Dieser Artikel ist am 28. Mai 2021 auf Moszkva Tér erschienen.
Die ganze Welt sieht in Roman Protassewitsch, einem Blogger und Gegner des Lukaschenko-Regimes, der kürzlich verhaftet wurde, einen Helden. Wenn wir jedoch seine Vergangenheit betrachten, sehen wir eher das Porträt eines Abenteurers als eines Verfechters der Demokratie: ein Kind von Apparatschiks, intelligent, aber verwirrt und rücksichtslos, das nach etwas Neuem strebte und das dank der laufenden geopolitischen Duelle einen Weg fand, seine Abenteuerlust zu finanzieren. Was ist die Lehre, die daraus zu ziehen ist? Nun, einfach die Beobachtung – die nichts Neues ist – dass die Gegner eines autoritären Regimes nicht unbedingt Helden sind. Das rechtfertigt allerdings nicht die Entführung von Flugzeugen unter dem Vorwand, dass sie Passagiere befördern, die den Behörden nicht gefallen.
Protassewitsch ist ein Kind des Systems. Seine Familie lebte vielleicht ein wenig besser als der Durchschnitt, aber Roman war damit nicht zufrieden. Im Streben nach mehr, nach Besserem, nach Freiheit und Abenteuer löste er sich schon sehr früh von der Herde. Was mich dazu veranlasst, dies zu sagen, ist, dass dieser junge Blogger und Aktivist, der sich nicht damit begnügt, in eine Familie von Armeeoffizieren hineingeboren zu werden, der Sohn eines Vaters ist, der für die ideologische Ausbildung der Truppen verantwortlich und für seine Vorlesungen am Lehrstuhl für ideologische Ausbildung an der Militärakademie bekannt ist.
Bei der ideologischen Erziehung seines Sohnes scheint er jedoch etwas versäumt zu haben. Das Mindeste, was wir sagen können, ist, dass er nicht im Sinne der Vorträge seines Vaters erzogen wurde.
Er war noch ein einfacher Schuljunge, als er begann, gegen das Lukaschenko-Regime zu demonstrieren. Im Alter von 16 Jahren wurde er während einer Demonstration verhaftet und von seiner Schule verwiesen. Nur dank der Bitten seiner Mutter konnte er das Gymnasium abschließen – in einer lokalen Schule, statt in der Elite-Schule, für die er bestimmt war. Und das alles unter der Bedingung, dass seine Mutter auch an der gleichen Schule unterrichten würde.
Protassewitsch gab jedoch nicht auf, und im folgenden Jahr wurde er als Administrator einer der großen Oppositionsgruppen entdeckt, die in einem russischsprachigen sozialen Netzwerk (vKontakte) operierten. Er postet regelmäßig auf seinem Blog, demonstrierte, und „findet“ bald Ausbildungsstipendien für mehrere Monate, mal in Tschechien, mal in den Vereinigten Staaten. Es ist daher nicht verwunderlich, dass er bald von der journalistischen Fakultät der Universität Minsk verwiesen wurde. Er wurde ein freier Journalist, der sich auf Fotoreportagen spezialisierte, und arbeitete gelegentlich mit verschiedenen oppositionellen Presseorganisationen zusammen.
Bald darauf wechselte er in die weißrussische Redaktion von Radio Liberty, für die er nach eigenen Angaben unter anderem „über den Donbass berichtete“. Inzwischen stellte sich heraus, dass er sich nicht damit begnügte zu berichten, sondern ein aktives und geschultes Mitglied des Neonazi-Bataillons Asow geworden war.
Neben diesen verschiedenen Arbeiten stieß er dann bald auf das Projekt Nexta: 2015 von einem gewissen Stepan Putilo, der damals erst 17 Jahre alt war, als Musikkanal auf YouTube gegründet und ab 2018 auch als Telegram-Kanal betrieben, entwickelt sich Nexta immer mehr zu einem Nachrichtenkanal, dem mittlerweile 2,5 Millionen Internetnutzer folgen. Wie ihr Name schon hinreichend andeutet, ist Nexta keine einfache Oppositionsbewegung, sondern ein echtes „Projekt des 21. Jahrhunderts“ [Anspielung auf ein degagistisches Thema, das von der ungarischen liberalen Opposition gegen die FIDESZ-Regierung propagiert wurde – NdÜ.]. : In einer englischsprachigen Interpretation bezieht sich next auf die nächste, die aufsteigende Generation, während für Slawischsprachige „Nexta“ auch an das weißrussische Wort не́хта („niemand“) erinnert, das Anonymität konnotiert.
