Von Thibaud Cassel.
Mitteleuropa – Der wirtschaftliche Wettbewerb stellt zwar Europa dem Rest der Welt gegenüber, aber vor allem die europäischen Ländern einander gegenüber. Der politische Streit über die Migrantenquoten hat neulich eine der wirtschaftlichen Spannungen kristallisiert, die den Kontinent durchstreifen: einige Vorteile Mitteleuropas im Vergleich zu Westeuropa sowie die Erheblichkeit der Verteilung der europäischen Strukturfonds.
In diesem Artikel sollen die europäischen Wechselbeziehungen aufgedröselt sowie die durchgeführten wirtschaftlichen und politischen Überlegungen analysiert werden, um möglichst manche Perspektiven ersichtlich zu machen.
I. Der Zusammenbruch des Ostblocks
1. In den 1990ern: wirtschaftlicher Wandel oder Zivilisationswandel?
Der IWF betrachtet, dass China im Jahr 1978 zur kapitalistischen Wirtschaft übergegangen ist, bzw. Vietnam im Jahr 1986, aber der gleiche IWF berücksichtigt nicht die Perestrojka 1986 für die Sowjetunion, und auch nicht das Jahr 1982 für Polen, als der Ausnahmezustand erklärt und gleichzeitig wirtschaftliche Reformen eingeleitet wurden, und auch nicht 1968 für Ungarn, als die ersten wirtschaftlichen Veränderungen entschieden wurden: für die Länder des Warschauer Pakts merkt man sich allein das Datum des Zusammenbruchs. (Der Kommunismus hatte zwar seine Satelliten gleichgeschaltet: die Tschechoslowakei, die 10. Industrienation in der Zwischenkriegszeit, befand sich 1990 nur noch auf dem 40. Rang). Aber diese Wahl hat zur Konsequenz, über die sozialistischen Regimen hinaus, die Länder selbst sowie die Behauptung ihrer wirtschaftlichen Interessen zu delegitimieren. Sie sollten allein durch die neo-liberalen Prinzipien erzogen werden, die in den USA unter Ronald Reagan bzw. in der EWG mit der Verabschiedung der Einheitlichen Akte (1986) triumphierten.
Es ist mit diesem Ziel, dass die Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBRD) 1990 gegründet wurde. Ihr Sitz befindet sich in London und ihr erster Vorsitzender war kein anderer als Jacques Attali. Die Rede François Mitterands anläßlich der Eröffnung der Bank am 15. April 1991 legt in ganz hervorragender Weise die unterschiedlichen Überlegungen am Werk in diesem Projekt und ihre aktuellen Konsequenzen dar.
Die mit einer Emphase à la Victor Hugo proklamierte wiedergefundene Einheit der europäischen Familie stellt natürlich den Eckstein dieser Rede dar. Deren zwei andere wichtige Aspekte ergänzen einander: die Marktwirtschaft und die Meinungsdemokratie, wie die beiden Perspektiven eines gleichen Horizonts des „Endes der Geschichte“: die europäische Zivilisation war ans Ziel angekommen.
Man stellt fest, wie sehr das Joch der EU 2018 schon wirkt, während die 12 EWG-Länder den Maastrichter Vertrag noch nicht angenommen hatten…
2. Ausländisches Kapital und Schwellenmärkte: von der Komplementarität zur Veinnahmung
Am Anfang der 1990er Jahre sehen die reifen Volkswirtschaften im Westen diese sogenannten „Schwellenländer“ als einen Glücksfall, denn sie sind nur Schwellenmärkte und eignen sich für eine beinahe „koloniale“ Erschließung: Aufnahmefähigkeit für die Produkte aus den reichen Ländern (vor allem von ihren multinationalen Konzernen) und Benutzung ihrer Arbeitskräfte um die Gewinne eben dieser Konzerne zu erhöhen (Verlagerung). Man überließ diesen Ländern also nicht die Wahl ihrer Rolle. Sie wurden desindustrialisiert und reindustrialisiert, um sich nach Maß an die Bedürfnisse des westeuropäischen Kapitalismus anzupassen.
