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Ost-West: Das Covid-19 tötet alte Menschen dort, wo es sie findet

Lesezeit: 5 Minuten

Europa – Da das Missverhältnis zwischen Ost und West in Bezug auf die Sterblichkeit der Pandemie offensichtlich wird, gibt es im postkommunistischen Europa zahlreiche Kommentare.

Der Lauf der Zeit bestätigt tatsächlich diesen statistischen Unterschied. Dies betrifft Länder ohne Ausgangssperre (Schweden) oder mit mäßiger Ausgangssperre (Ungarn) sowie Länder mit Ausgangssperre (Österreich) oder mit strikter Ausgangssperre (Frankreich, Rumänien). Frankreich, wo die Gefahr einer Geldstrafe sogar besteht, wenn man bloß an das Bett eines sterbenden Vaters fahren möchte, ist stärker betroffen als Ungarn, wo keine Eigenerklärungen von Fußgängern für ihre Ausgänge angefordert werden. Rumänien, wo sogar einzelne Ausflüge in den Wald bestraft werden, weniger als das „laxe“ Schweden. Daher trägt dieses merkwürdige statistische Phänomen nicht wirklich dazu bei, die Debatte um die Wirksamkeit von Ausgangssperren zu beleuchten, und man kann den Befürwortern der beiden Thesen nicht zu sehr empfehlen, sich nicht auf Vergleiche zu verlassen, in denen Länder beider „Blöcke“ miteinander vermischt werden: Die niedrigere Sterblichkeitrate Ungarns ist keineswegs ein gutes Argument gegen die französischen Maßnahmen der Ausgangssperre bzw. bestätigt die schwedische Sterblichkeitrate (die zwangsläufig höher ist als diejenige der ost- und mitteleuropäischen Länder) auch nicht die Richtigkeit der im Osten angeordneten Ausgangssperren.

Und das Fortbestehen in der Zeit dieses Abstands zwischen den Sterblichkeitraten verleitet immer mehr dahu, die Hypothese auszuschließen, dies durch eine Verschiebung der Erscheinungsdaten des Virus an diesem oder jenem Ort erklären zu wollen. Offen gesagt können wir uns in unserer globalisierten Welt fragen, was diese Daten wirklich bedeuten, und vermuten, dass sie eher die Reaktivität bestimmter Alarmmechanismen widerspiegeln als die Realität der Verbreitung des Covid-19. Wenn wir die Bedeutung des Budapester Flughafens als Luftverkehrsknotenpunkt und den Touristenboom in Budapest in den letzten Jahren kennen, können wir wirklich glauben, dass das Virus erst in Ungarn angekommen wäre, nachdem es schon einen Monat früher Frankreich schon erobert hatte?

Wir müssen daher glauben, dass es strukturelle Ursachen gibt.

Spontan (und natürlich in Ermangelung einer entsprechenden wissenschaftlichen Studie) beeilten sich die Ost-Kommentatoren, ihren Vorteil dem Verdienst der allgemeinen und obligatorischen Impfpolitik (insbesondere im Rahmen der Schulen) aus der kommunistischen Zeit zuzuweisen. Es wird allgemein vermutet, dass der Tuberkulose-Impfstoff die Quelle dieses Segens sei – wahrscheinlich aufgrund einfacher analoger Überlegungen (Ähnlichkeit der Symptome), da es wiederum hierfür keine  keine Studien gibt. Bemerken wir en passant auf jeden Fall den außergewöhnlichen Beigeschmack dieses späten Lobes für Kádár, Ceauşescu, Živkov & Co in den Mündern von Publizisten, die größtenteils Anhänger einer feurigen antikommunistischen Rhetorik sind, welche oft infolge einer ziemlich brutalen ideologischen „Umkehrung“ im Jahr 1990 entstanden ist.

Das große Problem ist, dass, wie der weltberühmte französische Epidemiologe Didier Raoult neulich in einem Interview hervorhob, dieses Ost-West-Missverhältnis nur ein lokaler Aspekt eines globalen Phänomens des Missverhältnisses zwischen dem Westen und dem Rest der Welt sei. Nun umfasst dieser „Rest der Welt“ (das heißt hauptsächlich das, was man seit einigen Jahrzehnten üblicherweise „den Süden“ nennt) eine Mehrheit von Ländern, die die kommunistische Erfahrung (sowjetischer Prägung) nicht erlebt haben, und für die das Argument der Impfstoffpolitik daher kaum berücksichtigt werden kann.

Im selben Interview führt uns Didier Raoult auf eine andere Spur. Wie so oft dient seine Hypothese nicht dazu, die Pharmaindustrie zu erfreuen (die er auch während des Interviews verspottet), und wird aus diesem Grunde in der Mainstreampresse, sei es im Westen oder im postkommunistischen Europa, wahrscheinlich wenig Resonanz finden.

Was wir bemerken, sagt er uns, ist, dass die „am besten behandelten“ – oder zumindest am teuersten behandelten – Patienten der Welt auch die zerbrechlichsten sind. Und tatsächlich, wenn es eine Sache gibt, die Tunesier und Ungarn, Mexikaner und Weißrussen, Malaysier und Moldauer gemeinsam haben, dann ist es, dass sie der Pharmaindustrie durchschnittlich viel weniger Geld pro Jahr und Person verschaffen. Ob sie in Ländern leben, die (wie Kuba) eine freie Medizin fördern, die im Allgemeinen auf bewährten und lizenzgebührenfreien Molekülen basiert, oder in Ländern (die meisten davon), die eine geringe staatliche Krankenversicherung anbieten, so investieren sie wenig von ihrem eigenen Vermögen und wenig vom BIP ihres Landes in Medikamenten.