Wir möchten unverzüglich darauf hinweisen, dass selbst die BBC darauf hinweist, dass die von Nexta vermittelten Informationen nicht die genauesten und vor allem nicht die objektivsten sind: Ihre Mini-Redaktion, die sich hauptsächlich auf Beiträge von freiwilligen „Journalisten“ stützt, hat oft ungeprüfte Inhalte veröffentlicht – und veröffentlicht sie auch weiterhin.
Eine dieser Falschmeldungen ist zum Beispiel, dass Elemente russischer Spezialeinheiten während der Demonstrationen im letzten Jahr in Weißrussland aufgetaucht wären. Der Sender hat nie einen Hehl aus seiner Antipathie gegenüber dem Regime oder seiner Sympathie für die Demonstranten gemacht. Tatsächlich gab ihr Gründer, Putilo, selbst in einer Erklärung zu, die er dem Kanal des viel beachteten Youtubers вДудь anvertraute, dass er als Reaktion auf die Propaganda des Regimes Gegenpropaganda mache. Nun, im letzten Sommer war dieser Stil – um es stilvoll auszudrücken – in den Reihen der Demonstranten sehr erfolgreich: Die Zuschauerzahl des Nexta-Netzwerks – das vollständig dezentralisiert ist und über freiwillige „Redakteure“ zahllose Punkte des Landes abdeckt – einschließlich derjenigen von NextaLive, sprang von 300.000 auf 1,8 Millionen, während das kürzlich gesperrte Portal TUT.by zum zweitmeistgesehenen Oppositionskanal in Bezug auf die Zuschauerzahl wurde und zur treibenden Kraft und Organisator der Anti-Lukaschenko-Straßenbewegungen wurde.
Zur Zeit der letztjährigen Demonstrationen finden wir Roman Protassewitsch in Warschau, wo er offensichtlich nicht den Verstand verloren hat –unser Organisator hat sich sozusagen einen sicheren Außenposten ausgesucht, um die für entscheidend gehaltene Schlacht der weißrussischen Wahlen abzuwarten, und wo er bereits zu Beginn des Jahres den Status eines politischen Flüchtlings erhalten hatte. Als die August-Proteste ausbrachen, war er bereits Chefredakteur von Nexta.
Es ist kein Zufall, dass Nexta oft als eine der „Technologien der farbigen Revolution“ genannt wird, die zum Sturz des Lukaschenko-Regimes eingesetzt wurde. In jedem Fall ist es aufschlussreich, dass zum Zeitpunkt der Wahlen nicht nur Protassewitsch in den Fußstapfen von Putilo – der nach dem Abitur nach Polen ging, um sein Studium fortzusetzen – im Exil lebt, sondern auch seine Familie. Sein Vater, der regelmäßig an den Paraden des 9. Mai teilgenommen hatte, wurde seiner großen militärischen Karriere beraubt. Im Herbst verließ Protassewitsch nach einem internen Konflikt das Nexta-Team; ab Oktober verwaltete er den weißrussischen Telegram-Kanal namens golovnogo mozga – natürlich wieder ein sehr virulenter Oppositionskanal, dessen Gründer inzwischen verurteilt wurde.
In der Zwischenzeit hat der Oberste Gerichtshof Weißrusslands diesen Sender bzw. Nexta wegen Extremismus verurteilt – ein Urteil, das sich sogar auf das Logo des Senders erstreckt, das ein großes weißes N auf schwarzem Hintergrund zeigt –, während die beiden führenden Köpfe von Nexta auf die Liste der mutmaßlichen Terroristen gesetzt wurden: Es wurde ein internationaler Haftbefehl gegen sie ausgestellt, gefolgt im Februar 2021 von einem Antrag auf ihre Auslieferung an Polen.
Den beiden jungen Aktivisten und Video-Bloggern wird vorgeworfen, vorsätzlich Unruhen organisiert, zum Hass in der Gesellschaft aufgestachelt und sich zur Störung des sozialen Friedens verschworen zu haben; Protassewitsch sitzt nun im Gefängnis und muss mit bis zu 15 Jahren Haft rechnen.
Seit der Anklageerhebung wechselte Protassewitsch oft seine Wohnung und vermied es, nachts allein auszugehen. Dann, ganz plötzlich, schien ihn dieses Gefühl des Bedrohtseins zu verlassen: Er bestieg einen Flug Athen-Vilnius, obwohl er bemerkte, dass er verfolgt wurde: Er widmete dieser Beobachtung sogar einen Tweet, gemäß seiner Gewohnheit, fast jedes Detail seiner Existenz zu dokumentieren. Ende letzten Jahres war er nach Vilnius umgezogen, von wo aus er im Internet ein Foto des Geschenks postete, das ihm einige seiner Kollegen (deren Namen er nicht nannte) gerade überreicht hatten – eine Flasche starken Alkohols, mit der Bildunterschrift: „Für den Terroristen aus der jungen Generation der Extremisten“.