Man mißt die Stufe des Kolonialismus nach der politischen Unabhängigkeit des Schwellenmarkts; und der ganze Unterschied zwischen den ost- und mitteleuropäischen Ländern und China ist, dass letzteres selbst die Regeln seines wirtschaftlichen Überganges festgelegt hat, während erstere keinen weiteren Schutz hatten, als das Entgegenkommen der sozialistischen Eliten, die von einer Ideologie zur andern übergingen, ohne sich darüber zu kümmern, ihre nationalen Interessen zu verteidigen, da sie daran gewöhnt sind, ausländischen Interessen zu dienen. So nennt man also auf Ungarisch den Regimewechsel wortwörtlich „Gangsteraustausch“.
Die Schwäche der Staaten, der Erstarrungseffekt eines unerwarteten Zusammenbruchs sowie der brennende Wunsch in die europäische Familie zurückzukommen stimmten in den ost- und mitteleuropäischen Ländern überein, um den westlichen, und vor allem deutschen, Investoren nachzugeben. Wie Thomas Pikkety auf seinem Blog daran erinnert, „sind sie allmählich zu den Besitzern eines beträchtlichen Teils des Kapitals der ehemaligen Ostblockländer geworden: ungefähr ein Viertel, wenn man den gesamten Kapitalbestand (inklusive Immobilien) betrachtet, und über die Hälfte, wenn man nur den Firmenbesitz betrachtet (und noch mehr, was die großen Firmen betrifft).“
II. „Nutznießender Osten“ oder „räuberischer Westen“?
1. EFRE, ESF, ELER: wozu sind die Strukturfonds der Europäischen Union nützlich?
Die Strukturfonds fallen unter die gleiche Logik der „Entwicklung“ wie die EBRD. Anders ist vorerst die Herkunft der Gelder, denn diese kommen vor allem aus der Tasche der westeuropäischen Steuerzahler und nicht von Aktionären. Es sind also keine Anleihen, sondern Werkzeuge, die von der EU eingerichtet wurden, um aus Europa einen zusammenhängenden Wirtschaftsraum zu machen und um daraus gegenseitige Vorteile zu gewinnen. Andererseits, in diesem gleichen Sinne der Zusammenarbeit, verlangt die Kofinanzierung der Projekte eine Teilnahme der Empfängerländer.
Aus rein wirtschaftlicher Sicht sind die Strukturfonds der institutionelle Aspekt der liberalen Doppellogik: Entwicklung des Markts und der für ihre maximale Entfaltung meist angepaßten Gesellschaft (die sogenannte „offene“ Gesellschaft). Diese doppelte Entwicklung geschieht unter der Leitung des Rechts.
2. Eine für das westliche Kapital profitable Bilanz
Die Bilanz zwischen den eingehenden öffentlichen Transferzahlungen und den ausgehenden Gewinnflüssen ist für Mitteleuropa deutlich defizitär. Das beweist auch noch Thomas Pikkety auf seinem Blog. „Die heute an die Eigentümer der Unternehmen ausbezahlten Gewinnflüsse überragen bei weitem die europäischen Transferzahlungen in der anderen Richtung.“ Die Strukturfonds sind also keine Almosen, sondern eine saftige Investition: „ein Großteil der aus dem osteuropäischen Kapital stammenden hohen Einkommen wird ins Ausland ausbezahlt“.
Der Wirtschaftswissenschaftler erklärt seine Graphik wie folgt: „Zwischen 2010 und 2016 entsprachen die jährlich ausgehenden Gewinn- bzw. Eigentumseinkommenflüsse (im Netto der entsprechenden eingehenden Flüsse) durchschnittlich 4,7% des Bruttoinlandsprodukts in Polen, 7,2% in Ungarn, 7,6% in Tschechien und 4,2% in der Slowakei und minderten entsprechend das Nationaleinkommen dieser Länder.
Im Vergleich waren während der gleichen Periode die jährlichen Nettotransferzahlungen der EU – sprich die Differenz zwischen den insgesamt empfangenen Geldern und den Beiträgen zum EU-Haushalt – wesentlich geringer: 2,7% des BIP in Polen, 4,0% in Ungarn, 1,9% in Tschechien und 2,2% in der Slowakei (z.E. Frankreich, Deutschland und Großbritannien zahlen einen Nettobeitrag an die EU iHv ca. 0,3%-0,4% ihres BIP).“
3. Eine schonungslose Wirtschaftslogik
Von der Fiskaloptimierung…
Der Trend ist übrigens nicht erfreulich. Die multinationalen Konzerne organisieren sich um immer weniger Steuer zu zahlen, wie die Visegrád Post dies neulich im Einzelnen erklärte. Während Rumänien letztes Jahr einen BIP-Wachstum von 7% verzeichnete… schrumpften die Fiskaleinnahmen aus der Körperschaftsteuer um 7%. Die Gewinne dieses legalen Betrugs addieren sich also zu den schon riesigen Überschüssen, die die niedrigen Kosten der Arbeitskraft herauszuholen ermöglichen, sowohl in Rumänien wie in den anderen ost- und mitteleuropäischen Ländern.
