Ungarn – Interview mit dem ungarischen Historiker, Journalisten und Publizisten László Bernát Veszprémy: „Ich glaube nicht, dass es in Mitteleuropa eine sehr große muslimische Einwanderung geben wird.“
László Bernát Veszprémy ist Absolvent der reformierten Károli Gáspár Universität und hat einen Masterabschluss in Holocaust–Studien von der Universität Amsterdam. Derzeit ist er Doktorand an der Graduiertenschule für Kulturgeschichte der ELTE-Universität in Budapest. Von 2016 bis 2018 schrieb er Beiträge für die jüdische Zeitschrift Szombat und von 2017 bis 2018 Forscher am Institut für Geschichte Veritas. Er war auch Forschungsassistent am Institut für ungarisch-jüdische Geschichte an der Milton–Friedman–Universität. Seit Herbst 2021 ist er Chefredakteur von Corvinák, dem Analyseportal des Mathias–Corvinus–Collegiums, nachdem er zuvor stellvertretender Chefredakteur des jüdischen Nachrichtenportals neokohn.hu war. Er schreibt auch Beiträge für das konservative Portal bzw. für die Wochenzeitung Mandiner.
Im Jahr 2021 veröffentlichte er zwei Bücher. Das eine über das Jahr 1921 und die Anfänge der Horthy-Ära. Das andere über die Beziehung zwischen Einwanderung und Antisemitismus im Westen. Yann Caspar sprach am 8. Juni 2022 in Budapest mit ihm über diese Bücher, wobei Fragen wie die Beziehung der Ungarn zum Vertrag von Trianon und ihrer Geschichte, die Herausforderungen der außereuropäischen Einwanderung und die Beziehungen zwischen Ungarn und Israel auch angesprochen wurden.
Yann Caspar: Vor kurzem war es der Jahrestag des Vertrags von Trianon. Ein Friedensvertrag, oder eher ein Diktat. Wie kann man sich mehr als hundert Jahre später an Trianon erinnern?
László Bernát Veszprémy: Ich denke, der Begriff „Diktat“ ist absolut zutreffend. Wenn man sich die damaligen Quellen ansieht, stellt man fest, dass das ungarische Volk einhellig und massiv gegen diesen Friedensvertrag war und ihn als etwas Vorläufiges erlebte. Dies galt nicht nur für das Horthy-Regime, sondern auch für die Zeit der Károlyi-Revolution und der Räterepublik, als bereits klar war, welche Gebiete Ungarn verlieren würde und wo die feindlichen Streitkräfte stationiert waren. Niemand stand auf der Seite von Trianon. Schauen wir uns nur an, wie die Kommunisten versucht hatten, Unterstützung zu bekommen: indem sie eine Militärkampagne im Norden und eine weitere in Richtung Siebenbürgen starteten. Ich habe kürzlich einen Artikel in Mandiner veröffentlicht, der sich auf Dokumente der ungarisch-rumänischen Grenzkommission stützt, die ich aus dem Nationalarchiv gezogen habe. Ein britischer Offizier, der damals das Partium besuchte, schrieb es klar und deutlich: Diese Region wird niemals rumänisch werden.
Wie können wir uns heute an Trianon erinnern? In diesem Punkt ist es wichtig zu beachten, dass sich die Geschichte seitdem in eine andere Richtung entwickelt hat. Wir denken jetzt in Regionen, in regionaler Zusammenarbeit, es gibt die EU, die NATO und die Vereinten Nationen. Also – wie ungarische Politiker oft erwähnen – hat Ungarn keine territorialen Ansprüche.
Das bedeutet jedoch nicht, dass die Ungarn auf der anderen Seite der Grenze nicht in ihren Rechten verteidigt werden sollten.
Ost- und Mitteleuropa ist heute mit gemeinsamen Problemen konfrontiert, die V4 ist ein perfektes Beispiel dafür. Nehmen wir im Übrigen die ungarisch-serbischen Beziehungen: Sie sind gut und gedeihen, was bis vor kurzem auch für die ungarisch-slowenischen Beziehungen galt. Wenn man also über Trianon spricht, hat niemand mehr denselben Ansatz wie 1920. Natürlich ist das Recht, sich zu erinnern, unser Recht, während die Verteidigung der Rechte der ungarischen Nationalität unsere Pflicht ist.
