Österreich/Ungarn/Polen – In einer Zeit, in der der Zwist zwischen Budapest und Warschau einerseits und den europäischen Institutionen andererseits weiter eskaliert, fordert der ehemalige EVP-Partner von Viktor Orbán und österreichische Bundeskanzler Sebastian Kurz, in einem am Samstag, den 18. September von der französischen Tageszeitung Ouest-France veröffentlichten Interview mehr Fairness gegenüber den „enfants terribles“ Mitteleuropas.
Gegen Doppelmoral
Auf die Frage, wie die Europäische Union reagieren solle, wenn die Regeln der Rechtsstaatlichkeit nicht eingehalten werden, wie es zum Beispiel in Polen oder Ungarn der Fall sein kann, antwortete der konservative Bundeskanzler, der seit Januar 2020 mit den Grünen regiert, offen, daß die Regeln der Rechtsstaatlichkeit und die Achtung der europäischen Grundwerte für den weiteren Erfolg der Europäischen Union unerlässlich seien.
Allerdings denke er jedoch, dass es nicht gut sei, nur über Polen bzw. Ungarn zu sprechen, denn dies müsse für alle Länder gelten. Nur wenn diese Normen überall in gleicher Weise angewendet werden, könne man die notwendige Energie entwickeln.
Schon heute gebe es ja die Möglichkeit, Verstöße gegen die Rechtsstaatlichkeit zu sanktionieren, und das sei auch der richtige Weg.
Mit anderen Worten, er forderte seine westeuropäischen Partner auf, erst einmal vor der eigenen Haustür zu kehren, bevor sie den Ungarn und Polen Läuse in den Kopf suchen, ohne jedoch so weit zu gehen, seinen V4-Nachbarn echte Unterstützung anzubieten. Doch selbst diese zaghafte Erklärung ist für die österreichischen Liberalen und Linken inakzeptabel, die gleich darauf reagierten.
Liberale und linke Reaktionen
Die österreichische liberale Europaabgeordnete Claudia Gamon (NeOs, Renew Europe) erklärte in einer der APA zugesandten Stellungnahme:
„Wenn Kurz nun meint, es sei falsch, in der Debatte um Rechtsstaatlichkeit innerhalb der EU immer nur über Polen und Ungarn zu sprechen, dann frage ich mich, ob er nicht mitbekommen hat, welche rechtswidrigen Vorgänge dort in den letzten Monaten und Jahren vonstattengegangen sind und wie Grund- und Menschenrechte zunehmend abgebaut werden.
Es ist vollkommen unangebracht, dass der Kanzler hier für Polen und Ungarn in die [B]resche springt.“
Der SPÖ-Europasprecher Jörg Leichtfried prangerte seinerseits die Unterstützung von Sebastian Kurz für die
„autoritären Regierungen in Ungarn und Polen“
an, was seiner Meinung nach ihre Politik verharmlosen würde,
„die die Pressefreiheit bekämpft, Demokratie abbaut und die Rechte von LGBTIQ-Menschen attackiert.“
Leichtfried nennt das einen „Tiefpunkt der österreichischen Außenpolitik“: „Offenbar fühlt sich Kurz von der Kritik an Ungarn und Polen selbst betroffen und will gleich seine eigenen Angriffe auf Justiz, Rechtsstaat und Kirche und seine Missachtung des Parlaments in Schutz nehmen und relativieren.“