Dieser Artikel ist am 28. Dezember 2021 in der Magyar Nemzet erschienen.
Die österreichisch-ungarische Doppelmonarchie (1867-1918) kann sowohl in ihren nicht zu unterschätzenden Erfolgen als auch in ihrem Fall mit tragischen Folgen multinationalen Staaten späterer Epochen als Beispiel dienen und ihnen helfen, das Unglück, das sie erlebt hat, zu vermeiden und an den guten Praktiken festzuhalten, die bereits die ihren waren. Seine beiden legislativen Zentren – der Wiener Reichsrat und das ungarische Parlament – herrschten über fast zwanzig Völker, die sich in Herkunft und Sprache voneinander unterschieden. Ihr gemeinsames politisches Handeln war in der Praxis auf drei Bereiche beschränkt: die Militärpolitik, die Diplomatie und das Finanzwesen – ein Bereich, der mit den ersten beiden in Verbindung stand. Die Bürger dieses Staates – einer der größten in Europa – bewegten sich frei von Lemberg (Lwiw, in der Ukraine) nach Triest und Kronstadt (Braşov, in Rumänien), von Innsbruck und Prag nach Sarajevo.
Der Kaiserhof hatte schnell erkannt, dass die organische Koexistenz dieser Vielfalt nur dann von Dauer sein konnte, wenn über die wirtschaftliche und politische Zusammenarbeit hinaus das Bewusstsein der Zugehörigkeit zu einer gemeinsamen Heimat zu einer wirklich gelebten spirituellen Erfahrung wurde. Das Studium der Geschichte und der (Volks-)Kultur wurde in den Dienst der Schaffung eines Gemeinschaftserlebnisses auf spiritueller Ebene gestellt. Die mehr als zwanzig illustrierten Bände von Az Osztrák-Magyar Monarchia [„Die Österreichisch-Ungarische Monarchie“], die fast zeitgleich auf Deutsch und Ungarisch erschienen (der Verfasser des ungarischen Textes war der Schriftsteller Mór Jókai), setzten sich zum Ziel „die harmonische Koexistenz zweier Parteien, von denen keine in Zukunft die sie verbindenden Bande lösen oder enger knüpfen will, und deren Entfaltung auf gegenseitiger Verständigung und Zusammenarbeit beruht, gemäß dem Motto ihres obersten Herrschers: Viribus unitis!“
Diese Mäßigung, die die Habsburger damals auszeichnete, war von einem Sinn für politische Realitäten diktiert worden. Sie markierte den Beginn eines beispiellosen kulturellen Aufschwungs: Die bereits bestehende Literatur (österreichische, tschechische, italienische, ungarische) trat in eine neue Epoche ein, während die Literatur von Völkern, die bis dahin kaum über eine literarische Tradition verfügten, in kurzer Zeit Weltspitze erreichte. Die geistige Kraft, die die von der Macht ausgeschlossenen Slawen – und insbesondere die dynamischsten unter ihnen: die Tschechen – antrieb, war jedoch unter dem Zeichen des nationalen Widerstands geboren worden. Wenige Monate vor dem österreichisch-ungarischen Kompromiss hatte der tschechische Historiker und Schriftsteller František Palacký die Möglichkeit einer zwischen Österreichern und Ungarn geteilten Regierung unter Ausschluss der Slawen in einer pessimistischen Skizze skizziert. Die Ausrufung der Doppelmonarchie, so hatte er geschrieben, werde zugleich „der Tag der Geburt des Panslawismus sein, in der am wenigsten erfreulichen Form, die dieser annehmen kann. Wir Slawen bereiten uns darauf vor, mit gerechtem Schmerz, aber ohne Furcht“.
Viele Jahrzehnte später, nach schweren historischen Kataklysmen, kam es zur Geburt der Europäischen Union, die vergleichbaren politischen Zielen wie der vorangegangene Versuch entsprach, aber auf einer breiteren geistigen Grundlage stand und ein zehnmal größeres Gebiet umfasste. Das Ziel beider Formationen ist das gleiche: in einem homogenen Staat das friedliche und wohlhabende Zusammenleben der konstituierenden Völker zu organisieren. Nach dem Zweiten Weltkrieg erschienen zahlreiche historische, soziologische und literaturgeschichtliche Synthesen, die die Absicht zu bestätigen schienen, aus dem Europa der Kohle und des Stahls – und später der EWG – eines Tages ein europäisches Vaterland zu machen, das in den Köpfen und Seelen der Menschen lebe.
Parallel zur (oder über der) deutsch-französischen Achse schuf die EU ein institutionelles System, das – da jeder Mitgliedstaat gleichberechtigt vertreten ist – sicherstellen sollte, dass die Interessen der „Kleinen“ gewahrt bleiben und im Konfliktfall Kompromisslösungen gefunden werden. Nach einem kurzen Honeymoon zu Beginn des neuen Jahrtausends haben die Spannungen zwischen zwei Gruppen zugenommen: denjenigen, die die Bindungen zwischen den Mitgliedstaaten stärken wollen (Föderalisten), und denjenigen, die den Status quo beibehalten wollen (Souveränisten); die zweite Gruppe besteht hauptsächlich aus den Ländern, die früher die Doppelmonarchie bildeten und deren Erinnerung an die Zeit unter sowjetischer Herrschaft noch schwer wiegt. Und das Zentrum, das von Politikern der Linken vereinnahmt wird, versucht nicht, zur alten Politik des Kompromisses zurückzukehren, sondern verhält sich zunehmend parteiisch und aggressiv gegenüber Meinungen, die ihm nicht gefallen. Es gibt viele Anzeichen dafür, dass die Koryphäen des derzeitigen europäischen Superstaates und ihre Institutionen zwar ihre eigenen Positionen stärken, sich aber gleichzeitig finanziellen Einflüssen aus den USA unterwerfen. Sie dienen bedingungslos den Diktaten der Massenmedien und der globalen sozialen Netzwerke, die vom Geld der Wall Street kontrolliert werden.