Yann Caspar: Aber wie erklären Sie sich, dass es in der aktuellen ungarischen politischen Klasse trotzdem keinen Kompromiss in dieser Frage gibt?
László Bernát Veszprémy: Was die Opposition ist und was sie repräsentiert, haben wir meiner Meinung nach bei den letzten Wahlen gut gesehen. Sie konnte in knapp dreißig Gemeinden, darunter auch Budapest, gewinnen. Ihre Wähler sind natürlich zu respektieren, aber ich bin mir nicht sicher, ob es wirklich relevant ist, was die Oppositionspolitiker denken. Sie versuchen natürlich auch, ein nationales Register zu spielen. Nur sie können sagen, ob das aufrichtig ist oder nicht. Ich glaube jedoch, dass sich in Ungarn ein nationales Minimum herauskristallisiert hat. Zu sagen, dass 20 Millionen Rumänen einfallen und sich in unseren Wohnungen niederlassen werden, wie es während der Kampagne zum Referendum über die doppelte Staatsbürgerschaft gesagt wurde, ist meiner Meinung nach nicht mehr möglich. Es ist nicht mehr möglich, auf diese Weise über die Ungarn jenseits der Grenzen zu sprechen.
Yann Caspar: Im vergangenen Jahr haben Sie ein Buch mit dem Titel „1921“ veröffentlicht. Als wir uns zum ersten Mal trafen, erwähnten Sie, dass dieses Buch viel Kritik hervorgerufen hatte. Kritik kam von der Linken, aber auch von der Rechten. Was geschah zum Zeitpunkt des Erscheinens des Buches?
László Bernát Veszprémy: Ich möchte eines klarstellen: Gott sei Dank habe ich insgesamt recht positive Kritiken erhalten und das Buch wurde zum Bestseller in der Kategorie Geschichte auf der Website Bookline. Insgesamt wurde mein Buches positiv aufgenommen. Aber es gab ja auch natürlich Kritik von links und rechts. Auf der rechten Seite kritisierte mich Gábor Bencsik in der Wochenzeitung Demokrata. Auf der linken Seite kritisierte in der linksradikalen Zeitschrift Múltunk [Unsere Vergangenheit] ein Mann, der der liberalen Linken angehört, Ádám Gellért, der Jurist und kein Historiker ist. Ich denke, es ist eine sehr gute Sache, dass es heute in Ungarn Debatten gibt, Streit über unsere Vergangenheit, lebhafte Debatten von links und von rechts. Jeder hat sein eigenes Forum, es werden unterschiedliche Meinungen geäußert, und wir sind offen für diese Meinungen. Als konservativer Historiker konnte mein Buch von einem großen Mainstream-Verlag veröffentlicht werden. Das zeigt eine gesunde Arbeitsweise.
Ich denke, dass die Horthy-Zeit – sprechen wir nicht einmal vom Zweiten Weltkrieg oder von der Zeit des Holocausts, sondern nur von der Horthy-Zeit –, immer noch spaltet. Die Ungarn können immer noch hitzige und leidenschaftliche Debatten darüber führen, was sie über Horthy, den roten bzw. den weißen Terror denken. Manche sagen, das sei alles Vergangenheit, vergessen und diejenigen, für die es wichtig war, leben nicht mehr. Das stimmt überhaupt nicht.
Wenn ich in die Provinz fahre, um zu forschen oder Vorträge zu halten, stelle ich fest, dass es für die Menschen in Ödenburg (Sopron) oder Fünfkirchen (Pécs) zum Beispiel immer noch wichtig ist. Für sie ist es sehr konkret: Sie zeigen Fotos mit ihren Vätern, Großvätern darauf, Verwandte, die dabei waren, winken und noch immer einen Einfluss auf ihr Leben haben. Das Interesse an dieser Zeit ist immer noch sehr groß.