Allerdings ist diese Formel, die humorvoll sein soll, vielleicht nicht ganz so lustig. Einerseits, weil er wahrscheinlich wegen Terrorismus verurteilt werden wird. Andererseits, weil es scheint, dass Protassewitsch wirklich irgendwie vom Extremismus angezogen wird. Das beweist das Filmmaterial, das angeblich seine „Berichterstattung“ über den Donbass für Radio Liberty dokumentieren soll.
Die Tatsache, dass er offen den Sturz des Lukaschenko-Regimes anstrebte und zu diesem Zweck organisiert handelte, ist nicht das einzige Argument, das dafür spricht, ihn als einen abenteuerlustigen und von der Gefahr angezogenen jungen Mann zu beschreiben. Davor war er im Kiewer Majdan und in der Ostukraine – wo er auch im umstrittenen neonazistischen Asow-Bataillon kämpfte. Ich spreche von diesem Asow-Bataillon, dem der US-Kongress bereits 2018 die Lieferung von Waffen untersagt hat. Ihr Appetit auf Abenteuer mit ideologischem Hintergrund hat sie deshalb in die Schützengräben der Ostukraine getrieben. Es stimmt, dass diese Nachricht zuerst vom weißrussischen KGB verbreitet wurde, aber bevor wir dies als Vorwand benutzen, um sie von der Hand zu weisen, sollten wir uns daran erinnern, dass sie von Mitgliedern des Asow-Bataillons selbst bestätigt wurde. Sogar die ultraliberale russische Oppositionszeitschrift Novaja Gazeta veröffentlichte ein sehr suggestives Foto von Protassewitsch, der in der Uniform des Asow-Bataillons posierte.
Doch in Wirklichkeit war es Protassewitsch selbst – oder vielmehr Kim, wie er im Donbass genannt wurde – der sich verriet – ein Opfer seiner Leidenschaft für Aussagen und Fotos. Der Wochenzeitung Focus und der weißrussischen oppositionellen Wochenzeitung Nascha Niwa vertraute er seine Kriegserlebnisse, seine Ausbildung und das verworrene Geflecht seiner Motivationen an. In diesen Interviews wird nicht ein einziges Mal ein journalistischer Auftrag erwähnt.
Stattdessen erzählt er sehr detailliert von seiner Ausbildung, wie er spürte, dass sein Platz in der Ukraine war, unter denen, die Russland bekämpften, den gemeinsamen Feind beider Völker. Er erzählt auch, dass er einen Monat auf dem Majdan verbracht hat, spricht über die weißrussische Kompanie, die an der ostukrainischen Front im Einsatz ist, und bezeugt die Aufregung, die er bei den Angriffen empfindet. Dann spricht er über seine Beweggründe und seine Vision der Welt – Bemerkungen, die das ziemlich komplette Chaos offenbaren, das in seinem Kopf herrscht. Er beschreibt sich selbst als einen gemäßigten Rechten, einen Nationalisten im besten Sinne des Wortes und einen Anhänger der begrenzten Demokratie. Er sagt, er habe nichts gegen Homosexuelle, unterstütze aber nicht deren Forderung, Kinder adoptieren zu können. Er möchte schärfere Einwanderungsgesetze, ist aber tolerant gegenüber nationalen Minderheiten. „Ich bin nicht gegen die Demokratie“, sagte er, „aber ich möchte, dass Unsinn davon ausgeschlossen wird.“. Was Russland betrifft, so ist es durch seine Aggression degradiert und zum Erben der „kommunistischen roten Gefahr“ geworden, so dass der Vormarsch von „Putins Horde“ um jeden Preis gestoppt werden muss, denn nach der Ukraine wird es auf Weißrussland übergehen.
Aber er vergisst nicht hinzuzufügen, dass er auch die Mitglieder seiner Familie rächen muss, die Opfer des Kommunismus wurden – eine sehr seltsame Aussage, wenn man bedenkt, dass sein Vater an der Militärakademie in die ideologische Ausbildung eingebunden war.
Wenn man das alles liest, kann man nicht umhin, sich an das tragische Schicksal des ungarisch-bolivianischen Abenteurers Eduardo Rózsa-Flores zu erinnern. Roman Protassewitschs seltsames ideologisches Geschwafel lässt ihn eher wie den Sohn eines rastlosen Apparatschiks erscheinen als einen Verfechter der Demokratie, der sich nach etwas Neuem sehnte und sich in den Dienst derjenigen Seite stellte, die bereit war, seine Abenteuerlust zu finanzieren. Etwas, das die andere Seite natürlich bestrafen muss.
Gábor Stier
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Von der Visegrád Post aus dem Ungarischen übersetzt.