Dieser Artikel ist am 19. Mai 2021 in der Magyar Nemzet erschienen.
Enikő Győri: Am Ende müssen sich der gesunde Menschenverstand und das Gemeinwohl durchsetzen.
Ohne überhaupt darauf zu warten, im Besitz aller Konjunkturpläne der Mitgliedsstaaten zu sein, fordert das Europäische Parlament bereits das Recht, die Bewertung dieser Pläne zu ändern. – „Aus rechtlicher Sicht ist es für das EP unmöglich, über sein Überprüfungsrecht hinaus in dieses Verfahren einzugreifen. Und doch wird das Plenum, das diese Woche begonnen hat, Beschlüsse fassen, die zu einem Ausufern dieser Vorrechte führen werden. Letztes Jahr hat die Debatte über den Rechtsstaatlichkeitsmechanismus ein ähnliches Spektakel hervorgebracht, als das Europaparlament versucht hat, die Verteilung der EU-Gelder zu politisieren“ – so Enikő Győri gegenüber Magyar Nemzet nach der gestrigen Debatte im Europaparlament über die nationalen Konjunkturpläne. Die Fidesz-Europaabgeordnete äußert sich zu den Fake News rund um die laufenden Konsultationen zwischen Ungarn und der EU, zu den Besonderheiten des ungarischen Konjunkturprogramms sowie zur möglichen Rückkehr des Streits um die Rechtsstaatlichkeit.
– Mehrere Fraktionsvorsitzende des Europaparlaments (EP) wollen, dass diese Institution eine Rolle bei der Bewertung der von den Mitgliedsstaaten vorgelegten Konjunkturpläne erhalte: Laut dem EVP-Fraktionsvorsitzenden Manfred Weber ist es notwendig, neben den bürokratischen Kriterien der Kommission auch politische Elemente zu berücksichtigen, während der liberale Dacian Cioloș während der gestrigen Debatte nicht zögerte, unverblümt zu erklären, dass er besonders an den Plänen Ungarns und Polens interessiert sei. Ist es nach dem letztjährigen Gerangel um die Rechtsstaatlichkeit wirklich eine gute Idee, weiterhin zu versuchen, die Frage des Wiederaufbaufonds zu politisieren?
– Meiner Meinung nach ist das Europäische Parlament das Opfer eines Besetzungsfehlers – worauf ich in meinem schriftlichen Beitrag hingewiesen habe. Das Europaparlament will immer mehr: Es will immer Vorrechte in Bereichen erhalten, die es laut den Verträgen gar nichts angehen. Der Gesetzestext, aus dem der Wiederaufbaufonds hervorging, legt auch die Rechte des Parlaments in diesem Bereich klar fest: Gemäß dem Grundsatz der Transparenz hat das Europaparlament ein Kontrollrecht über die nationalen Pläne und muss von der Kommission über den Fortgang des Bewertungsverfahrens informiert werden. Auf der anderen Seite ist es die Europäische Kommission, die als Exekutivorgan in den nächsten zwei Monaten für die Bewertung der nationalen Pläne zuständig ist, die dann dem Europäischen Rat vorgelegt werden.
Aus rechtlicher Sicht ist es daher unmöglich, dass das Europaparlament über sein Kontrollrecht hinaus in dieses Verfahren eingreift oder dass die Abgeordneten Zugang zu internen Dokumenten haben, zum Beispiel zu noch nicht endgültigen Bewertungen. Trotzdem ist das Plenum, das diese Woche begonnen hat, dabei, Beschlüsse zu fassen, die zu einem Ausufern dieser Vorrechte führen werden.
Bei der letztjährigen Debatte über den Rechtsstaatlichkeitsmechanismus kam es zu einem ähnlichen Spektakel, als das Europaparlament versuchte, die Verteilung von EU-Geldern zu politisieren. Und hier sind sie wieder und verfolgen ein ähnliches Ziel: Mitgliedsstaaten, die sie nicht mögen, aufgrund ideologischer Überzeugungen an den Pranger zu stellen. Aus der Debatte vom Dienstag habe ich jedenfalls den Eindruck, dass sich die Kommissare an den von den Verträgen vorgegebenen Rahmen halten und ihre Arbeit machen.
– In den letzten Wochen, so berichten verschiedene der ungarischen Opposition nahestehende journalistische Quellen, gab es Streit bei den Konsultationen zwischen Ungarn und der Kommission über den ungarischen Konjunkturplan. Wie viel Wahrheit steckt in diesen Gerüchten?
– Seit einigen Monaten gibt es einen ständigen Dialog zwischen unserer Regierung und der Kommission, und der Plan wurde im Lichte dieser Konsultationen entworfen. Meiner Meinung nach ist dies ein natürlicher Prozess, und
es war nie die Rede davon, dass Brüssel in irgendeinem Bereich Nein zu uns gesagt hätte.
Es gab nicht einmal eine wirkliche Verspätung: Die Kommission selbst hatte gesagt, dass das Datum des 30. April als Richtwert zu betrachten sei. Es lag auch im Interesse der Kommission, dass die Mitgliedsstaaten möglichst gute und damit umso leichter zu bewertende und zu akzeptierende Pläne vorlegen, damit sie so schnell wie möglich grünes Licht für die Mittelvergabe geben kann. Außerdem hatten in Ungarn mehrere hundert Organisationen die Möglichkeit, ihre Meinung zu dem Dokument abzugeben: Parallel zu den Verhandlungen mit der Europäischen Kommission haben wir auch die Sozial- und Regionalpartner konsultiert. Wir sollten auch nicht vergessen, dass dies eine neue Übung ist; die EU-Gesetzgebung zum Wiederaufbaufonds selbst enthält mehrere Dutzend Anforderungen für die Darstellung von Wiederaufbau- und Resilienzplänen. Es versteht sich von selbst, dass der Inhalt des Plans Änderungen erfahren hat, aber es gibt keinen Grund, sich vorzustellen, dass der Anschein solcher Änderungen etwas Skandalöses wäre.