Yann Caspar: In Ihrem Buch sprechen Sie Punkte an, die schwerlich kritisiert werden können und wahrscheinlich alle politischen Richtungen stören werden. Zum Beispiel, dass es öffentliche Persönlichkeiten gab, die Károlyi oder die Ungarische Räterepublik – vielleicht nicht aktiv – unterstützt haben und dann treue Unterstützer des Horthy-Regimes waren.
László Bernát Veszprémy: Und nicht irgendwer, Horthy selbst bot seine Dienste dem Kriegsministerium unter Károlyi an, der ihn nicht haben wollte.
Yann Caspar: Ja. Wie erklären Sie sich dieses Phänomen? Wenn ich mich richtig erinnere, sagen Sie in Ihrem Buch, dass es aufgrund der geringen Größe Ungarns und aufgrund der Tatsache entstanden ist, dass seine politische Elite nicht vollständig ersetzt werden könne.
László Bernát Veszprémy: Beides, ja. Das gibt es sicherlich. Das wurde mir sehr klar, als ich über die Räterepublik und die Rote Garde (Vörös Őrség) recherchierte. Damals stieß ich auf interne Berichte, in denen sich die Kommunisten über das Fehlen einer echten Roten Garde auf dem Land beschwerten, wo die Königliche Gendarmerie (Magyar Királyi Csendőrség) einfach in Rote Garde umbenannt worden war und es keine Kommunisten in ihr gab. Dann stellte ich das Gleiche bei der deutschen Besatzung fest. Personen, die Nazigegner waren, behielten ihre Posten in der Verwaltung. Es war unmöglich, sie alle zu entlassen. Wir können aber auch über die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg sprechen. Bei meinen Recherchen zu den Volksgerichten wurde ich mit der Tatsache konfrontiert, dass einige Volksrichter manchmal nicht nur unter Horthy, sondern auch unter Szálasi Richter waren. Man muss also erstens feststellen, dass es nicht möglich ist, alle zu entlassen.
Zweitens gibt es die Kritik, dass es sich um Renegaten handelte, um Männer, die sich umgedreht haben. Es gab sicherlich einige, aber ich glaube nicht, dass dies auf die Mehrheit zutraf.
Man muss jedoch bedenken, dass die Tradition der ungarischen Rechten zu dieser Zeit bereits stark antiliberal und antikapitalistisch war und dass die Anti-Habsburg-Stimmen sehr stark waren. Tatsächlich hätte es für die damaligen rechtsgerichteten Ungarn anfangs sogar so aussehen können, als sei diese Asternrevolution von 1918 gar nicht so schlecht gewesen.
Auch wenn die Sozialdemokratie und die bürgerlichen Radikalen stark daran beteiligt waren, sagten sie sich, dass sie im Gegenzug die Habsburger loswerden und dem Marktkapitalismus ein Ende setzen könnten. Letzteres wurde von vielen als der Tod des ungarischen Volkes heraufbeschworen. In gewisser Weise bedeutete die Revolution auch das Ende des Liberalismus aus der Zeit des Dualismus, denn die Sozialdemokraten und Radikalen waren in vielerlei Hinsicht antiliberal. Zum Beispiel in Bezug auf die unternehmerische Freiheit, das Privateigentum oder die Rechte der Arbeitnehmer. In diesen Fragen vertraten sie zweifellos nicht den liberalen Standpunkt.
Yann Caspar: Sie haben den weißen Terror erwähnt. Heutzutage sprechen wir vielleicht nicht mehr so viel darüber wie über andere historische Ereignisse. Ich kenne übrigens viele Menschen, die unter dem Kommunismus in Ungarn gelebt haben, und sie erzählen mir oft, dass der weiße Terror damals in der Schule ein viel diskutiertes Thema war. Sie waren für dieses Thema wenig empfänglich und dachten leise: „Was ist dieser weiße Terror im Vergleich zu dem, was die Kommunisten im 20. Jahrhundert in Ungarn angerichtet haben?“ In Ihrem Buch zeichnen Sie nicht das am weitesten verbreitete Bild des weißen Terrors. Mir scheint, dass Sie vielmehr versuchen, die Stimmung einer ganzen Epoche zu schildern. Natürlich gab es während des weißen Terrors Gräueltaten gegen Juden, aber auch gegen andere Gruppen. Liege ich damit falsch? Worin genau bestand der weiße Terror?
