Polen – Orlen SA, ein polnischer Raffinerie- und Erdölkonzern, hat ein mehrjähriges strategisches Abkommen über die Lieferung von Erdgas mit ArcelorMittal, dem zweitgrößten Stahlhersteller der Welt, unterzeichnet.
Es ist nicht das erste Mal, dass die beiden Konzerne bei energieintensiven Geschäften in Ost- und Mitteleuropa zusammenarbeiten, aber das neue Abkommen, das am 14. November bekannt gegeben wurde, spiegelt die wachsende Bedeutung Indiens in Mittel- und Osteuropa wider und leitet eine neue Ära der polnisch-indischen Handelsbeziehungen ein.
Im Laufe von fünf Jahren, zwischen dem 1. Januar 2024 und dem 31. Dezember 2029, wird ArcelorMittal rund 26 TWh Erdgas im Wert von rund 1,05 Mrd. EUR kaufen.
Polnischer Adler und bengalischer Tiger
Die schrittweise Liberalisierung der polnischen Wirtschaft nach dem Fall des Kommunismus im Jahr 1989 und Indiens Aufstieg zu einer globalen Wirtschaftsmacht im 21. Jahrhundert haben einen fruchtbaren Boden für die Zusammenarbeit geschaffen. Der bilaterale Handel hat sich stetig ausgeweitet und erstreckt sich auf Sektoren wie Informationstechnologie, Pharmazeutika und jetzt, mit dem Orlen-ArcelorMittal-Abkommen, auch auf die Energie- und Fertigungsindustrie.
Der bilaterale Handel zwischen beiden Staaten ist in den letzten zehn Jahren um mehr als das Siebenfache gestiegen und
immer mehr indische Unternehmen haben Polen zu ihrem bevorzugten Ziel für Nearshoring-Aktivitäten in Europa gemacht.
Beide Länder verfügen über reiche kulturelle Traditionen, eine starke Arbeitsmoral und ein Engagement für Innovation. Diese kulturellen Synergien schaffen ein günstiges Umfeld für gemeinsame Geschäftsprojekte und erleichtern die effektive Kommunikation und das Verständnis zwischen polnischen und indischen Unternehmen.
Eine Alternative zum chinesischen Drachen
Für das 21. Jahrhundert sagen Experten voraus, dass Indiens schnell wachsende Wirtschaft, seine wachsende Bevölkerung und sein zunehmender globaler Einfluss umgestaltend sein werden. Da Polen versucht, die globalen wirtschaftlichen Einflüsse auszugleichen, bietet eine engere Zusammenarbeit mit indischen Unternehmen ein Gegengewicht zu Chinas Anteil an der Weltwirtschaft.
Nachdem die Partei Recht und Gerechtigkeit 2015 an die Macht kam, verfolgte Polen eine Strategie der Diversifizierung seiner Handelsbeziehungen, die als zu abhängig von Deutschland im Besonderen und der EU im Allgemeinen angesehen wurden.
Man wandte sich an außereuropäische Partner, von denen China als ein besonders interessanter, aufstrebender Partner angesehen wurde. Nachdem sich China jedoch nach dem umfassenden Einmarsch in die Ukraine im Februar 2022 auf die Seite Russlands stellte, wurde Polen noch zurückhaltender in Bezug auf engere Beziehungen zu China.
In diesem Umfeld beschloss Polen, Indien genauer unter die Lupe zu nehmen. Was sie sahen, war vielversprechend.
Eine junge, wachsende und englischsprachige Bevölkerung mit Millionen von Studenten, die in verschiedenen MINT-Fächern und in der Informatik sehr gute Leistungen erbringen, machen sich auf den Weg nach Polen, um in Unternehmen wie Google oder Microsoft technologieorientierte Arbeitsplätze zu besetzen.
Polen ist auch begeistert vom India-Middle East-Europe Economic Corridor (IMEC), der die Konnektivität und wirtschaftliche Integration zwischen Asien, dem Persischen Golf und Europa verbessern soll. Der Korridor wird Indien über die Vereinigten Arabischen Emirate, Saudi-Arabien, Jordanien, Israel und Griechenland über See- und Schienenwege mit Europa verbinden.
Ehrgeizige Infrastrukturprojekte von der Ostsee bis zum Indischen Ozean werden voraussichtlich ab Mitte der 2030er Jahre Synergieeffekte erzeugen und eine noch bessere Abstimmung zwischen der polnischen und der indischen Wirtschaft ermöglichen.
Dazu gehören die Drei-Meere-Initiative, die Via Carpathia-Autobahn, die von der Ostsee bis zum Hafen von Thessaloniki führt, und ein langfristiger Plan für ein Eisenbahnprojekt entlang derselben Strecke.
Diversifizierung in einer globalisierten Welt
Durch die Diversifizierung wirtschaftlicher Partnerschaften als Strategie zur Minderung von Risiken, die mit einer zu starken Abhängigkeit von einem Markt verbunden sind, spielt Orlen eine zentrale Rolle in der polnischen Wirtschaft und trägt wesentlich zur Energiesicherheit Polens bei. Die strategischen Investitionen und das wachsende Portfolio von Orlen stehen im Einklang mit den nationalen Wachstumszielen und vor allem mit den Sicherheitsanforderungen, indem die Region von russischer Energie zugunsten amerikanischer, norwegischer bzw. katarischer Quellen abgekoppelt wird.
Ähnliche Sicherheitsbedenken stehen hinter Polens Ambitionen, Indien einen Teil des Kuchens zu überlassen, der zuvor für China vorgesehen war. Für Warschau wird das chinesisch-russische Bündnis nach dem Februar 2022 in einem ganz anderen Licht gesehen. Der Orlen-ArcelorMittal-Deal ist nur ein Zwischenschritt in diesem Prozess, kennzeichnet aber gleichzeitig einen Meilenstein in der sich entwickelnden Geschichte der polnisch-indischen Wirtschaftsbeziehungen.
Es ist noch zu früh, um zu sagen, ob das 21. Jahrhundert das Jahrhundert Indiens sein wird, aber Polen hat gezeigt, dass es bereit ist, diesen Weg mitzugehen.