Von Modeste Schwartz.
Ungarn – In Bezug auf das kleine„Erdbeben“ vom 25. Februar, habe ich vor kurzem in einem Editorial geschrieben, dass die „Kommunikationsprobleme“, die derzeit zu lebhaften Debatten innerhalb der Fidesz bzw. unter dessen Anhängern führen, unterschwellige soziologische Tatsachen abdecken, die diese nicht so leicht identifizieren und nennen können: „nach 8 Jahren einer vorbildlichen und wirksamen Politik im Dienste der ungarischen Mittelschicht (praktisch die einzige in Europa, die nicht systematisch von der Regierung geopfert wurde) befindet sich der Fidesz immer mehr im Zangengriff zweier strukturell feindlichen Kategorien – eine alte und eine neue: ein Subproletariat, für das er in der Tat nicht allzu viel getan hat, und eine „kreative Klasse“, für die er alles getan, und die ihn trotzdem verraten wird.“
Ich hielt es für richtig, hier auf diese Frage zurückzukommen bzw. die Analyse etwas mehr in die Tiefe zu führen. Fangen wir damit an, die beiden „Klassen von Rebellen“ vorzustellen, die, wenn nicht am kommenden 8. April doch mittelfristig, das dem Anschein nach felsenfeste Gebäude des Fidesz-Ungarns schwächen könnte.
Die bekannteste dieser beiden Klassen, und die im Diskurs eines Teils der Medien des Regimes am meisten verteufelte, ist das Subproletariat, dessen massives Vorhandensein auf den größten Mißerfolg des Fidesz-Experiments deutet: es wurde nicht gelungen, Ungarn aus dem Griff eines deutschen Wirtschaftskolonialismus herauszuziehen, der eine arme ungarische Gesellschaft braucht, um die Wettbewerbsmargen fortbestehen zu lassen, mittels derer er die Volkswirtschaften Südeuropas umbringt. Eine derartige Kritik der Fidesz-Bilanz ist äußerst selten in Ungarn, wo sogar diejenigen unter den Tenören der Linke, die (wie der Philosoph Gáspár Miklós Tamás) einen Anschein von intellektuellem Anstand bewahren, sich wiederholt dadurch auszeichnen, dass sie nicht zählen können, alles über Geopolitik ignorieren und sich damit begnügen, die Ergebnisse zu kritisieren, indem sie vom Fidesz soziale Hilfsmaßnahmen fordern, von denen niemand deutlich sagt, wie diese finanziert werden könnten oder sollten. Jedoch, in einem Land mit geringer Steuerbelastung (im Vergleich mit Frankreich oder Skandinavien) – eine geringe Belastung, die sich durch den Entwicklungsbedarf des Landes rechtfertigen läßt – kann der Fidesz offenkundig nicht massiv in die Infrastruktur investieren (wie er es tut), eine ambitionierte Politik zugunsten der Familien aufrechterhalten (mutatis mutandis wahrscheinlich die ambitionierteste in ganz Europa) und die zahlreichen Bedürfnisse eines massiven und unproduktiven Subproletariats zu befriedigen. Aber alle vermeiden sorgfältig sich die Frage zu stellen, warum dieses Subproletariat so unproduktiv bleibt.