László Bernát Veszprémy: Ich werde Sie ein wenig enttäuschen, denn ich werde von einer anderen Seite her beginnen. Zunächst einmal etwas, was sehr schwer zu begreifend ist: Schon vor dem Ersten Weltkrieg war Gewalt sehr präsent. In einem Ausmaß, das wir uns heute nicht mehr vorstellen können.
Es war durchaus üblich, über Gewalt und Krieg zu sprechen, die Gesellschaft in kriegerischen Begriffen oder biologischen Konzepten zu interpretieren. Dies wurde rechts und links getan. Dann zwischen dem Krieg und dem Zusammenbruch und danach während der Bürgerkriegssituation und des roten Terrors war der öffentliche Diskurs besonders von Gewalt geprägt. Man muss verstehen, dass sich das Land in einer Situation befand, die auf eine sehr starke Welle der Gewalt folgte.
Viele Kriegsveteranen waren von der Front als ausgebildete Mörder zurückgekehrt. Dies ist kein moralisches Werturteil, sondern eine Tatsache. Es gab also viele Männer im Land, die über große militärische Erfahrung verfügten.
Es ist auch wichtig zu beachten, dass die Behörden während der Asternrevolution sehr brutal und mit enormen Opferzahlen gegen Bauernrebellionen vorgingen. Auf diese Unterdrückung folgte der rote Terror, der ebenfalls viele Opfer forderte, dann die rumänische Besatzung, die wiederum eine extrem hohe Zahl von Toten forderte, über tausend, Massenmorde, Massaker, Pogrome, Vergewaltigungen, Plünderungen – ein völlig vergessenes Thema. Dann kam der weiße Terror. Ich will den weißen Terror nicht reinwaschen, aber man muss verstehen, dass er Teil einer Welle der Gewalt war. Zweitens muss man verstehen – und das haben Sie sehr gut zusammengefasst –, wie die damalige Stimmung war, die natürlich Antisemitismus beinhaltete – der weiße Terror hatte natürlich eine antisemitische Komponente – und auch eine Art Phobie gegen die Arbeiterklasse. Zu dieser Zeit war die Arbeiterklasse noch eine existierende und greifbare soziale Gruppe in Ungarn, und es gab auch Antipathien gegen sie. Es gab auch Antiserbismus, Anti-Slawismus in den südlichen Regionen oder Anti-Germanismus in Westungarn.
Der weiße Terror sollte nicht als hermetisch abgeschlossene Einheit gesehen werden, als etwas, das isoliert behandelt werden muss.
Die Serben begingen in dieser Zeit Gräueltaten, sehr brutale Gräueltaten, indem sie in der Branau (Baranya) weitaus brutalere Dinge taten als die ungarischen Truppen: Vergewaltigungen, Morde, Plünderungen, unvorstellbare Zerstörungen.
Yann Caspar: Erinnern wir uns daran, dass Fünfkirchen damals besetzt war …
László Bernát Veszprémy: Fünfkirchen war seit dem Ende des Krieges unter serbischer Besatzung, ja. Und wir dürfen die österreichische Gendarmerie nicht vergessen. Ich habe diesbezüglich noch keine Morde entdeckt, aber die Österreicher entführten ungarisch gesinnte Persönlichkeiten, Parlamentsmitglieder, und folterten sie auf österreichischem Staatsgebiet. Die österreichische Seite hat also auch Gräueltaten begangen. Man muss wissen, dass Ungarn 1921 noch nicht vollständig gebildet war, weder in Bezug auf seine Grenzen noch auf sein politisches System. Eine regelrechte Bürgerkriegssituation mit Unruhen an den Grenzen hatte sich aufgrund der Versuche, den König Karl IV. zurückzuholen, entwickelt. Ähnliche Gräueltaten gab es auch in Westungarn, aber auch die Ansprüche auf das Gebiet Branau-Frankenstadt (Baranya-Baja) und davor noch die serbische Besatzung. Zu dieser Zeit gab es also noch Unsicherheit, Chaos, Übergangssituationen und Gewalt in einigen Teilen des Landes.