Hingegen werden die Westler (unter anderem durch einen Teil der von Big Pharma gekauften Mediziner) ständig ermutigt, eine Fülle teurer und (daher) neuer Medikamente zu konsumieren – die Kosten hängen im Allgemeinen mit der Verwendung eines Moleküls zusammen, das immer noch unter Copyright steht. In den letzten Jahren und Jahrzehnten haben uns jedoch zahlreiche Drogenskandale daran erinnert, dass der Patient eines brandneuen Arzneimittels nicht nur eine Milchkuh, sondern sehr oft auch ein Versuchskaninchen ist. Dieses „Detail“ hatte bisher die Aufmerksamkeit der öffentlichen Meinung nur während der offensichtlichsten Missstände auf sich gezogen – jene, die relativ schnelle Todesfälle bei diesen menschlichen Versuchskaninchen verursachten. Wenn wir jedoch Professor Raoult weiter folgen, fragen wir uns vielleicht, inwieweit ein Teil der entsetzlichen Bilanz des Covid-19 unter westlichen Rentnern auch nicht diesen Praktiken der Optimierung des pharmazeutischen Gewinns hinzuzurechnen sei. Verschiedene Kommentatoren haben insbesondere festgestellt, dass die überwiegende Mehrheit der Opfer in Norditalien in den Jahren unmittelbar vor ihrem Tod gegen die Grippe geimpft wurden. Eine Frage, die untersucht werden könnte – aber aus offensichtlichen Gründen der Erfassung von Fachwissen durch die Pharmaindustrie es nicht unbedingt  wird, da letztere kein Interesse daran hat, die Angelegenheit in einer Weise zu beleuchten, daß es einen Link geben könnte.

Dennoch scheint es mir, dass wir dem Triumph der Impfprogramme östlicher Publizisten einen weiteren Dämpfer versetzen können und müssen – einen Dämpfer, den Didier Raoult nicht erwähnt, da seine Bedenken als französischer Arzt natürlich in eine andere Richtung gehen (und zwar in die der Gesundheit seiner Patienten, und nicht der psychischen Gesundheit der „antikommunistischen“ Eliten der postkommunistischen Länder).

Die Lebenserwartung der Menschen beträgt 81 Jahre in Schweden und 73 Jahre in Ungarn, 80 Jahre in Frankreich bzw. 74 Jahre in der Slowakei, beinahe 82 Jahre in Italien, und 75 Jahre in Polen. Und die Meister der Region in Bezug auf Langlebigkeit und Lebensstandard (Slowenien und Tschechien – beide buchstäblich mit dem Westen eng verbunden) sind es auch… in Bezug auf die vom Covid-19 verursachte Sterblichkeit pro Million Einwohner.

Rumänien stellt mit einer noch geringeren Lebenserwartung als in Ungarn und einer hohen Influenza-Sterblichkeit eine Ausnahme dar, die die Regel bestätigt, da ein Teil (vom Fünftel bis zum Viertel) seiner Bevölkerung tatsächlich eine hauptsächlich in Westeuropa lebende Bevölkerung (insbesondere in Italien!) ist, die nur „in die Heimat“ zurückkehrt, um die verbliebene Bevölkerung (kürzlich mit dem Covid-19, aber auch mit allen möglichen Arten von Kulturviren, die ich bereits ausführlich in diesen Spalten erwähnt habe) zu infizieren. In Rumänien ist es auf jeden Fall sicher, dass die spezifische Sterblichkeit von Covid-19 schnell durch die „kollaterale“ Sterblichkeit von Ausgangssperre und Militärdiktatur, die unter dem Vorwand der Bekämpfung der Epidemie errichtet wurde, überschritten wird – oder eher, dass sie es angesichts der Tatsache wäre, dass dieses Leichenzählen der Anti-Covid-Hysterie dort wie anderswo wahrscheinlich nicht zu einer gesonderten Bilanzierung (und zwar aus gutem Grunde…) führen wird.

Mit anderen Worten tötet das Covid-19 mit seiner ausgeprägten Präferenz für geschwächte Opfer in sehr hohem Alter vor allem dort, wo sie zu finden sind – das heißt im Wesentlichen dort, wo nationaler Reichtum den Menschen den Luxus einer massiven Langlebigkeit erlaubt – das heißt derzeit im Zentrum des westlichen Reichs (und in den wenigen asiatischen Pseudopoden besagten Zentrums), und freilich nicht in den verschiedenen Peripherien, die dieses Zentrum überwacht und ausraubt. Und auch dort, wo diese sehr alten, mit komfortablen Renten ausgestatteten Menschen leben und sich den Luxus einer erhöhten Mobilität und eines reichen Lebensstandards leisten können, der insbesondere in den lateinischen Ländern wahrscheinlich die Ausbreitung der Epidemie beschleunigt haben kann.

Anstatt phantasmatischen Stolz zu schüren, könnten die Sterblichkeitszahlen des Virus daher eher wie ein Spiegel den Osteuropäern ihr Porträt als Europäer zweiter Klasse vorzeigen, die im Kalten Krieg kolonisiert und besiegt wurden (der natürlich nur für schwache Köpfe ein Krieg des „Kapitalismus“ gegen den „Kommunismus“ war).

Die in diesem Artikel geäußerten Ansichten sind die des Autors und spiegeln nicht unbedingt diejenigen des Herausgebers wider.