Das ist jedoch kein Geheimnis: in den Subunternehmen der deutschen Industrie unterbezahlt kann der ungarische aktive Arbeiter nicht ausreichend konsumieren, um genügend sekundäre Arbeitsplätze zu erzeugen; die Renovierung seines Badezimmers wird dann „schwarz“ durch prekäre Arbeiter durchgeführt, die die Akteure einer informellen Wirtschaft sind. Dieses Prekariat, das in nicht allzu glänzenden Ortschaften und Vierteln lebt, wo kein Migrant sich je verloren hat, kümmert sich nicht nur ziemlich wenig über die (im übrigen mittelfristig durchaus wirkliche) Migrationsgefahr, sondern vor allem seine wirtschaftliche Schwäche macht es ihm öfters unmöglich, die tatsächlichen Wohltaten der populistischen Fidesz-Verwaltung zu genießen: wer kein Auto hat, interessiert sich wenig für die prächtigen Autobahnen, die Orbán im ganzen Land hat bauen lassen, und um von vom Fidesz für die Familien angebotenen staatlichen Immobiliengarantien profitieren zu können, müßte man zuerst in der Lage sein, ein Kredit aufzunehmen. Für dieses Subproletariat sind die einzigen spürbaren Effekte der „nationalen Revolution“ von 2010 die Besteuerung des Mindestgehalts und die Einheitssteuer gewesen (neoliberales Trödelkram, das in den Fidesz-Kisten seit seiner reaganomanischen Phase in den 1990er Jahren herumliegt, dessen wirtschaftliche Unwirksamkeit seit langem bewiesen wurde). Letztendlich, statt auf das Subproletariat zu spucken, sollten die Tenöre der ungarischen Rechte viel lieber staunen und dieses doch für die sehr patriotische Geduld beglückwünschen, mit der es am Schalter des Neuen Ungarn wartet, dranzukommen – denn ein Teil dieser Klasse unterstützt weiterhin (wie ausländische kommunistische Journalisten dies vor kurzem mit Schrecken bemerkten) das Regime durch sein Votum bzw. seine Enthaltung – begünstigt, auch, durch ein beinahe Nichtvorhandensein der sozialistischen Linke in Ungarn (die MSZP ist nur noch durch den Namen „sozialistisch“). Die Frage wäre eher zu wissen, wie lange diese Geduld noch dauern kann.
Die andere soziale Gruppe, über die man weniger Kommentare – bzw. weniger scharfe Kommentare – hört, würde jedoch meiner Meinung nach eine gründlichere Untersuchung – und ein strengeres Urteil verdienen. Es handelt sich um eine neue soziale Schicht junger Provinzler (im allgemeinen also Kinder von Fidesz-Wählern), die nach Budapest gezogen sind, hohe Diplome haben, und deren sozialer Aufstieg fast alles dem Fidesz und seiner Unterstützungspolitik für den Mittelstand schuldet, aber die sich jedoch bereit zeigen, ihm aus „kulturellen“ Gründen in den Rücken zu fallen. Diese Gruppe, halbwegs zwischen dem französischen „Bobo“ und der Moskauer „kreativen Klasse“, bildet den Großteil der Mitglieder von Bewegungen wie LMP bzw. Momentum (s. voriges Editorial). Sie ist soziologisch durch eine starke internationale Mobilität (was ihr erlauben wird, das Land zu verlassen, nachdem ihre Wahllaune dieses in die Klauen des IWF erneut wird gelegt haben) und einen starken kulturellen Konsum gekennzeichnet, was sie für die ideologischen (post-modern-linken und 90% anti-FIDESZ) Botschaften der Budapester Kulturszene höchst durchlässig macht. Durch diese feindliche Akkulturation seiner eigenen Kinder zahlt der Fidesz in Wirklichkeit den Preis der Feigheit, die seit langem seine Beziehungen mit der Kulturwelt kennzeichnet: eine Welt, die (wie sonst überall in Europa) vorwiegend von Staatsgeldern lebt, und deren größte Lust die Herabwürdigung eben dieses Staats, seiner Vertreter („korrupte Politiker“) und seiner Basis (die „dreckigen Bauern“ der Fidesz-Wählerschaft, vorwiegend in der Provinz) ist. Dieser seltsame Masochismus des Staatsapparats in seinen Beziehungen mit dieser kulturellen fünften Kolonne aus Brüssel erklärt sich durch die (urbane und bürgerliche) Soziologie der Fidesz-Kader, deren soziale Verachtung – wie ich dies schon bemerken ließ – sich nur dank dem politischen Genie von Viktor Orbán durchsetzen läßt.