Yann Caspar: Irgendwo in Ihrem Buch haben Sie geschrieben, dass neben dem Antisemitismus nur die antifranzösische Stimmung in dieser Zeit stärker war. Ich spreche natürlich nicht von physischer Gewalt, da es zu dieser Zeit praktisch keine Franzosen in Ungarn gab. Was haben Sie zu diesem Thema zu sagen?
László Bernát Veszprémy: Das hängt natürlich mit Trianon zusammen. Die beiden Länder standen sich im Ersten Weltkrieg gegenüber. Dann gab es viel antifranzösische Literatur, Veröffentlichungen und Presseartikel.
Es gehörte zum guten Ton, nicht nur die Franzosen, sondern auch den Westen im Allgemeinen und die Amerikanisierung, die bereits im Gange war, zu kritisieren.
Die Briten mochten die Ungarn, aber es wurde auch Kritik an ihnen geäußert. Die beliebteste Kritik war die an den Franzosen. Es gibt da diese kleine Anekdote aus einem Zeitungsartikel: Der ehemalige konterrevolutionäre Ministerpräsident István Friedrich harangiert das Publikum auf einer Kundgebung: „Und ich habe nicht einmal unseren größten Feind erwähnt“. Woraufhin die Menge anfängt, „Juden, Juden, raus!“ zu skandieren. Dann sagte der Redner: „Nein, nein, ich meinte die Franzosen“.
Yann Caspar: Aber Horthy als Person war deutschfeindlich, und eher frankophil und pro-britisch…
László Bernát Veszprémy: Die Persönlichkeit Horthys ist eine sehr interessante Frage. Sehr lange Zeit wurde er in der ungarischen Geschichtsliteratur als dummer und leicht beeinflussbarer Seemann beschrieben. Es wurde ignoriert, dass er polyglott, gebildet, so was wie ein Künstler bzw. und weit gereist war. Er war kein Mann, der nicht die hohe Kultur oder die hohe Politik kennengelernt hätte. Es ist sehr wichtig, dies in seiner Persönlichkeit zu sehen. Und es ist auch sehr wichtig zu sehen, dass er ein talentierter Politiker war, wenn man bedenkt, dass politisches Talent darin besteht, die Macht zu ergreifen und für eine sehr lange Zeit zu behalten. Viele Leute behaupten, dass er keine Ahnung von Politik hatte. Ich glaube nicht, dass das überhaupt stimmt. Wenn man sich ansieht, wie er die pro-habsburgischen Legitimisten und die habsburgfeindlichen Anhänger einer Wahlmonarchie gegeneinander ausspielte, wie er das prohabsburgische Lager glauben liess, er sei pro-Habsburg und würde Karl IV. zurückkehren lassen, und dann, wie er die Entente um Hilfe bat, indem er Erklärungen gegen die verschiedenen Restaurationen der Habsburger veröffentlichte.
Horthy ist also keineswegs ein untalentierter Politiker, sondern eigentlich das genaue Gegenteil. Dies ist kein moralisches Urteil meinerseits, sondern lediglich eine objektive Feststellung anhand der Quellen, dass er in der Politik sehr begabt war.
Yann Caspar: Machen wir nun einen Sprung um einige Jahrzehnte nach vorne. Seit 2010 hat sich die Wahrnehmung des Horthy-Regimes durch die politische Klasse eindeutig verändert – lasst uns nicht über 1944 sprechen, das würde zu weit führen. Der öffentliche Diskurs über das Horthy-Regime ist in den letzten Jahren positiver geworden. Positiver als vor 2010, das steht fest. Gleichzeitig ist die ungarische Regierung vielleicht die judenfreundlichste Regierung in ganz Europa und sogar die israelfreundlichste. Wie erklären Sie sich das?
