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Kompetenzstreit zwischen Brüsseler Westen und EU-Osten spitzt sich zu (dritter Teil)

Lesezeit: 4 Minuten

Für das Ungarische Verfassungsgericht müssen nationale Behörden die Untätigkeit der EU in Einwanderungsfragen ausgleichen.

Erster Teil: Warschau fordert die Einhaltung der Verträge und weigert sich, die vom EUGH verhängten Zwangsgelder zu zahlen

Zweiter Teil: EU-Rechtsprechungsrecht vs. Verfassung: Urteile und Gegenurteile zwischen dem EUGH und dem rumänischen Verfassungsgericht

Im Gegensatz zu den jüngsten Urteilen der Verfassungsgerichte in Polen und Rumänien bekräftigt das Urteil des ungarischen Verfassungsgerichts vom 10. Dezember 2021 zum Urteil des EU-Gerichtshofs vom 17. Dezember 2020 nicht unmittelbar den Vorrang der ungarischen Verfassung bzw. des ungarischen Rechts vor dem EU-Recht oder der Rechtsprechung des EUGH. Denn, wie es in der Urteilsbegründung heißt, erstreckt sich die von der Regierung Viktor Orbáns geforderte Auslegung des ungarischen Grundgesetzes im Zusammenhang mit der Einwanderungspolitik „nicht auf die Prüfung des Vorrangs des EU-Rechts“.

Es hat also nichts mit dem Urteil des polnischen Verfassungsgerichts zu tun, das die Brüsseler Eliten im vergangenen Oktober in Rage versetzte. Das polnische Urteil bezog sich jedoch, wie auch die ähnlichen Urteile des rumänischen Verfassungsgerichts vom Juni und Dezember letzten Jahres, auf eine ausschließliche Zuständigkeit der Mitgliedstaaten in Bezug auf die Organisation und Funktionsweise der Justiz.

Diese beiden Verfassungsgerichte haben sich also frontal gegen den Justizputsch gestellt, den der EUGH mit Unterstützung der Europäischen Kommission und des Europäischen Parlaments versucht hat, um die Kompetenzen der EU zu erweitern und den Charakter dieser supranationalen Organisation ohne neuen Vertrag umzugestalten.

Das ungarische Urteil bezieht sich hingegen auf eine geteilte Zuständigkeit bezüglich der Einwanderungspolitik. Aber auch in diesem Bereich gibt es eine Antwort auf den juristischen Aktivismus der militanten Richter in Luxemburg, indem es einige allgemeine Grundsätze aufstellt, die es der ungarischen Regierung heute ermöglichen, zu sagen, dass sie die Urteile des EUGH, die sich gegen eine wirksame Bekämpfung der illegalen Einwanderung richten, nicht umsetzen werde.

Das ungarische Verfassungsgericht stellte nämlich in seinem Urteil vom 10. Dezember letzten Jahres fest, dass „wenn die Ausübung der geteilten Zuständigkeit durch die Organe der Europäischen Union unvollständig ist, Ungarn gemäß der gewählten Souveränitätsvermutung berechtigt ist, die betreffende nicht ausschließliche Zuständigkeit der Union auszuüben, bis die Organe der Europäischen Union die erforderlichen Maßnahmen für die tatsächliche Ausübung der geteilten Zuständigkeit ergreifen“. Weiter heißt es in der Entscheidung der ungarischen Verfassungsrichter, dass „wenn das Fehlen einer gemeinsamen Ausübung der Zuständigkeiten Folgen hat, die das Recht der im Hoheitsgebiet Ungarns lebenden Menschen auf ihre eigene Identität beeinträchtigen können, der ungarische Staat im Rahmen seiner Pflicht zum Schutz der Institutionen verpflichtet ist, den Schutz dieses Rechts zu gewährleisten“ und dass „der Schutz des unveräußerlichen Rechts, die territoriale Einheit, die Bevölkerung, die Regierungsform und die Organisation des Staates Ungarn zu bestimmen, Teil der Verfassungsidentität ist“.

Wenn die EU also auch aufgrund der Rechtsprechung des EUGH keine Maßnahmen gegen die illegale Einwanderung ergreift, haben die ungarischen Behörden die Pflicht, die europäischen Versäumnisse durch nationale Politik auszugleichen. Dies gilt umso mehr, als das ungarische Verfassungsgericht in seinem Urteil vom 10. Dezember die Auffassung vertritt, dass das Recht der Menschen auf ihre nationale Identität zu den Grundrechten gehört. Genauer gesagt stellt es fest, dass „das traditionelle soziale Umfeld einer Person Teil ihrer Identität ist und der Staat die Pflicht hat, dafür zu sorgen, dass Veränderungen in diesem sozialen Umfeld keine Verletzung der konstituierenden Elemente ihrer Identität darstellen“. Außerdem darf für das ungarische Verfassungsgericht „die Ausübung gemeinsamer Befugnisse durch die Organe der Europäischen Union nicht zu einem niedrigeren Niveau des Grundrechtsschutzes führen, als es das Grundgesetz verlangt“,

was trotz allem eine Möglichkeit ist, den Vorrang der ungarischen Verfassung von 2011 vor dem EU-Recht zu bekräftigen, wenn das EU-Recht nicht in der Lage ist, die Bürger gegen die Masseneinwanderung zu verteidigen.