…bis zur Veinnahmung der Vertriebsnetze
Einen weiteren Aspekt der wirtschaftlichen Unterwerfung dieser Region stellt der Großhandel dar. Die in Lettland basierte NGO Impact 2040, die sich zum Ziel gesetzt hat, die Verbraucherrechte zu verteidigen, berichtete im Juli 2017 über die problematische Nutzung der Darlehen der EBRD, deren erster Vorsitzender Jacques Attali gewesen ist.
Es ist die Nutzung der EBRD-Fonds, die in Frage gestellt wird; diese Fonds sind vorwiegend öffentliche, denn die EU, die Europäische Investitionsbank (EIB) sowie die Mitgliedsstaaten stellen insgesamt 62,8% des Kapitals dieser Bank dar. Die NGO hat Beiträge in Höhe von mehreren hundert Millionen Euro festgestellt, de dazu dienten, eine bekannte Handelskette – in dem Fall Lidl – in den ost- und mitteleuropäischen Ländern zu entwickeln. Dank dieser öffentlichen Finanzierung kündigte Lidl 2016 die Eröffnung von 100 neuen Filialen in Rumänien in einem einzigen Jahr an – zusätzlich zu den schon bestehenden 200 Filialen.
Dies führt in manchen Regionen zu einer Monopolsituation und die Konsequenzen lassen nicht auf sich warten:
- Ausschluß der heimischen Produkte – auch wenn sie besserer Qualität sind – ausschließlich zugunsten der Produkte dieser Marke, u.a. industriell erzeugte Lebensmittel aus Westeuropa (der deutsche landwirtschaftliche Überschuß läßt sich auch so erklären).
- Verlustverkäufe um die heimischen Konkurrenten im Kleinhandel zu eliminieren, deren Produkte besserer Qualität sind, während man über öffentliche Gelder verfügt.
4. Die westliche Mittelschicht gehört auch zu den Verlierern
Wie wir es gesehen haben, befindet sich der Antagonismus nicht zwischen den Volkswirtschaften aus Mittel- und Westeuropa sondern zwischen den Erzeugern – wo sie auch seien – und denen, die den maximalen Gewinn daraus ziehen. Aber am Ende der Kette ist der westeuropäische Arbeiter der letzte Verlierer, denn durch seine Steuern trägt er deutlich den europäischen Fonds bei. Die durch diesen Geldsegen ermöglichten Investitionen entwickeln einen Markt, der ihm nichts bringt! In der Tat kommen die von einem deutschen oder einem französischen Unternehmen abgeworfenen Gewinne nicht Deutschland oder Frankreich zugute, sondern den Aktionären und sonstigen happy few der globalisierten Wirtschaft. Wenn ein Großteil der deutschen Gesellschaft sich noch gut aus der Affäre ziehen kann, verliert das romanische Europa – darunter Frankreich – auf beiden Seiten: es trägt zur Ausbeutung (oder Erschließung) von Ländern bei, von denen es keinen Gewinn erhält. Die entsandten Arbeitnehmer stellen den symetrischen Prozeß dieser gleichen wirtschaftlichen Tatsache dar. Es ist die unausweichliche Konsequenz des freien Handels der Produktionsfaktoren: das Kapital geht dorthin, wo die Gewinne am höchsten sind.
III. Wirtschaft gegen Politik
1. Wirtschaftliche Unterlegenheit und politische Isonomie
Die wirtschaftliche Tatsache ist klar: hundert Millionen ost- und mitteleuropäische Bürger sind Melkkühe der deutschen Wirtschaft bzw. der Pfand ihrer Vorherrschaft auf dem Kontinent und ihrer globalen Spannweite. Mitteleuropa hat noch weder das Gewicht noch die Kraft, die große Frage der Erhöhung der Gehälter und des Lebensstandards zu erörtern. Über eine Koordination der unterschiedlichen Länder der Region hinaus kann diese Frage ohne die volle Zusammenarbeit ihrer jeweiligen Zentralbank nicht gelöst werden, deren Unabhängigkeit gegenüber der politischen Macht eine grundlegende Behinderung darstellt.