László Bernát Veszprémy: Ich denke, man muss in Betracht ziehen, dass die westeuropäische Haltung gegenüber Israel keine faire, ausgewogene und rationale Haltung ist. Wenn Sie sich anschauen, wie oft Israel bei den Vereinten Nationen verurteilt wird, wie oft sich West- und Nordeuropa – ganz zu schweigen von den Ländern der Dritten Welt – bei diesen Verurteilungen einig sind und wie oft zum Beispiel der Iran, Nordkorea oder Venezuela verurteilt werden, dann sehen Sie ein großes Missverhältnis. Es gibt Länder, die ständig gegen Israel stimmen. Mit der Zeit schafft das eine Art Hexenjagd-Atmosphäre. Echte Diktaturen werden hingegen nicht kritisiert.
Die Haltung der ungarischen Regierung in der Außenpolitik ist pragmatisch und fair. Natürlich hat jedes Land das Recht, seine eigenen Entscheidungen souverän zu treffen, und Israel sollte daher genauso behandelt werden wie andere Länder. Ungarn hat einfach kein voreingenommenes Urteil über Israel, wie es viele Außenpolitiker in west- und nordeuropäischen Ländern haben mögen. Und natürlich müssen wir auch berücksichtigen, wie es die ungarischen Politiker und Führungskräfte wiederholt getan haben, dass Israel der Schlüssel zur Stabilität im Nahen Osten ist. Sollte Israel fallen, hätte dies sehr schwerwiegende Folgen für Europa.
Yann Caspar: In Ihrem Buch Einwanderung und Antisemitismus im Westen (ung. Migráció és antiszemitizmus Nyugaton), das ebenfalls Vorjahr erschienen ist, dokumentieren Sie gut, dass der Antisemitismus im Westen heute vor allem von den muslimischen Einwanderern ausgeht. Es ist klar, dass die Art von Antisemitismus, die man im 19. und 20. Jahrhundert erleben konnte, nicht mehr wirklich existiert. Sie haben eine neue Art von Antisemitismus analysiert. Die außereuropäische Einwanderung wird unseren Kontinent in den kommenden Jahren und Jahrzehnten vor enorme Herausforderungen stellen. Aber glauben Sie, dass es möglich ist, das Thema Islam mit dem Thema Einwanderung zu vermischen? Viele dieser Migranten werden aus Regionen kommen, die nicht muslimisch sind…
László Bernát Veszprémy: Man sollte darüber nachdenken, dass diese antisemitischen Stereotypen nicht nur unter muslimischen Arabern, sondern auch unter christlichen Arabern existieren. Diese Frage kann daher nicht einfach auf den Islam reduziert werden. Es gab Fälle, in denen christliche Araber Herkunft nach Europa kamen und dann die gleichen antisemitischen Stereotype zeigten wie muslimische Araber. Das ist eine Möglichkeit. Aber im Großen und Ganzen,
wenn wir die MENA-Region (Middle East and North Africa) nehmen, in der die vorherrschende Religion natürlich der Islam ist, und uns ihre demografischen Indikatoren anschauen, werden wir feststellen, dass die Bevölkerung dieser Region bis 2050 um das Äquivalent der heutigen europäischen Bevölkerung gewachsen sein wird.
Wir werden hier viel muslimische Einwanderung erleben. Selbst wenn wir sehr optimistisch sind und sagen, dass nur zehn Prozent dieser Menschen auswandern – 40 Millionen Menschen –, wird dies unvorhersehbare Folgen für Europa haben, sowohl in sozialer, kultureller als auch in politischer Hinsicht.
Yann Caspar: Sie haben kürzlich einen Artikel in der Zeitschrift American Conservative veröffentlicht, in dem Sie die Hypothese aufstellen, dass man sich in einigen Jahren an Viktor Orbán als einen liberalen Politiker erinnern wird. Warum ist das so? Weil viel radikalere Persönlichkeiten in Europa an die Macht kommen könnten. Übrigens schließen Sie Ihren Artikel mit der Bemerkung, dass das von Michel Houellebecq in seinem Roman Unterwerfung entworfene Szenario – ein Muslim an der Spitze Frankreichs – Wirklichkeit werden könnte. Fiktion oder Realität?
