Von Ferenc Almássy
Polen – 11. November 2018, hundert Jahre sind seit dem Ende des Ersten Weltkriegs vergangen. Es ist somit der 100. Jahrestag der Wiedererlangung der Unabhängigkeit für Polen nach 123 Jahren der Teilung. Rückblick auf einen emotionsbeladenen und politisch geprägten Tag.
Ich bin anlässlich des 100. Jahrestags der wiedererlangten polnischen Unabhängigkeit nach Warschau gefahren, um über dieses Ereignis zu berichten. Deshalb gab es an diesem besonderen Tag des 11. November keine Veröffentlichung auf unserer Seite, da 23 Stunden Arbeit vor Ort mir dazu keine Zeit übrig ließen. Wir mussten auch eine Stunde finden, um zu einem Moment der Kameradschaft und der Andacht zu kommen, und symbolisch einen Schlussstrich unter diese 100 Jahre des Vergessens zu ziehen, eine Notwendigkeit.
Persönliches Nebenbei
11. November. Meine Urgroßväter standen auf beiden Seiten der no manʼs lands: Korse und Bretone auf einer Seite, Ungarn auf der anderen Seite. Die Erzählungen, die Bilder, der Gedanke und der industrielle, unmenschliche Charakter dieses europäischen Bürgerkriegs haben mich immer traumatisiert, traurig gemacht, beängstigt. Somit besitzt dieser Tag eine besondere Bedeutung für mich. Er wurde zur Offizialisierung des Endes des alten Europas, dasjenige, das ich liebe bzw. mir manchmal vorstellen kann. Dieses industrielle und ungeheuerlich absurde Blutbad, wo der Mensch gelernt hat, im Schlamm und unter Feuer und Stahl zu einer Zahl in der Statistik zu werden, fand am 11. November 1918 sein Ende. Rückkehr also zum Frieden, aber zu einem noch nie dagewesenen und unbekannten Frieden, der sich noch zerstörerischer für die Nationen als der Krieg erweisen wird. Das scheußliche und schändliche 20. Jahrhundert begann erst gerade. Der Totalitarismus wurde vom Ersten Weltkrieg geboren und das ist noch keine sehr alte Geschichte – dessen Gespenst sucht uns in unserer Zeit weiterhin heim, während es nun zurück zu kommen scheint, diesmal unter der Maske des Liberalismus. Für uns Europäer sind einige unserer Staaten und viele unserer Grenzen, unserer Beziehungen und unserer Traumata die Früchte dieses Ersten Weltkriegs. Durch den todbringenden Liberalismus, die Identitäten und daher das gemeinsame Gedächtnis, diese Verbindung unter den Menschen, die ein Volk bilden, zersetzt, absolviert der Westen diese Gedenkfeier wie einen folkloristischen Frondienst. Man atmet erleichtert auf, einen Schlussstrich unter den ersten Weltkrieg ziehen, dieses Gemetzel der Kleinen, diese Ermordung des alten Europas, dieses diabolische und ungerechte Opfer weit hinter uns lassen zu können, ohne sich mehr darum zu kümmern, Rechenschaft schulden oder echte Lektionen daraus ziehen zu müssen.
Hundert Jahre wiedererlangte polnische Unabhängigkeit
Aber es gibt ein anderes Abendland, dasjenige Polens, das sich vor 1000 Jahren dafür entschied, der westlichen Welt anzugehören, indem es sich Rom zuwandte. Bei der Jahrhundertfeier erinnerte Präsident Duda daran, nachdem er auf der Messe für die Nation kommuniziert und auf den Knien gebetet hatte: „Wir sind nicht nur aus kulturellen Gründen Mitglieder des Abendlandes, sondern auch aus politischen und geographischen Gründen“. Dieses andere Abendland ist derjenige, der vor kurzem den Totalitarismus in Friedenszeiten ein halbes Jahrhundert lang gekannt und Frontalangriffe gegen dessen Identität, Souveränität und Freiheit erlitten hat. Und die Vereinigung mit dem infolge der Kriege durch Demoralisierung verfaulten atlantistischen, von der Amerikanisierung dominierten und von Komfort zerfressenen Westen ist nicht so einfach gewesen. Denn es bildete sich einen anthropologischen Graben. „Vorher dachten wir, dass Europa unsere Zukunft sei. Heute sind wir die Zukunft Europas,“ so Viktor Orbán vor einigen Monaten. Vor kurzem vereinfachte er gar seine Formel, die das übersetzt, was ganz Mitteleuropa denkt: „Wir sind Europa“.