Aber die diplomatischen Erfolge der Visegrád-Gruppe sowie die tatsächliche Aufheiterung, die man seit mehreren Jahren in dieser Region feststellen kann, beweisen, dass die wirtschaftliche Unterwerfung weder vollständig noch überwältigend ist. Weit davon entfernt ihr politisches Gewicht auf der Grundlage ihrer niedrigen Gehälter zu messen, benutzt die Visegrád-Gruppe ihren Bekanntheitsgrad um ihre entscheidenden politischen Interessen zu verteidigen.
Von diesem Standpunkt aus steht Deutschland nicht untergeordneten Volkswirtschaften sondern historischen Nationen gegenüber. Und ein solcher Anspruch beruht sowohl auf die mittelalterliche Vergangenheit wie auch auf den europäischen politischen Rahmen.
2. Gewicht der Geschichte gegen Gewicht des Geldes
Die mitteleuropäischen Länder bewerten ein Übel, indem sie es mit einem anderen vergleichen: sie haben die russische Besatzung erlebt und wollen sie um keinen Preis wieder; sie wissen, dass die osmanische Macht nie weit entfernt ist und befürchten sie noch mehr. Dagegen gehören sie auf Gedeih und Verderb dem westlichen Christentum an, dessen Ostflanke sie seit über 1000 Jahren bilden. Und dieses Kulturschicksal übertrifft die Wirtschaftslage.
Dieses gemeinsame Erbe, das gemäß den V4-Ländern die EU rechtfertigt und deren Zukunft bestimmen soll, scheint Deutschland vergessen zu haben. Dieses hat sich momentan dazu soweit herabgewürdigt, keine andere Dimension zu betrachten als die wirtschaftliche, dass es in einem „Migranten“ nur den potientiellen Wirtschaftsfaktor sieht. Die derzeitige deutsche Regierung versteht Mitteleuropa nicht, weil jenes sich zu dem bekennt, was sie zu vergessen versucht.
In den Augen Mitteleuropas ist wirtschaftlicher Reichtum nicht die größte Ehre bzw. ist eine relative Armut auch nicht der größte Verfall. Diese Länder halten nicht nur in Bezug auf die Migrations- bzw. Gesellschaftsfragen durch, sondern benutzen soweit möglich ihren wirtschaftlichen Spielraum.
3. Die Schaffung eines nationalen Wirtschaftsmodells
Seit seinem ersten Mandat als Ministerpräsident 1998-2002 zeigte Viktor Orbán einen ausdrücklichen Willen, einen ungarischen Kapitalismus aufzubauen, indem er sich auf eine unternehmerische bzw. den nationalen Werten treue Mittelschicht stützte. „Der Volumen der öffentlichen Baustellen wurde merklich erhöht. Infolge der öffentlichen Investitionen sind 10.000 bis 15.000 neue Häuser gebaut und 46.000 Arbeitsplätze geschaffen worden. Im Jahr 2002 war die Baubranche um 23% gewachsen. Die heimischen Unternehmen wurden im Rahmen der Ausschreibungen deutlich bevorzugt, was sich für die Länder negativ auswirkte, deren Unternehmen in Ungarn arbeiteten, vor allem für Österreich. Als die österreichischen Politiker nachfragten, wann ihre Unternehmen wieder am Straßenbau in Ungarn würden teilnehmen können, erwiderte Orbán ganz offen, dass dies möglich sein würde, sobald ungarische Unternehmen an Bauprojekten in Österreich würden teilnehmen können.“ (I. Janke, In Forward ! The History of the Hungarian Prime Minister Viktor Orbán, S. 179)
Seit seiner Rückkehr 2010 an die Macht nach einigen Jahren in der Opposition hat Viktor Orbán nicht aufgehört, die Vorteile der nationalen Wirtschaft zu verstärken und auszubauen. Das ist übrigens der Hauptgrund für seinen Streit mit Brüssel. Im Jahr 2013 wurde die Politik der Orbán-Regierung im Tavares-Bericht unter dem Vorwand von leichten „Verstößen gegen die Rechtsstaatlichkeit“ angegriffen, aber im Grunde ist es der günstige Rahmen für die Verteidigung der nationalen Interessen, den Brüssel im Visier hatte. Nach acht Jahren stetiger Bemühungen durfte sich Orbán am 18. Februar selbst loben: „Wir haben ungarische öffentliche Dienstleistungsunternehmen, und die Familien zahlen also nicht die Gewinne internationaler Konzerne durch die Rechnungen der öffentlichen Dienste“ (Rede zur Lage der Nation – 2018). Dies vergleiche man mit der Abtretung durch den französischen Staat der mit öffentlichen Geldern gebauten Autobahnen an internationale Konzerne. Es ist ein Staat, und nicht Brüssel, der in beiden Fällen entscheidet, ob er die Verbraucher gegen die Konzerne oder die Konzerne gegen die Verbraucher verteidigt.