László Bernát Veszprémy: Ich denke, dass es möglich ist und dass es natürlich auf hoher Ebene politische Führer mit Migrationshintergrund geben wird. Dies kann auf klassische Weise beginnen: Es ist offensichtlich, dass jede Gemeinschaft ein gewisses Maß an politischer Repräsentation anstrebt. Eine Option ist, dass Muslime ihre eigenen Parteien gründen. Wir können ein Paradebeispiel dafür sehen, die Denk-Bewegung in den Niederlanden, die im Parlament vertreten ist. Sie ist keine entscheidende Partei, aber sie existiert, und in gewisser Weise ist sie das Beispiel für die erfolgreichste Einwandererpartei, die ihre Position bei mehreren Wahlterminen halten konnte. Diese Partei ist, wenn man sich ihr Programm anschaut, sehr links: Sie vertritt Woke-Positionen, sie erwägt eine kulturelle Guerilla und ist natürlich antisemitisch. Sie positioniert sich gegen das „weiße Privileg“ in den Niederlanden und protestiert gegen „weiße“ Straßennamen. Das ist ein Beispiel für einen politischen Trend.
Meiner Meinung nach gibt es eine noch ausgereiftere Strategie. Dabei handelt es sich um die Übernahme von traditionellen linken oder grünen Parteien. Ein gutes Beispiel dafür ist, was mit der britischen Arbeitspartei (Labour) passiert, deren Vorsitzender für sehr lange Zeit eine Person mit britischen Wurzeln war, Jeremy Corbyn. Um ihn herum gab es Politiker aus sehr muslimischen Kreisen oder aus der Dritten Welt, die einen äußerst extremen Antisemitismus an den Tag legten. Ein weiteres gutes Beispiel ist Ilhan Omar in den USA, die eine sehr erfolgreiche Politikerin ist, die mehrfach wiedergewählt wurde.
Die Rolle der Frau ist bei dieser Art von politischer Strategie sehr wichtig. Ab einer bestimmten Schwelle muss dieser Widerspruch von den linken Parteien aufgelöst werden: Muslimische Kandidaten, Kandidaten mit arabischem Migrationshintergrund vertreten sehr häufig keine progressiven Werte. Egal, ob es sich dabei um die Rechte von Homosexuellen, Judenfreundlkichkeit, Meinungsfreiheit, Demokratie oder die Rechte von Transgendern handelt. Sie stellen sehr oft eine Reaktion der Hardliner auf diese Themen dar. Wie kann man dieses Problem überwinden? Hier kommen Persönlichkeiten wie Ihlan Omar ins Spiel, die einerseits eine Frau ist, andererseits eine progressive Rhetorik entfaltet, aus einem Migrantenhintergrund stammt und gleichzeitig stolz ihren islamischen Glauben umarmt. Es sind diese Art von Figuren, die in Zukunft für die westliche Linke sehr wichtig werden. Muslimische Frauen. Es gibt Studien zu diesem Thema bei bestimmten Wahlen: Linke Parteien stellen absichtlich muslimische Frauen auf, weil sie ihre Weiblichkeit als feministisches Programm verkaufen können, während Wähler mit Migrationshintergrund empfänglich dafür sind, dass diese Kandidatinnen Musliminnen sind.
Yann Caspar: Glauben Sie, dass dieser Trend auch Mitteleuropa erreichen kann? Stellt Mitteleuropa ein anderes Modell als Westeuropa dar oder hinkt es nur zehn oder fünfzehn Jahre hinterher?
László Bernát Veszprémy: Ich glaube nicht, dass es in Mitteleuropa eine sehr große muslimische Einwanderung geben wird.
Meiner Meinung nach werden sich die ost- und mitteleuropäischen Nationen früher oder später alle bis zu einem gewissen Grad hinter das ungarische Modell stellen.
Wir haben sehr wohl verstanden, was in Westeuropa vor sich geht, und wir wollen diesen Weg nicht gehen. Der Fall der Slowakei zeigt dies sehr gut: Sehr lange Zeit war es die Linke, die gegen die Einwanderung war, dann wurde sie von der Rechten abgelöst, wobei letztere ebenso wenig Einwanderer ins Land ließ. Es war also egal, wer in der Slowakei regierte, alle lehnten diesen Extremismus ab. Ich glaube überhaupt nicht, dass die Idee, unsere Gesellschaft zu ersetzen, in Ost- und Mitteleuropa populär ist.