In seinem Urteil vom 17. Dezember 2020, das der Grund für die Anrufung des ungarischen Verfassungsgerichts durch die Regierung von Viktor Orbán war, hatte der EUGH auf Antrag der Europäischen Kommission Ungarn wegen Verstoßes gegen mehrere EU-Richtlinien verurteilt: die Rückführungsrichtlinie, die sofortige Rückschiebungen an der Grenze verbieten soll, die Aufnahmepolitik, die die Möglichkeit, Asylbewerber in geschlossenen Zentren festzuhalten, stark einschränkt, und die Verfahrensrichtlinie, die die Prüfung von Asylanträgen regelt. Dieses Urteil folgte auf ein anderes Urteil des EUGH vom Mai 2020, in dem Ungarn gezwungen wurde, seine „Transitzonen“ in Röszke und Tompa an der Grenze zu Serbien zu schließen. In diesen geschlossenen Zentren wurden die Asylwerber bis zu einer Entscheidung über sie festgehalten. Bis zu dieser Entscheidung durften sie das Migrantenzentrum nur verlassen, um nach Serbien zurückzukehren, wodurch den Ungarn Situationen erspart blieben, wie sie seit Jahren im französischen Calais oder im italienischen Ventimiglia zu beobachten sind, um nur zwei Beispiele zu nennen.

Da die ungarischen Behörden nicht in der Lage waren, Asylwerber in geschlossenen Zentren zu halten, schafften sie 2020 die Möglichkeit ab, von Ungarn aus Asyl zu beantragen: somit muss sich ein Asylwerber nun an ein ungarisches Konsulat auf ausländischem Territorium wenden, um einen solchen Antrag zu stellen. Diese Entwicklung hat dadurch die Praxis der sofortigen Rückschiebungen an der Grenze nur noch verstärkt.

In seiner Entscheidung vom 17. Dezember 2020 bekräftigte der EUGH jedoch einen europäischen Grundsatz der Nichtzurückweisung und wies das Argument Ungarns zurück, die Migrationskrise habe es gerechtfertigt, zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und zum Schutz der inneren Sicherheit von bestimmten Regeln der Verfahrens- und der Aufnahmerichtlinie abzuweichen, und dies trotz des massiven Zustroms von Migranten seit 2015 und sogar der nachgewiesenen Präsenz islamischer Terroristen unter diesen illegalen Einwanderern.

In diesem Zusammenhang ist es interessant festzustellen, dass der EUGH mit seiner Behauptung, Zurückweisungen an der Grenze zu verbieten, gegen die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte verstößt und damit den Schutz der Außengrenzen der Europäischen Union illusorisch macht. Neben der Tatsache, dass der EGMR in einem Urteil vom November 2019 das Prinzip der ungarischen Transitzonen bestätigt hatte, hatte er auch in einem Urteil vom Februar 2020, das Spanien betraf, anerkannt, dass die Zurückweisung von Migranten, die von Marokko aus versuchen, den Grenzübertritt in Ceuta und Melilla zu erzwingen, nicht gegen die Europäische Menschenrechtskonvention verstöße. Auch das spanische Verfassungsgericht bestätigte im November 2020 diese Praxis, die seit Jahren von aufeinanderfolgenden Regierungen zur Verteidigung der Grenzzäune in Ceuta und Melilla angewandt wurde, die lange vor dem ungarischen Zaun errichtet worden waren, der ab 2015 an der Grenze zu Serbien errichtet wurde.

Am 21. Dezember erklärte der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán daher, dass seine Regierung nach dem Urteil des ungarischen Verfassungsgerichts vom 10. Dezember die Art und Weise, wie sie ihren Teil der Außengrenze des Schengen-Raums schützt, nicht ändern und die diesbezüglichen Anforderungen des Gerichtshofs der Europäischen Union nicht erfüllen werde.

Die 27 können sich darüber nur freuen, während Ungarn seinerseits mit hohen Geldstrafen rechnen muss, die die Europäische Kommission sicherlich beim EUGH beantragen wird.