Von Jiři Hanuš, Professor der Geschichte an der Masaryk-Universität und Mitglied der Leitung des Instituts Pravý Břeh.
Tschechien – Obwohl unsere kleine Nation 1918 ihre Souveränität erlangte, entglitt diese aus unseren Händen aufgrund von historischen Erschütterungen im Laufe des 20. Jahrhunderts. Besonders im Februar 1948 verlor die Tschechoslowakei ihre Unabhängigkeit oder eher behielt diese als eine Fassade während sie dahinter zu einem Vassal der Sowjetunion wurde. Unser Staat akzeptierte damals alles was für die brutalsten Kolonien in Afrika und Asien typisch war, während die Sowjetunion sämtliche Ambitionen der Kolonialmächte in der modernen Zeit übertraf. Unsere Souveränität wäre wohl 1989 restauriert worden. Es war das Ergebnis der Samtenen Revolution, aber es ist außer Frage, dass die Souveränität für die Leute in dieser Zeit nicht weniger bedeutend war. Es ist kein Zufall, dass die Tschechen das Jahr 1989 in Verbindung mit dem Jahr 1918 nennen, und zwar als zwei Schlüsselreferenzen für die Restaurierung unserer Souveränität.
Milan Kundera, einer der berühmtesten tschechischen Schriftsteller, veröffentlichte am 1. August 1968 ein wichtiges Essay. Dessen Titel war „Malý a velký“ (das kleine und das grosse) und argumentierte ironischerweise gegen den offiziell beförderten Glauben an die gegenseitige Gleichheit, Brüderlichkeit und ewige Freundschaft zwischen der kleinen Tschechoslowakei und der großen Sowjetunion. Der Autor widerlegte auf glaubwürdiger Weise die sinnlose Behauptung der Gleichheit, an die die kommunistische Nomenklatura glaubte. Er schrieb auch die folgenden Sätze: „Für eine kleine Nation ist die Frage des Seins und Nichtseins immer offen. Souveränität bedeutet für sie ewig Anstrengung, Pflicht und Kampf. Nur die Nation, die leidenschaftlich nach ihrer Art, nach ihrer eigenen Weise zu leben wünscht, nur eine solche stolze Nation, für die nur ein unabhängiges Leben es wert ist zu leben, verdient zu leben und zu sein.“
Übersieht man irgendwie das Pathetische in Kunderas Worten, wie kommt es dann, dass 29 Jahre nach der Samtenen Revolution seine Worte so relevant klingen? Der Grund dafür ist, dass die Tschechische Republik sich leider in einer ähnlichen Situation befindet wie die Tschechoslowakei vor 50 Jahren. Nein, ich möchte nicht sagen, dass die Geschichte sich wiederhole, dass die Tschechische Republik die heutige Tschechoslowakei bzw. dass die Europäische Union die heutige Sowjetunion sei. Denn freilich sind sie es nicht. Und doch gibt es Ähnlichkeiten, die ernst genommen werden müssen. Wir sollten die Europäische Union nicht als den Gipfel der sozialen Entwicklung betrachten. Wir sollten nicht vergessen, dass sie bloß ein politischer und wirtschaftlicher Verein ist, der sowohl gute wie auch schlechte Entscheidungen treffen kann. Wie jede Institution kann sie gedeihen oder untergehen. Dabei ist es wesentlich, welche Ideologie dieser Verein teilt, sei diese nun konservativ-liberal oder sozialistisch, denn dies habe praktische Konsequenzen. Die derzeitige Situation einer obligatorischen Zentralisierung zusammen mit linken Agenden bietet nicht viel Hoffnung für die Zukunft.
Eine kleine Nation sollte schätzen, was Kundera geschrieben hat; wir sollten es als unser Mantra wiederholen: morgens, mittags und abends. Unsere Gesetzgeber sollten jede Sitzung des Parlaments damit beginnen und beenden, solange das Parlament noch frei sei. Souveränität ist das Schlüsselwort, woran wir denken müssen und das wir vollbringen brauchen. Zweifellos wird dies in naher Zukunft schwierig sein, weil wir mit dem Vertrag von Lissabon einen Teil unserer Souveränität aufgegeben haben, wie leider auch mehrmals im Laufe des vorigen Jahrhunderts.
Deswegen ist es notwendig, auf einen nationalen politischen Konsens zu pochen, als Opposition zum derzeitigen europäischen ideologischen Mainstream, der durch die neuliche Migrantenkrise sehr wohl deutlich wurde. Diese Position ist extrem schwierig zu erklären: Wir sind nicht gegen Solidarität, sondern gegen ein falsches Verständnis von Solidarität. Wir sind nicht dagegen, das Problem zu lösen, sondern dagegen, die Probleme an andere Orte zu exportieren. Und wenn wir wahrlich ein souveräner Staat sind, dann haben wir das Recht zu entscheiden, was auf unserem Gebiet geschehen soll.
Nichtsdestotrotz kann das Bewusstsein der Bedeutung der nationalen Souveränität nicht befohlen werden. Die Nationen wurden nicht geboren, weil jemand es ihnen so sagte, sondern als das Volk anfing, das eigene Land zu lieben und deswegen für dieses Land zu arbeiten und sogar zu leiden. Jederzeit, wenn ich anfange, darüber zu zweifeln, lese ich den letzten Brief von Milada Horáková aus dem kommunistischen Gefängnis, bevor sie exekutiert wurde: „Alles wurde im Schmerz geboren; für alles muss man zahlen. Wenn mein Schicksal der Dünger ist, den das Land so sehr braucht, so war es nicht umsonst. Ihr wisst am besten, wie sehr ich dieses Teil der Erde liebte, wo sich mein Land befindet.“
Ich bin nicht so naiv zu denken, dass die meisten Leute gewillt seien zu lernen. Trotzdem ist es möglich aus der Vergangenheit zu lernen, zumindest theoretisch, aber es ist intellektuell anstrengend und benötigt Aufmerksamkeit und Bescheidenheit. Es ist nicht wahr, dass die Geschichte sich automatisch wiederhole, aber es ist auch nicht wahr, dass die Vergangenheit keine Verbindung mit der Gegenwart habe. Die Wahrheit befindet sich irgendwo in der Mitte. Übrigens ist das nicht bloß eine Frage der Wahrheit sondern auch des Willens, diese vollzubringen. Wie lautete also wieder das Mantra? „Nur eine solche stolze Nation, für die nur ein unabhängiges Leben es wert ist zu leben, verdient zu leben und zu sein; und nur eine solche Nation wird fortbestehen.“
Übersetzt von Visegrád Post.