgeordneten von ihr erwarten.“
Der zuständige Sprecher der Europäischen Kommission sagte gestern, dass die Kommission über die kürzlich in Ungarn verabschiedeten Gesetze und die Reaktionen, die sie hervorgerufen haben, informiert sei:
– „Wir führen eine detaillierte Prüfung dieser Gesetze durch“ – erklärte Christian Wigand und fügte hinzu, dass die EU die Ungleichheiten, die die LGBTQ-Community betreffen, sehr ernst nehme.
Später, auf der Pressekonferenz, sagte Dana Spinant, die stellvertretende Chefsprecherin der Kommission, im Einklang mit Journalisten der liberalen Presse, dass die Kommission sich nicht scheuen werde, der ungarischen und polnischen Regierung ihre Meinung in dieser Angelegenheit mitzuteilen, dass diese aber mit rechtlichen Argumenten untermauert werden müsse.
In der Zwischenzeit haben auch Frankreich und die Benelux-Staaten angedeutet, dass sie das Thema dieser Anti-Pädophilen-Gesetze auf der Tagung des Rates für Allgemeine Angelegenheiten am kommenden Dienstag in Luxemburg ansprechen wollen. Diese Ratstagung wird auch Anlass für Anhörungen im Rahmen des gegen Ungarn eingeleiteten Artikel 7-Verfahrens – des sogenannten „Rechtsstaatlichkeitsverfahrens“ – sein.
EU-Justizkommissar Didier Reynders zeigte sich gestern auf Twitter empört darüber, dass Ungarn, wie er sagt, LGBTQ-Inhalte „zensiert“. Sein Tweet erklärt, dass die jüngere Generation einen großen Bedarf an solchen Informationen habe, die eine moderne, offene und vielfältige Gesellschaft widerspiegle.
Krisztina Kincses – Tamara Judi
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Von der Visegrád Post aus dem Ungarischen übersetzt.