Diese nationale Entschlossenheit bietet auch den Vorteil, den Kampfgeist der politischen Entscheidungsträger aufrechtzuerhalten. Einem Journalisten gegenüber, der ihn am 7. Dezember über den Streit in Bezug auf die europäischen Fonds und die Migrantenquoten befragte, fegte Orbán diese Erpressung vom Tisch: „Glauben sie, dass wir für Geld unsere Freiheit aufgegeben haben?“
Ungarn stellte den ersten Versuch einer nationalen Rückübernahme im Rahmen der EU dar. 2015 hat der PiS-Wahlsieg Polen auf den gleichen Weg geführt, und das infolge der Wahlen vom Herbst 2017 von Andrej Babiš geführte Tschechien bestätigt diese gleichzeitig nationale und europäische Dynamik.
IV. Das geteilte Europa: zwei unsichere Situationen
1. Geringere Integration auf EU-Ebene
Mit der Ausnahme der Slowakei haben sich die Länder der Visegrád-Gruppe noch nicht der Eurozone angeschlossen. Die Währung ist aber das unverzichtbare Instrument für eine nationale Wirtschaftspolitik. Der Wechselkurs ermöglicht ihnen die Wettbewerbsfähigkeit aufrechtzuerhalten, die der Schlüssel zum Erfolg ist, und ihnen bleibt der Druck erspart, den die Europäische Zentralbank so mächtig auf jede Regierung des Eurolands ausübt. So erklärte es vor kurzem der polnische Ministerpräsident: „Wir kommen erst eben aus dem Kommunismus heraus und unsere enorme Abhängigkeit vom ausländischen Kapital, die uns ein vor über einem Vierteljahrhundert gewähltes Wirtschaftsmodell aufgezwungen hat, hat zur Konsequenz, daß wir mit ziemlich anderen Herausforderungen konfrontiert werden als die Länder vom Süden oder vom Norden der Eurozone. Wenn die Struktur unserer Wirtschaft bzw. unseres verfügbaren Einkommens pro Einwohner ähnlich wird wie in den Niederlanden, in Österreich bzw. in Belgien, dann werden wir über den Euro reden können.“
2. Unbehaglichkeit und Lebensfähigkeit
Am Anfang der 1990er Jahre besaßen Frankreich bzw. Italien und in geringerem Ausmaß auch Spanien eine reife durch hohe Gehälter und eine gesättigte Nachfrage gekennzeichnete Volkswirtschaft: das Interesse der multinationalen Konzerne war also ihre Gewinne woanders zu investieren, um neue Märkte zu entwickeln, woraus man neue Gewinne herausholen könne. François Mitterrand dachte vielleicht daran, anhand der EBRD Gegengewichte gegen die deutsche Macht in Ost- und Mitteleuropa zu schaffen. Aber es ist genau das Gegenteil, das geschehen ist. Und seit den 1990er Jahren hat es Frankreich nicht geschafft, die Zerschlagung Jugoslawiens zu verhindern, das ein solches Gegengewicht darstellte.
Heute, wenn Mitteleuropa sich mit der germanischen Welt in einer Beziehung bemüht, die es als für beide Seiten gewinnbringend beurteilt, ist das Defizit für Frankreich, Italien, Spanien und Griechenland deutlicher. Auch hier spielt die Frage des Euro eine zentrale Rolle. Wie der Wirtschaftswissenschaftler Charles Gave es schon vor der Einführung der Einheitswährung voraussagte, „der Euro wird zu zu vielen Häusern in Spanien, zu vielen Werken in Deutschland und zu vielen Beamten in Frankreich führen“. Und so beobachtet man, dass die Situation in Mitteleuropa unbequem ist, und dass diejenige des romanischen Europa nicht besser ist.
