Von Alimuddin Usmani.
Tschechien – Das politische Jahr 2019 wurde in Tschechien durch drei wesentliche Ereignisse gekennzeichnet: Zuerst durch die Europawahlen vom 24. und 25. Mai, dann durch eine regierungsfeindliche Großdemonstration am 23. Juni und schließlich durch einen weiteren Protestmarsch am 16. November, wobei dieses Datum auch der 30. Jahrestag der Samtrevolution war. Diese Proteste wurden vom Kollektiv Million chvilek pro demokracii (Eine Million Momente für die Demokratie) organisiert, das den Rücktritt von Ministerpräsident Andrej Babiš fordert, der in zwei Affären bezüglich europäischer Subventionen wegen eines angeblichen Interessenkonflikts beschuldigt wird. Die u.a. vom Milliardär George Soros finanzierte NGO Transparency International (TI) hat sich diesem Aufruf angeschlossen.
Die Partei ANO weiterhin an der Spitze der Umfragen
Laut einer am 20. Dezember 2019 vom Public Opinion Research Centre (Centrum pro Výzkum Veřejného Mínění, CVVM) veröffentlichten Umfrage bleibt die regierende Partei ANO von Ministerpräsident Andrej Babiš mit 29,5% bei weitem an der Spitze der Wahlabsichten, gefolgt von der Piratenpartei (einer liberal-libertären Partei, die großteils die Demonstrationen gegen die Regierung unterstützt) mit 14% und der Wirtschaftspartei ODS, die 12,5% erhalten würde. Die Kommunistische Partei Böhmens und Mährens (KSČM), die Sozialdemokratische Partei (ČSSD), die Christliche und Demokratische Union (KDU-ČSL) und die souveränistische Partei „Freiheit und direkte Demokratie“ (SPD) von Tomio Okamura können vermutlich darauf hoffen, die 5%-Hürde zu überspringen. Während die Piratenpartei stabil ist und die ODS gegenüber den Europawahlen vom Mai 2019 etwas verliert, legt die ANO von 21% auf 29,5% wieder los.
Wie erklärt man, dass die wichtigste Regierungspartei seit 1989 noch nie dagewesene Straßendemonstrationen so gut aushält?
Dieses Phänomen der systematischen Opposition gegen die Regierungspolitik Andrej Babišʼ ist tatsächlich etwas Neues im tschechischen politischen Leben seit der Samtrevolution. Kein Ministerpräsident wurde bisher mit ähnlichem konfrontiert. Allerdings ist es nicht die Straße, die regiert. In Wahrheit gestaltet jede Regierungskoalition ihre eigene Ideologie. Es gibt in Tschechien irgendwie einen neuen Gesellschaftsvertrag, der seit zwei Jahren zwischen den Regierungsparteien und einem Großteil der Gesellschaft abgeschlossen wurde bzw. 2019 weiterhin gültig bleibt. Man könnte die Doktrin der heutigen Regierung wie folgt zusammenfassen: „Wir garantieren Euch Stabilität und eine regelmäßige Verteilung der Sozialleistungen, wir schützen Euch gegen unkontrollierte Masseneinwanderung und dafür mischt Ihr Euch nicht darin ein, wie wir regieren bzw. wie wir den Staat so verwalten, als handle es sich um ein Privatunternehmen.“
Einwanderung wird weiterhin von öffentlicher Meinung und Politikern gleichermaßen abgelehnt
Was Einwanderung anbelangt, so stellt 2019 keine Ausnahme gegenüber den vorigen Jahren dar. Der Einwanderung ablehnende Konsens bleibt unter tschechischen Politikern aufrecht. Im Oktober 2019 hatte das Europaparlament tatsächlich einen Antrag zugunsten der Rettung und der Aufnahme der Migranten im Mittelmeer mit 290 Stimmen gegen 288 knapp zum Scheitern gebracht, und die tschechischen Abgeordneten – darunter die kommunistische Abgeordnete Kateřina Konečná – hatten durchaus zu diesem Erfolg der Souveränisten beigetragen, die gegen die Einwanderung fördernden NGOs kämpfen, indem sie für den Antrag stimmten. Allein die Abgeordneten der Piratenpartei, deren Wähler vorwiegend in den Städten und in den wohlhabenden Schichten zu finden sind, stimmten dafür.
Internationale Beziehungen
Tschechien ist seit 1999 Mitglied der NATO und pflegt weiterhin uneinheitliche Beziehungen zu Russland. Einerseits ist der tschechische Präsident Miloš Zeman für seine Freundschaft mit Russland und China bekannt, andererseits kommen manche historische Streitfragen zwischen beiden Ländern von Zeit zu Zeit wieder zu Tage. So protestierte die russische Diplomatie heuer gegen die Entscheidung Tschechiens, den 21. August zu einem Gedenktag für die Opfer der sowjetischen Invasion aus dem Jahr 1968 festzulegen. Man merke ebenfalls, dass Russland die tschechische Organisation Člověk v tísni (Menschen in Not) – die von Soros finanziert wird und sich im Bereich humanitäre Hilfe zugunsten der Migranten spezialisiert hat – auf die Liste der in Russland unerwünschten Organisationen gesetzt hat, die dort keine Tätigkeit ausüben dürfen.
Perspektiven für 2020
Die tschechische Politszene sollte sich im Hinblick auf die Parlamentswahlen 2021 weiterhin entwickeln. Wenn die Partei ANO Andrej Babišʼ weiter die von einem Teil der Gesellschaft, die regelmäßig auf die Straße geht, gewollte Destabilisierung standhält, könnte sie sich erneut optimal positionieren, um die Wahlen nochmals zu gewinnen. Es wird ebenfalls interessant sein, zu sehen, wie die 2019 von Václav Klaus Jr., dem Sohn des gleichnamigen früheren tschechischen Präsidenten, gegründete Partei Trikolora sich entwickeln wird. Diese rechte, wirtschaftlich liberale doch gesellschaftlich konservative, souveränistische bzw. euroskeptische Partei bekommt gerade Aufwind, während Václav Klaus Jr. über den vom Namen seines Vaters garantierten guten Ruf hinaus über ein Image der Seriosität und der Integrität verfügt. Gemäß einer Umfrage des Instituts Kantar CZ vom vergangenen November könnte Trikolora 6,5% der Stimmen erhalten und somit 2021 ins Parlament einziehen.