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Warum der Spitzenkandidat-Mechanismus die Unbefangenheit der Kommission gefährdet und eine der Ursachen der Angriffe der EU gegen Polen und Ungarn ist

Lesezeit: 6 Minuten

Von Olivier Bault.

Dieser Artikel wurde ursprünglich auf Kurier.plus veröffentlicht.

Europäische Union – Am 9. Mai in Hermannstadt (Sibiu, Rumänien) für einen Europäischen Rat versammelt haben die Staats- und Regierungschefs darüber beraten, ob das – 2014 erstmals für die Wahl des Präsidenten der Europäischen Kommission angewandte – System des Spitzenkandidaten nun nach den Europawahlen der 23. und 26. Mai erneut benutzt werden sollte. Dieses System ist ein Verfahren, demgemäß der Präsident der Europäischen Kommission vom Europaparlament unter den von den großen Fraktionen vorgeschlagenen Kandidaten gewählt wird und diese Wahl anschließend vom Europäischen Rat bestätigt wird. Normalerweise, gemäß Art. 17 Abs. 7 des Vertrags über die Europäische Union sollte es der Europäische Rat sein, der dem Europaparlament einen Kandidaten für den Vorsitz der Europäischen Kommission vorschlägt. Sobald der Kandidat des Rates durch eine Mehrheit des Europaparlaments bestätigt wurde, nimmt „der Rat […], im Einvernehmen mit dem gewählten Präsidenten, die Liste der anderen Persönlichkeiten an, die er als Mitglieder der Kommission vorschlägt. Diese werden auf der Grundlage der Vorschläge der Mitgliedstaaten […] ausgewählt“. Wenn das erledigt ist, soll das Europaparlament der gesamten Kommission seine Zustimmung durch eine Abstimmung mit einfacher Mehrheit geben, um deren Amtseinführung durch den Europäischen Rat zu erlauben.

Das System der Spitzenkandidaten wurde 2013 – unter dem Vorwand einer Demokratisierung des Wahlverfahrens der Kommission – von der Kommission selbst vorgeschlagen. Der Vorschlag erhielt die Unterstützung des deutschen Sozialisten und Euroföderalisten Martin Schulz, damals Präsident des Europaparlaments, der zum Spitzenkandidaten der Sozialdemokratischen Partei Europas (SPE) designiert wurde. Schließlich war es der Spitzenkandidat der Europäischen Volkspartei (EVP) Jean-Claude Juncker, der die Wahl gewann und als neues Oberhaupt der nach den Wahlen von 2014 gebildeten Europäischen Kommission vorgeschlagen wurde. Entgegen einer weitverbreiteten Meinung ist es allerdings nicht unbedingt der Kandidat der größten Fraktion des Europaparlaments, der zum Zuge kommen muss, denn, um den Sieg beanspruchen zu können, muss ein Kandidat unbedingt Unterstützung über sein eigenes Lager hinaus erhalten. Wie ein neulich im New Federalist veröffentlichter Artikel dies zurecht betonte, der ansonsten für das System der Spitzenkandidaten plädierte, musste „sogar Jean-Claude Juncker – zweifelsohne der sozialistischste der Christdemokraten – […] eine politische Abmachung zwischen EVP und SPE ausverhandeln, um sich eine Mehrheit für seine Wahl abzusichern“.

Einen Kandidaten zu haben, der durch einen Konsens unter allen Mitgliedsstaaten und dem Europaparlament gemäß dem Vertrag von Lissabon zustandekommt, sollte normalerweise dazuführen, dass man eher einen apolitischen Technokraten ernenne, von dem man erwarten könne, dass er die bestehenden Verträge bzw. die jeweiligen Kompetenzen der Europäischen Union und der unterschiedlichen EU-Nationen achte. Die Prozedur, demgemäß der Präsident der Kommission bei der Ernennung der weiteren Mitglieder der Kommission mitsprechen kann, sollte anschließend die Ernennung einer Kommission favorisieren, die „die allgemeinen Interessen der Union“ fördert (Art. 17, Abs. 1 des Vertrags über die Europäische Union), und zwar mit Mitgliedern, die „aufgrund ihrer allgemeinen Befähigung und ihres Einsatzes für Europa unter Persönlichkeiten ausgewählt [werden], die volle Gewähr für ihre Unabhängigkeit bieten“ (Art. 17, Abs. 3).