Ein interessantes Detail ist, dass die Klagen bezüglich der Übervereinfachung der politischen Botschaft (u.a. was die Einwanderung betrifft) im gegenwärtigen Fidesz-Wahlkampf gewöhnlich eben von Mitgliedern aus dieser Gruppe stammen – die jedoch, meiner Meinung nach, nicht die Zielgruppe von solchen Kampagnen ist (es würde mich schon überraschen, wenn Árpád Habony viele Illusionen über das Fidesz-Wählerpotential in diesem Bereich der Gesellschaft hätte). Daher darf man sich fragen, inwiefern es sich lohnen sollte, diese Kritiken zu berücksichtigen, die im allgemeinen eher als erklärende Ausrede dienen und nicht der tiefe Grund für ein Votum gegen den Fidesz sind: die Riesenplakate über Soros und die Migranten als „Indoktrinierungsinstrumente“ zu bezeichnen, ist ein leichtes mit der antitotalitären (eigentlich volksfeindlichen) Ideologie kompatibles Alibi, das für die neue ungarische Linke (aber auch für den Fidesz der 1990er Jahre) bezeichnend ist; zweifelsohne sind die Betroffenen weitgehend aufrichtig und glauben selber (wie es oft der Fall ist) ihr eigenes Alibi. Aber die wirkliche, weit tiefere Ursache ihres „Dissidententums“ ist der Anpassungsreflex dieser Parvenus an die Kultur der alten urbanen Eliten von Budapest (seit dem Anfang fast völlig gegen den Fidesz) und an die globale Kultur des westlichen Coolentums, der anscheinend apolitisch sei, aber in Wirklichkeit mit allen Gagdets des linken Globalismus schwer beladen ist, von der Hipstermode und der Metrosexualisierung der sozialen Beziehungen bis hin zum diskreten No-Borderism dieser jungen Kosmopoliten, denen der Fidesz die suizidale Großzügigkeit hatte, Stipendien zu geben, damit sie im „Ausland“, sprich im Westen, studieren können.
Wenn der Fidesz nicht nur die Wahlen vom 8. April, sondern – entscheidenderweise – diejenigen von 2022 überleben will, spricht den Wählerschwund kompensieren, den die Zermürbung der Macht unweigerlich mit sich bringt, dann ist der Moment für ihn gekommen, sein Wachstumpotential vorurteilsfrei zu erfassen. Auf der Seite der „kreativen Klasse“ ist dieses Potential gleich null: nicht nur, weil Ungarn ihnen schon alles gegeben hat, sondern auch und besonders, weil – zurückgeblieben in ihrer Art – betrachten diese „modischen Jungen“ 2018 weiterhin die Art des im Westen zur neuen Norme gewordenen Machtwechsels als den Ausbund jeder Demokratie. Vergebens würde der Fidesz sogar die Homoehe legalisieren, würde das Wort Gott aus der Verfassung streichen oder ließe den Zaun an der serbischen Grenze abreißen: ihre „Hau ab“-Einstellung bliebe doch unverändert.
Da, wo der Fidesz wachsen kann, ist es eben bei diesem Subproletariat, das er als Geisel seiner über 30 Jahre alten antikommunistischen Rhetorik, weiterhin ignoriert und als ein „Jagdrevier“ der MSZP betrachtet – wobei seine derzeitige Zweidrittelmehrheit mathematisch (mit dem Jobbik am zweiten Platz) niemals ohne eine gewisse Anzahl an Ausfälle auf der „linken“ Seite (genauer gesagt, auf der Seite der proletarischen Basis der MSZP, die letztere genauso verraten hat wie die SP in Frankreich, die griechische PASOK, usw.) hätte zustandekommen können. So gesehen und um die Lage mit etwas Zynismus kurzzufassen: wenn der Fidesz diese Klasse weiterhin mehr oder weniger vernachlässigen und an der Macht bleiben will, so muß er sie imperativ (demographisch) kleinkriegen, indem er Zehntausende von Bürgern durch sozialen Aufstieg, sprich durch den Zugang zu dezent bezahlten Arbeitsplätzen, daraus entnimmt. Wenn er dies nicht schafft, dann muß er aufhören, diese Klasse zu vernachlässigen.
