Die Zahlen lügen nicht: Im Vergleich zu Israel, einigen Golfmonarchien, den Vereinigten Staaten oder dem Vereinigten Königreich hinkt der Impfschutz gegen das Coronavirus in der Europäischen Union weit hinterher. Obwohl die Europäische Kommission zuversichtlich ist und hofft, dass bis zum Sommer 70 % der erwachsenen Bevölkerung mit dem Impfstoff versorgt werden können, kommt es derzeit überall zu ernsthaften Engpässen. Wer ist für diese Verzögerung verantwortlich, deren Preis in Menschenleben gemessen wird? Immer mehr Mitgliedsstaaten verurteilen das Scheitern der gemeinsamen Beschaffung durch die EU und suchen derweil nach alternativen Lösungen.
Die Europäische Kommission wäscht sich von jeglicher Schuld frei und will nicht einmal zugeben, dass die EU-Beschaffung weit hinter einigen Ländern außerhalb der EU zurückbleibt. – Der Grund dafür liegt in den weltweiten Produktionskapazitäten, nicht in der Anzahl der bestellten Impfstoffe – verteidigte sich Stella Kyiriakídou, EU-Kommissarin für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit. Allerdings hat Frau Kyiriakídou die folgende Frage noch nicht beantwortet: Warum werden die bereits produzierten Dosen woandershin in größeren Mengen geliefert? Sie lässt auch keine Überprüfung der bereits unterzeichneten Verträge zu, da diese für sie bindend sind. – Die Mitgliedstaaten können rechtlich gesehen keine bilateralen Verhandlungen mit den Herstellern führen, wie ich Ihnen gerade in Erinnerung gerufen habe – hatte Margarítis Schinás, der griechische Vizepräsident der Europäischen Kommission bereits gewarnt, ohne jedoch zu erwähnen, dass Deutschland laut Presseberichten 30 Millionen Impfstoffdosen von Pfizer-BioNTech im Rahmen einer separaten Vereinbarung gekauft hätte.
Obwohl die Verhandlungen während der deutschen EU-Ratspräsidentschaft stattfanden, ist es Deutschland, das die Beschaffung durch die Union am heftigsten kritisiert. So griff Bayerns Ministerpräsident Markus Söder – der als wahrscheinlicher Kanzlerkandidat gilt – in der „Bild am Sonntag“ das Beschaffungsverfahren bereits an. Söder sagte, die Kommission habe bei ihrer Aufgabe versagt, weil sie nicht in der Lage gewesen sei, genügend Impfstoffdosen zu reservieren. Seiner Meinung nach war die Kommission schuld daran, dass das Beschaffungsverfahren ungeeignet war, da sie zu bürokratisch plante und zu wenig Impfstoffdosen bestellte, als tatsächlich geeignet wäre, dzw. dass die Verhandlungen über den Preis der Impfstoffe zu lange dauerten.
„Es ist für niemanden zu erklären, warum ein sehr guter, in Deutschland entwickelter Impfstoff anderswo und früher eingesetzt wird“, ironisierte er und verwies auf die Tatsache, dass BioNTech ein deutsches Unternehmen ist.
Die bisher ohne Konsequenzen gebliebenen von Deutschland geführten separaten Verhandlungen sind auch in Polen vorerst unbequem gewesen. Michał Dworczyk, Kanzleileiter des Ministerpräsidenten, erinnerte die Deutschen daran, dass sie diese Käufe unter Missachtung der EU-Leitprinzipien getätigt hatten.
Ihm zufolge zeige dies einen Mangel an Solidarität, zumal es die Deutschen waren, die die Bestellungen organisierten. Michał Dworczyk sagte ganz dezent, die Vereinbarung der Europäischen Kommission sei „weit davon entfernt, perfekt zu sein“, weshalb das Verfahren immer mehr Unverständnis unter den Mitgliedsstaaten, einschließlich Polen, hervorrufe. Warschau hält sich vorerst an die EU-Leitprinzipien, aber hat angedeutet, dass sich dies ändern könnte, vor allem, wenn andere beginnen, diese Prinzipien nicht zu befolgen, oder wenn manche sogar so weit gehen, diese zu verletzen.
Auch Sebastian Kurz hat aus seiner Meinung keinen Hehl gemacht. Im Gespräch mit PULS 24 kritisierte der österreichische Bundeskanzler die gemeinsame Beschaffung von Impfstoffen durch die EU. Er forderte die Europäische Arzneimittelbehörde auf, den gemeinsam von AstraZeneca und der Universität Oxford entwickelten Impfstoff, der in Großbritannien bereits grünes Licht erhalten hat, so schnell wie möglich zuzulassen. Kurz warnte, dass er die Geduld verlieren könnte, wenn der Zulassungsprozess des Impfstoffs langsamer verläuft als erwartet.
Sebastian Kurz erklärte auch, dass nach der Pandemie die Führung der EU für das langsame Tempo der Entscheidungen über Reiseregeln und Impfstoffbestellungen zur Rechenschaft gezogen werden müssen.
Andrej Babiš zeigt auch mit dem Finger auf die Europäische Kommission. In einem Gespräch mit der Tageszeitung Právo machte der tschechische Ministerpräsident die Langsamkeit der europäischen Institutionen im Genehmigungsverfahren dafür verantwortlich, dass das Impfprogramm in Tschechien langsamer voranschreitet als in Großbritannien bzw. in Israel.
Der Regierungschef sagte unverblümt: Die gemeinsamen Aufträge der EU stellen für die Tschechische Republik nur einen Nachteil dar.
Wie sein österreichischer Amtskollege drängte er auch die Europäische Union auf ein schnelleres Zulassungsverfahren für die neuen Impfstoffe. In einer im Fernsehen übertragenen Rede erklärte der slowenische Premierminister Janez Janša außerdem, dass Slowenien zu den Ländern gehöre, die mit der Arbeit der Europäischen Kommission nicht zufrieden sind. Seiner Ansicht nach ist es nur natürlich, dass einige Länder direkte Verbindungen zu Impfstoffherstellern herstellen möchten.
Wenn auch durch die Hintertür hat Zypern bereits Schritte in diese Richtung unternommen: Präsident Níkos Anastasiádis kündigte in einem Interview an, dass er bereits Kontakte mit Israel aufgenommen hat – dem Land mit der derzeit höchsten Impfrate –, um von dort Impfstoffdosen zu erhalten.
Der Inselstaat hat damit das Problem umgangen, was nach Aussage seines Präsidenten nicht gegen die Regeln der Europäischen Union verstößt, da es nur um den Erwerb von Impfstoffen geht, die die EU bereits genehmigt hat. Níkos Anastasiádis begründete diese Entscheidung mit der langsamen Herstellung der Impfstoffe. Die Europäische Union sei ihrerseits zu langsam bei der Zulassung von Impfstoffen und setze anfangs zu sehr auf Impfstoffe, die sich nicht bewährt hätten. Er sagte, dass die Anzahl der gelieferten Impfstoffdosen einfach nicht ausreiche, um das Impfprogramm in einem angemessenen Tempo voranzutreiben.