Über die Fragen hinaus, die sich bezüglich der Legalität der Prozedur der Spitzenkandidaten im Hinblick auf die von den Mitgliedstaaten ordnungsgemäß ratifizierten Verträge stellen kann, begünstigt dieses alternative System die liberal-libertären und fortschrittlichen Kandidaten, die eine immer engere weit über die bestehenden Verträge hinausgehende Integration befürworten, denn dies entspricht den Vorstellungen einer Mehrheit der Europaabgeordneten von den Rechtsliberalen über die Zentristen der ALDE-Fraktion und die Sozialisten bis zu den Linksradikalen hin. „Ich stehe schon in Verhandlungen mit den Liberalen, mit den Grünen, mit den Sozialisten, mit den europäischen Parteien im allgemeinen, um eine Mehrheit im Europaparlament zu erreichen,“ so der EVP-Kandidat Manfred Weber, während sein aussichtsreichster Konkurrent, der niederländische Sozialist Frans Timmermans, der derzeit den Posten des Ersten Vizepräsidenten der Europäischen Kommission bekleidet und für die Einhaltung des Rechtsstaats zuständig ist, zu einer Koalition zwischen SPE (Sozialisten), EVP (Christdemokraten) und ALDE (Liberale) für die Zeit nach der Wahl aufgerufen hat, um ein fortschrittliches Bündnis gegen das zu bilden, was er die „Rechtsradikalen“ nennt. Die europäischen Grünen hatten als Vorbedingung für Gespräche mit Manfred Weber bezüglich ihrer möglichen Unterstützung für dessen Kandidatur festgelegt, dass er sich dem „Rechtsruck“ verwehre, und Ende März fühlte sich Weber gezwungen zu versprechen, dass er lieber auf den Vorsitz der Europäischen Kommission verzichten würde, als mit den Stimmen des „populistischen Fidesz“ gewählt zu werden. Aus dem gleichen Grund hat der deutsche CSU-Politiker im März die Suspendierung der ungarischen EVP-Abgeordneten unterstützt bzw. hat er im vergangenen September – als Vorsitzender der EVP-Fraktion im Europaparlament bzw. als künftiger Spitzenkandidat seiner Partei – für den Sargentini-Bericht gegen Ungarn gestimmt.

Als im vergangenen Dezember in Lissabon der Erste Vizepräsident der Europäischen Kommission zum SPE-Spitzenkandidaten designiert wurde, erklärte er in seiner Rede bezüglich Polen: „Ich möchte unseren Freunden in Polen sagen, dass ich heute vor Euch ein feierliches Versprechen abgeben möchte: ich werde die Polen in ihrem Kampf für Demokratie, Freiheit und Rechtsstaatlichkeit niemals verlassen“. Im Bezug auf Ungarn erklärte er ebenfalls: „Und ich sage auch unseren ungarischen Freunden: es sind harte Zeiten in Ungarn. Herr Orbán hat viel Zeit gehabt, um seinem Volk allerlei schreckliche Geschichten über Europa zu erzählen. Und trotz alledem sagt eine große Mehrheit der ungarischen Bevölkerung ganz deutlich: ,wir gehören zu Europa, wir sind ein Teil dieser Wertegemeinschaftʼ. Und also werden wir auch in Ungarn gewinnen.

Diese Erklärungen wurden offensichtlich getätigt, um der nötigen Mehrheit im Europaparlament zu gefallen, aber gleichzeitig stellen sie die Unbefangenheit Timmermansʼ und die Uneigennützigkeit seiner Handlungen in dessen Beziehungen mit Polen und Ungarn in Frage, insbesondere als Erster Vizepräsident der Europäischen Kommission und EU-Kommissar für bessere Rechtssetzung, interinstitutionelle Beziehungen, Rechtsstaatlichkeit und Grundrechtecharta, umso mehr als er die demokratische Legitimität der parlamentarischen Mehrheiten und der amtierenden Regierungen in Polen und in Ungarn zu hinterfragen scheint. Ferner kann man sich leicht vorstellen, inwiefern die Beziehungen zwischen der Kommission und Warschau bzw. Budapest sich verschlechtern könnten, wenn Frans Timmermans oder Manfred Weber zum Präsidenten der Europäischen Kommission nach einem Wahlkampf ernannt werden könnten, der von Angriffen gegen die in diesen beiden mitteleuropäischen Ländern amtierenden rechtskonservativen Regierungen gekennzeichnet wurde.

Am 21. nahm Frans Timmermans nochmals an einer Wahlkampfveranstaltung der polnischen linken pro-LGBT-Partei Wiosna teil, um seine Unterstützung für diese Partei bei den Europawahlen zu demonstrieren. Zu diesem Anlass erklärte er öffentlich, dass er während der drei vergangenen Jahre die polnische Regierung bekämpft hatte und entschieden hatte, Wiosna zu unterstützen, weil die Polen immer pro-europäischer werden und weil Wiosna eine Partei für aufgeschlossene linkslibertäre Leute sei. Es sei daran erinnert, dass der Erste Vizepräsident der Europäischen Kommission in der Vergangenheit erklärt hat, dass die Europäische Kommission Druck auf die Mitgliedstaaten ausüben solle, damit sie die „Homoehe“ legalisieren, was Wiosna eben in Polen machen möchte. Man merke ebenfalls, dass Timmermans die Legitimität einer demokratisch gewählten Regierung in Frage gestellt hat, während er eine Oppositionspartei unterstützte, die von weniger als 10% der polnischen Wähler favorisiert wird. Ein paar Tage früher am 18. Mai hatte der Erste Vizepräsident der Europäischen Kommission und SPE-Spitzenkandidat an einer Kundgebung der ungarischen sozialistischen Partei MSZP teilgenommen. Dabei behauptete er, dass der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán „und seine Freunde Strache, Salvini und Farage Putin bewundern, dessen Ziel es deutlich [sei], Europa zu schwächen und zu spalten“.

