Dieser Artikel ist am 18. März 2022 in der Weltwoche erschienen.
Der folgende Leitartikel wurde vom ehemaligen tschechischen Präsidenten Václav Klaus verfasst und vom Václav-Klaus-Institut zur Veröffentlichung in der Visegrád Post zur Verfügung gestellt.
Das Leid Hunderttausender Zivilisten, aber auch das der Soldaten (nicht nur der Berufssoldaten) ist unkalkulierbar. Genauso wie die enormen materiellen Schäden, die nicht nur die Orte, an denen die Kämpfe unmittelbar stattfinden, belasten werden, sondern auch die Folgen der riesigen Flüchtlingswelle und es hat keinen Sinn, diese jetzt zu quantifizieren. Die Appelle nach einer sofortigen Unterbrechung der Kämpfe, nach einem Waffenstillstand, nach sinnvollen und ernsthaften Kompromissen müssen dringend und laut formuliert werden.
Die momentane Situation erfordert jedoch etwas anderes als Emotionen, Mitleid, billige Gesten, ganz zu schweigen von den Versuchen der Politiker, die Situation zu nutzen, um politische Rivalen zu denunzieren. Sie erfordert eine Rückkehr zu rationaler Betrachtung der Ursachen der heutigen Situation. Dies ist Voraussetzung für die Suche nach Lösungen, die Verluste und Kosten aller Art minimieren werden.
Um solche Lösungen finden zu können, genügt keine starke Rhetorik und politische Phrasen. Es reicht nicht aus, sich auf Politikmacherei einzulassen, bei der es immer um Innenpolitik geht (und im tschechischen Fall um die bevorstehenden Kommunal-, Senats- und Präsidentschaftswahlen).
Der Krieg dauert nun schon drei Wochen und wird nicht so schnell von alleine zu Ende gehen. Was fehlt, ist eine Analyse der Gründe, warum dies alles geschehen ist. In den ersten Tagen wurde mir empfohlen, nicht zu analysieren. Inzwischen ist es absolut notwendig.
Es sollte gesagt werden, dass die Ukraine das größte Opfer ist von all dem was gerade passiert. Von Anfang an war sie nur ein Instrument in einem größeren Spiel. Es wäre billig, der Ukraine vorzuwerfen, dass sie diese Rolle nicht hätte annehmen dürfen und dass sie sie längst hätte durchschauen müssen.
Dies lässt sich vor allem im Nachhinein leicht sagen. In der komplizierten, postkommunistischen und tief gespaltenen Ukraine ist es fraglich, ob irgendjemand die Kraft und das Mandat gehabt hätte, dies zu tun.
Es ist evident, dass in der Ukraine seit mindestens zehn Jahren ein Konflikt zwischen dem Westen und Russland (ich wollte eigentlich West und Ost schreiben, aber dabei würde ich China vergessen) herrscht.
Es handelt sich um ein „Nachspiel“ des Kalten Krieges, wobei es von Seiten der USA und ihrer Verbündeten um die Fortsetzung der Politik des unipolaren Hegemons (die durch den Sieg im Kalten Krieg geschaffen wurde) geht. Von Seiten Russlands geht es um die Entscheidung die rote Linie – die für Russland Mitgliedschaft seines Nachbarlandes in der NATO wäre – nicht zuzulassen.
Ich stimme mit den Realisten in der amerikanischen Außenpolitik überein – von Kissinger und Brzezinski bis zu einer Generation jüngerer Mearsheimer und Carpenter – dass die Karten so verteilt wurden. Die Ukraine hatte diese Karten nicht in der Hand (sie spielte ein anderes Kartenspiel) und konnte sich daher nur der einen oder anderen Seite anschließen. Seit dem „Maidan“ im Jahr 2014 hat sich die Ukraine bzw. die ukrainische Politik für eine Konfrontation mit Russland entschieden, vor allem in Erwartung einer NATO- und EU-Mitgliedschaft (und der damit verbundenen, von der Ukraine nicht richtig verstandenen Vorzüge).
Die Ukraine hatte eine andere Vorstellung von einer potenziellen Konfrontation im Vergleich zu der, die sie am 24. Februar 2022 erlebt hat. Hat die Ukraine einen Fehler gemacht? Hätte sie die Ereignisse erwarten sollen? Ich habe wiederholt zugegeben, dass ich einen Krieg in seinem ganzen grausamen Ausmaß nicht erwartet habe, aber ich bin kein ukrainischer Politiker. Für mich war es ein zweitrangiges, wenn auch sehr ernsthaft wahrgenommenes Thema (und eine große Befürchtung); für einen ukrainischen Politiker hätte es eine Frage von Leben und Tod sein müssen.
Hätten sie die russischen Pläne und Absichten „lesen“ können? Hätten sie besser in die Seele Russlands und Putins sehen sollen als wir hier in Prag? Und als in Berlin, Paris und Washington? Hätten sie Putins monatelange Aussagen ernster nehmen sollen? Ich entschuldige sie ein wenig. Um meine frühere Analogie zu verwenden, sie hatten andere Karten in der Hand als Biden und Putin. Und sie wurden von der uneingeschränkten Unterstützung und Hilfe des Westens überzeugt.
Jetzt geht es um die Ernsthaftigkeit der aufgenommenen Verhandlungen. Der Schlüssel zum Erfolg liegt in der Antwort auf die Frage, „welche Vision von der Zukunft der Ukraine, Russland dazu bringen wird, den Krieg zu beenden“. Die Antwort des Westens muss so schnell wie möglich kommen. Jeden Tag steigen die Kosten exponentiell an. Auch für die Tschechische Republik ist dies eine absolut entscheidende Frage.
Václav Klaus
Ehemaliger tschechischer Präsident