V. Ein mitteleuropäisches Modell?
1. Wofür steht die föderale Option?
Die strukturellen Defizite unserer Länder gegenüber dem gewaligen Überschuß der deutschen Handelsbilanz verurteilen die Eurozone zum Implodieren, außer man würde das Euroland völlig föderalisieren und die wirtschaftliche Spezialisierung des Kontinents vollenden, was aus Deutschland eine Riesenfabrik machen würde, wo Millionen von Italienern, Franzosen und Spaniern arbeiten würden. Die Früchte ihrer Arbeit würde man anschließend in ihre geschädigten Länder transferiert, so wie die verlassene französische Provinz auch nur durch die Almosen aus Paris überlebt: diese „Verelendung“ von ganzen Nationen ist genauso ungesund wie absurd. Man wirft ganze Länder in eine tödliche Erschlafung, negiert Jahrhunderte einer glorreichen Geschichte und verhöhnt sogar die Würde der Völker, um das Abenteuer der hellen Köpfe zu rechtfertigen, die den Euro erfunden haben.
Es ist jedoch wohl die Option der Flucht nach vorne, die – auf unterschiedlichen Weisen geschminkt – allein zugelassen wird. Die schmalzigste davon ist diejenige der linken Freidenker, die meinen, das Geld würde alle Probleme lösen: man solle einfach zahlen. Aber der Mythos der Umverteilung wird bei ihnen so mit Demokratie und Dialog schmackhaft gemacht, dass man glaube, durch einen politischen Status die Menschenwürde zurückerhalten zu können, die man abgetreten hat, als man zum Hilfeempfänger wurde. Die Früchte der so verteilten Produktivität würden aber die Probleme bloß decken und gären lassen, während die Konkurrenz der Flexibelsten sich erbarmungslos bis zur nächsten Krise fortsetzen würde.
Man merke, dass die Anhänger dieser Linie den Protektionismus befürchten, weil dieser die Pandorabüchse der Vergeltungsmaßnahmen öffnen würde. Aber wenn man mehr Schlechtes von den Vergeltungsmaßnahmen anderer erwartet, als Gutes von dem, was man selbst aufbauen kann, so schätzt man doch wenig die eigene Arbeit und überläßt man sich dem Außen so wie der Vorsehung. Aus diesem Blickwinkel ist es moralisch blamabel, aber politisch ist es genauso absurd, seine Interessen nicht zu verteidigen, bloß weil dies einen Preis habe.
2. Entwurf einer anderen europäischen Wirtschaft
Genau da ist es, wo Ungarn – das übrigens loyal zu seiner Mitgliedschaft in der Europäischen Union steht – uns eine weitere Lektion erteilen kann. Es ist in der Tat von Grund auf, dass Viktor Orbán ein starkes Ungarn mit dynamischen Städten und Regionen verteidigt, die wiederum durch engagierte Bürger und Familien stark sind. Diesen guten Bürger nennt auf Ungarisch „Polgár“, und die Partei Orbáns hat einen vollkommenen politischen Begriff daraus gemacht, den sie seit der Mitte der 1990er Jahre verbreitet hat. „Der Polgár ist ein Bürger, der sich pflichtbewußt investiert, der die Geschichte und die Traditionen seines Landes kennt, der der Stelle bewußt ist, die er in der Gesellschaft innehat, der Eigentümer ist, eine Familie aufbaut und die Achtung seiner Nachbarn genießt“ (id., S. 156). Wir stehen da wohl im völligen Widerspruch zur vorhin beschriebenen Untergangsstimmung, und diese Perspektive scheint uns das Ferment dessen zu sein, was am besten für alle Länder Europas geschehen kann.
Einem so hegemonischen und so unsinnigen karolingischen Kern gegenüber wären die romanischen Länder und Mitteleuropa gut beraten, sich zu verständigen, um „Brüssel zu stoppen“ und die Spezialisierung der europäischen Volkswirtschaften unter dem Druck einer mehr entfremdenden als belebenden Konkurrenz abzulehnen. Während die kulturelle Einheit des Kontinents sich durch die Nationen ausdrückt, statt gegen sie, so entwickeln sich auch die Komplementarität und die europäischen Partnerschaften auf der Basis von soliden nationalen Volkswirtschaften, die ihre Kraft aus ihrem eigenen heimischen Dynamismus ziehen.