Die von Timmermans und Weber vorgestellten liberal-libertären, euroföderalistischen bzw. PiS/Fidesz-feindlichen Ansichten werden von der Mehrheit des Europaparlaments geteilt – und laut den Umfragen wird es nach den Wahlen vom 23. und 26. Mai weiterhin der Fall sein – bzw. auch von vielen Einwohnern der EU, doch dass die Europäische Kommission von einem Politiker geführt werde, der dafür bekannt ist, ein scharfer Gegner des „populistischen Fidesz“ – des „populistischen PiS “, der „populistischen Lega“ usw. – zu sein, ist mit der notwendigen Neutralität und Unbefangenheit der Europäischen Kommission in ihren Beziehungen mit den nationalen Regierungen unvereinbar. Außerdem ermutigt es die führenden Politiker des Europaparlaments (wie Manfred Weber, CSU) und die europäischen Kommissare (wie Frans Timmermans von der niederländischen Arbeiterpartei) in ihrem Wahlkampf um den Posten des Präsidenten der Europäischen Kommission dazu, Konflikte mit demokratisch gewählten rechten Regierungen zu suchen, die bei einer Mehrheit der Europaabgeordneten unbeliebt sind. Auch wenn die weit weniger virulente dänische EU-Kommissarin für Wettbewerb Margrethe Vestager und Kandidatin der ALDE-Fraktion sich gegen ihre Konkurrenten durchsetzen sollte und vom Europäischen Parlament als Spitzenkandidatin vorgeschlagen wird, hat das Verhalten Frans Timmermansʼ viel Schaden in den Beziehungen zwischen Brüssel und manchen Mitgliedstaaten angerichtet und es werden große Zweifel bezüglich der Unbefangenheit der Europäischen Kommission verbleiben. Außerdem werden die künftigen Bewerber für den Status des Spitzenkandidaten – unter denen es erneut amtierende Mitglieder der Kommission geben könnte – immer wieder dazu ermutigt, die in der Heimat populären doch im Europaparlament unbeliebten Regierungen anzugreifen.

Über dessen polarisierende Eigenschaft für die EU hinaus und aus dem gleichen Grund, wie hier oben erwähnt – sprich die Notwendigkeit, sich die im Europaparlament herrschenden Meinungen aneignen zu müssen, um den Posten zu ergattern –, ermutigt der Mechanismus der Spitzenkandidaten die Bewerber um den Vorsitz der Europäischen Kommission dazu, Druck zugunsten eines immer größeren Transfers von Kompetenzen nach Brüssel auszuüben, wie man es z.B. mit den Anstrengungen Timmermansʼ und Webers sieht, die Gewährung von EU-Geldern mit der Einhaltung der Rechtsstaatlichkeit und der „europäischen Werte“ zu koppeln.

Aus diesen Gründen wie auch im Interesse einer besseren Achtung der ratifizierten Verträge – sprich für die Einhaltung der Rechtsstaatlichkeit auf EU-Ebene – wären die europäischen Regierenden gut beraten, dem neuen Europaparlament nach den Wahlen vom 23. und 26. Mai nicht zu erlauben, ihnen seinen Kandidaten für den Vorsitz der Europäischen Kommission aufzuzwingen. Da keine Entscheidung am 9. Mai in Hermannstadt getroffen wurde, wird diese Frage bei der kommenden Sitzung des Europäischen Rates am 28. Mai erörtert werden.

„Der Gedanke, dass die Prozedur der Spitzenkandidaten eine demokratischere Weise darstellt, ist falsch,“ so der Präsident des Europäischen Rates Donald Tusk letztes Jahr anlässlich eines Treffens der Staats- und Regierungschefs der EU-28, während deren beschlossen wurde, dass der Mechanismus der Spitzenkandidaten nicht automatisch sein müsse. „Der Vertrag besagt, dass der Präsident der Europäischen Kommission von den demokratisch gewählten Regierenden der Mitgliedstaaten vorgeschlagen werden muss,“ so Tusk weiter, „und dass er von den demokratisch gewählten Mitgliedern des Europaparlaments gewählt werden muss. Das ist die doppelte demokratische Legitimität des Präsidenten der Kommission. Die eine dieser beiden Quellen zu beseitigen, würde die Prozedur weniger demokratisch und nicht demokratischer machen.“

Übersetzt von Visegrád Post.