Es ist selbstverständlich, das der Fidesz in seiner rechtsorientierten Phobie der „sozialen Hängematte“ die erste Lösung logischer fände – aber deren Umsetzung stößt auf eine starke kulturelle Trägheit (Schwäche des Unternehmergeists) bzw. auf verschiedene strukturelle Riegel zusammen, die meistens auf die EU zurückzuführen sind – die Ungarn derzeit nicht vorhat zu verlassen, da es eher darauf hofft, dort das Zentrum einer Visegrád-Enklave zu bilden (indem man die V4 auf den Balkan erweitere), die de facto über eine „gewisse Souveränität“ verfügen würde.
Sackgasse? Nicht unbedingt. Wenn Ungarn weder den Wunsch, noch wahrscheinlich die Mittel hat, eine soziale Politik nach westlichem Muster zu starten, hindert es nichts daran, nach alternativen Wegen zu suchen. Als ein Nettoexporteur in der Landwirtschaft, der Gentechnik ablehnt, könnte Ungarn, indem es (durch die Verteilung von unveräußerlichbarem Ackerboden, Niederlassungsbeihilfen, usw.) das wohlhabende Kleinbauerntum wiederherstellen würde, das es zur Zeit der Mechanisierung verloren hat, zum regionalen Vorreiter im Bereich der Qualitätslebensmittel werden und gleichzeitig seinen Bürgern einen in der Region beneidenswerten Lebensstandard (und sogar Lebensqualität) anbieten.
Wie dem auch sei, die Arbeitslosigkeit sinkt und wird weiter sinken, sei es bloß aus demographischen Gründen: auch wenn die Geburtenförderungspolitik der Fidesz den ungarischen Feminismus doch noch bewältigen würde, so bräuchte man zwei Jahrzehnte damit es sich am Arbeitsmarkt auswirke; bis dahin kann der Anteil der Aktiven in der Bevölkerung nur sinken. Daher wird das Problem der Arbeitslosigkeit unweigerlich in den Hintergrund verschwinden, während das Problem der Gehälter in den Vordergrund treten wird – in Ungarn wie im gesamten postkommunistischen Europa zeigt der Ratio Gewinn/Personalaufwand eine sehr deutliche Differenz (zugunsten des Kapitals) gegenüber Westeuropa. Mit anderen Worten wird man den strukturellen Aufholbedarf infolge der wirtschaftlichen Verschlimmerung der 1980er Jahre und der industriellen Zerschlagung der 1990er Jahre nicht ad æternam heranziehen können, und zwar an einem Moment, wo der Zustand der Infrastuktur des Landes und der Unternehmen bereits jetzt mit dem mancher Länder Südeuropas vergleichbar ist. Der legendäre „Übergang“ wird wohl früher oder später zu Ende sein müssen. Die ungarischen Arbeitgeber werden dann lernen müssen, ihre Arbeitnehmer ordentlich zu zahlen.
Der Fidesz ist also heute fast in der gleichen Lage wie die gaullistische Bewegung gegen Ende der 1960er Jahre: patriot und volksnah ist ihm bewußt, dass er von einer im Ausland organisierten Destabilisierungskampagne bedroht wird, doch vertraut er zu sehr seiner bürgerlichen Basis, derer ein Teil nur auf die erste Gelegenheit wartet, um ihn zu verraten, und ist unfähig, das Soziale mit dem Nationalen zu vereinbaren – während genau der erbärmliche Zustand der ungarischen Linke ihm freie Bahn in dieser Richtung geben würde (wovon Charles De Gaulle gegenüber der starken KPF der 1960er Jahre nicht hat profitieren können). Durchaus realisierbar und seit Anbeginn in seinen Programmen vorhanden nehmen nationale Solidarität und christlicher Beistand in den Taten der Regierung nur zögerlich Gestalt. Währenddessen säen die Nachkommen der 1968er Aktivisten (und sogar manche Dinosaurier jener Zeit, die seitdem nie aufgehört haben zu schaden, wie Daniel Cohn-Bendit) die Keime einer ähnlichen Bewegung in die ungarische Jugend.