Was ist ihr Ziel? Die Schaffung einer individualistischen Gesellschaft und eines nihilistischen Denkens in den Köpfen der Menschen. Ihre Werte sind LGBTQ-Rechte (aber warum haben sie dann József Szájer verfolgt?), die Aufklärung von Minderjährigen und geschlechtsangleichende Operationen, die an Kindern durchgeführt werden. Sie betrachten das Gefühl, einer Nation anzugehören, die auf der Dualität von Mann und Frau basierende Anthropologie, ja sogar jede Form von sozialem Zusammenhalt, Familie und konservativen Werten als Feind – und sogar als ihren Hauptfeind. Das bringt sie auch dazu, die wichtigste Grundlage der europäischen Identität, nämlich die Bibel, zu pulverisieren. Es gibt viele Anzeichen dafür, dass das Schlachtfeld der nächsten Offensive die Relativierung des Rechtssystems sein wird. Bei der Auslegung des Inhalts der EU-Verträge, der die Grundlage für das Funktionieren der EU legt, werden die Bürokraten, die für die Einhaltung des Rechts sorgen sollen, in den Freiheiten, die sie sich selbst einräumen, zunehmend enthemmt. Die „kreative“ Auslegung des Rechts hilft ihnen dabei, Völker, die zu Feinden erklärt wurden, aufgrund des Vorrangs eines obersten Prinzips zu verurteilen. Missbrauch und absurde Urteile nehmen eine Wendung, die nach und nach dazu führt, dass eine andere, fast zwei Jahrtausende alte Grundlage unseres europäischen Gesellschaftslebens in Frage gestellt wird: das Ansehen des römischen Rechts.
Und was findet man in der anderen Waagschale? Welche Erfolge, welche weltweit anerkannten Ergebnisse haben sie, um die Kapitulation der Nationen zumindest irgendwie erklären – wenn schon nicht moralisch rechtfertigen – zu können? Nichts. Europa verliert auf der internationalen Bühne mit großer Geschwindigkeit sein wirtschaftliches und politisches Gewicht, das ihm jahrhundertelange Bemühungen gesichert hatten. Innerhalb von zwanzig Jahren ist sein Anteil am weltweiten BIP von 24% auf 18% gesunken: mehr als ein Rückschlag – ein Zusammenbruch; sein außenpolitischer Handlungsspielraum schrumpft wie ein Kropf und reicht nun kaum noch über seine eigenen territorialen Grenzen hinaus. Und wenn sie es doch tut, dann nur, um die Rolle der „Melkkuh“ zu erben. In der Ukraine, im Nahen Osten und anderswo befindet sich ihr Protagonismus im freien Fall. Und die Niederlage in Afghanistan hat jenen Mächten – wie China und Russland – Mut gemacht, die eine imperiale Zukunft auf der Weltbühne anstreben. Aber auch – und das ist keine Kleinigkeit – Hunderttausenden von Migranten, die ihrerseits den europäischen Lebensstil durchaus attraktiv finden.
Es ist eine Untertreibung zu sagen, dass die EU nicht in der Lage war, aus den Fehlern der Doppelmonarchie zu lernen: Aber selbst wenn sie nachahmt, was die Doppelmonarchie erfolgreich gemacht hat, geht sie daneben. Völker, die – zu Recht – danach streben, ihren eigenen Weg zu gehen, sind schmutzigen finanziellen Erpressungen ausgesetzt. Die Völker werden rebellieren, wie sie es schon immer getan haben – wie es die Briten vor kurzem bereits getan haben. Es reicht nicht, nur die Artikel in der Mainstream-Presse zu lesen, man muss auch die Kommentare lesen! Immer mehr schreiben, dass sie sich einen Regierungschef wünschen, der den Mut hat, für die Interessen seines eigenen Volkes zu kämpfen und sich gegen eine mörderische Einwanderung und gegen geschlechtsangleichende Operationen an Kindern auszusprechen.
In den 1970er und 1980er Jahren dachten die Italiener, wenn sie meinen Nachnamen oder das Adjektiv ungherese [„ungarisch“ auf Italienisch – AdÜ.] lasen, sofort an die Jungs aus der Paulgasse [was auf Ungarisch Pál heißt – AdÜ.] oder an „Pusskass“ [italienische Aussprache des Namens des berühmten Fußballspielers Ferenc Puskás – AdÜ.]. Heute stelle ich fest, dass andere Assoziationen in Gang gekommen sind: Indem sie meine Herkunft anhand meiner Autonummer erraten, winken sie mir oft zu, kommen zu mir, um sich zu verbrüdern oder mir sogar zu gratulieren: Evviva l’Ungheria! Viva Orbán!
József Pál
Universitätsprofessor
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Von der Visegrád Post aus dem Ungarischen übersetzt.