Es ist die ungarische Linke, die ohne jede Grundlage begonnen hat, zu heulen, zu versuchen, unseren Ruf zu beflecken und eine Kürzung der uns zustehenden Mittel zu bewirken.
– Verschiedene EU-Länder haben beschlossen, die nicht rückzahlbare Finanzierung des Konjunkturprogramms zu akzeptieren, jedoch ohne die Kredite aufzunehmen, die die andere Hälfte des Plans ausmachen. Im Fall von Ungarn, was war der Grund für diese Entscheidung?
– Nach den Informationen, die wir im Moment haben, würde die Zahl der Länder, die auch den Kreditteil des Konjunkturpakets in Anspruch nehmen würden, höchstens sechs bis acht betragen. Die Niederlande zum Beispiel werden nicht einmal einen Sanierungsplan vorlegen, was auch kein Problem ist, da es auf EU-Ebene keine ausdrückliche Verpflichtung dazu gibt. In Ungarn sind wir nach sorgfältiger Abwägung der Marktgegebenheiten zu dem Schluss gekommen, dass wir auf diese Kredite nicht zurückgreifen müssen, da der Markt bei der Erreichung unserer Entwicklungsziele auf sich allein gestellt sein kann –
und dass wir auf diese Weise freier arbeiten können, indem wir die ungarischen Bedürfnisse berücksichtigen. Ein hervorragendes Beispiel dafür ist die Frage der Infrastrukturinvestitionen, die nicht immer den grünen Kriterien Brüssels entsprechen, die Ungarn aber – aufgrund seiner Rückständigkeit durch die kommunistische Vergangenheit – immer noch sehr braucht.
Hier ist anzumerken, dass das Europaparlament die Kommission hätte auffordern können, bei der Bewertung der nationalen Pläne flexibel zu sein und die Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten zu berücksichtigen. Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass die Kommission in Richtung Flexibilität und Berücksichtigung der Bedürfnisse der Mitgliedstaaten gedrängt werden sollte.
Ich denke, es ist auch wichtig zu betonen, dass die ungarische Regierung nicht plant, von ihrem Steuersenkungspfad abzuweichen. Die Krise hat das Haushaltsdefizit und die Staatsverschuldung des Landes etwas erhöht, aber unsere Leistung ist immer noch besser als der EU-Durchschnitt. Im Jahr 2019 – dem letzten Jahr vor der Krise – war die Wirtschaft in guter Verfassung, was ein lobenswertes Ergebnis ist.
Es gibt allen Grund zu der Annahme, dass es für uns leichter sein wird als für die Mehrheit der Mitgliedsstaaten, auf den Weg zum Wachstum vor der Krise zurückzukehren.
Wie Szabolcs Ágostházy, der Staatssekretär für die Investitionen der Europäischen Union, kürzlich erklärte, werden wird unseren Aufschwung unverzüglich mit unseren eigenen Haushaltsmitteln beginnen, ohne auf das grüne Licht aus Brüssel zu warten, denn das Wichtigste ist, dass das Geld so schnell wie möglich in die Wirtschaft fließt. Brüssel muss uns nur noch die notwendigen Mittel zu einem späteren Zeitpunkt zur Verfügung stellen.
– Eine der Bedingungen des europäischen Wiederaufbaufonds ist die Ratifizierung des Eigenmittelverfahrens durch die Mitgliedsstaaten. In Ungarn bezieht sich der Text, der derzeit vom Parlament geprüft wird, unter anderem auf den im vergangenen Dezember von den Staats- und Regierungschefs verabschiedeten Kompromiss zur Rechtsstaatlichkeit. Warum war das notwendig?
– Wir dürfen uns in dieser Frage keine Illusionen machen, insbesondere nach dem Kampf auf Leben und Tod, den das Europäische Parlament im letzten Jahr um den Rechtsstaatlichkeitsmechanismus geführt hat. Der von den Staats- und Regierungschefs verabschiedete Text ist sehr eindeutig, und es ist nicht möglich, die Entscheidungen der obersten Organe der EU zu ignorieren. Seitdem hat das Europaparlament jedoch innerhalb weniger Monate bereits zwei Entschließungen angenommen, die diesem Text zuwiderlaufen, womit es seine Vorrechte missbraucht und das Machtgleichgewicht zwischen den europäischen Institutionen gefährdet hat. Da das Europaparlament ein politisches Gremium ist, wäre es in gewisser Weise falsch, davon überrascht zu sein.
Aber am Ende muss sich der gesunde Menschenverstand und das Gemeinwohl durchsetzen.
Von der Kommission kann man nur hoffen, dass sie sich nicht auf diese politischen Spiele einlässt – weder bei der Bewertung der nationalen Pläne noch beim Rechtsstaatlichkeitsmechanismus.
Tamara Judi (Brüssel)
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Von der Visegrád Post aus dem Ungarischen übersetzt.