Das alte Europa ist 1914-1918 gestorben. Was wir jetzt haben ist eine mutante Form, die versucht, sich an die eine moderne zeitgenössische Welt anzupassen, die in Mitteleuropa, auf den Ruinen versucht wieder aufzubauen, da es die Stärke und die Stabilität der übrig gebliebenen Fundamente begriffen hat: Das griechische Ethos, das römische Recht und die Werte des Christentums. Bald geschickt, bald ungeschickt, mehr schlecht als recht versucht Mitteleuropa Europa wieder aufzubauen, treu dem Bild, wie man es sich vorstellt. Aber ohne in der Vergangenheit zu ertrinken: die Gedenkfeier zum hundertsten Jahrestag der wiedererlangten Unabhängigkeit in Polen war keine Gedenkparodie à la Macron, die man als Pflicht empfindet, doch ohne zu wissen, wie man sie nehmen soll, so weit sei sie entfernt von den Frontkämpfern und von der Welt davor. Hier in Polen habe ich das aufrichtige Pflichtgefühl, das Zeugnis einer Vision der Kontinuität, den Respekt der Übertragung von Generation zu Generation, die Demut der Großen den Alten gegenüber, die Anerkennung des freiwilligen Opfers und der kolossalen Anstrengungen der Vorfahren feststellen können. Der Stolz des polnischen Patrioten ist nicht bloß, dass er als Pole geboren wurde, sondern, dass er der Verwahrer eines heldenhaften Erbes ist.
Dieses Bewusstsein der Vergangenheit setzt eine Verantwortung im Herzen und im Geiste von allen voraus. Und diese Verantwortung setzt wiederum voraus, dass die ganze Nation sich dafür einsetzt, ihre Zukunft aufzubauen, die sowohl als individuelle Opportunität wie auch als kollektive Pflicht empfunden wird. Die polnischen Regierenden haben unter dem Kommunismus gelebt. Ihre Eltern haben den Zweiten Weltkrieg und die Zerstörung des Landes gekannt. Ihre Großeltern haben wahrscheinlich in einer Welt ohne unabhängiges Polen, als Untertanen fremder Mächte gelebt. Es ist unmöglich, dieses große europäische Land von 40 Millionen Einwohnern zu verstehen, ohne von diesen Fakten Rechnung zu tragen, die das politische Bewusstsein bestimmen, das sich auf das nationale Erbe stützt; und dadurch auch den Willen der Weitergabe an die künftigen Generationen, was strukturell eine konservative Dimension in die herrschende nationale Politik bringt.
Doch hört die Politik nicht auf
Trotz des Aufrufs zur nationalen Einheit des polnischen Präsidenten Andrzej Duda wirkte dieser 11. November 2018 politisch betrachtet ziemlich hektisch bzw. war die Uneinigkeit sichtbar. Mitten in den Turbulenzen: der nunmehr traditionelle Unabhängigkeitsmarsch.
Jedes Jahr seit 2009 von einem nationalistischen Kollektiv organisiert ist der Unabhängigkeitsmarsch zu einer Institution geworden. Am Anfang war er ein Treffen für Hooligans, Nationalisten und Ultras, die gegen die Mittelinksregierung und deren liberal-libertäre Mutation opponierten, und war gewöhnlich durch Ausschreitungen mit der Polizei gekennzeichnet, doch die Versuche, diesen patriotischen Marsch am Tage der Unabhängigkeit zu verbieten, empörten viele Bürger die nach und nach die Reihen dieses Marschs füllten als Zeichen des Protests und der Unterstützung für den Patriotismus.
Diese Wandlung des Marschs machte daraus eine Institution. Von Jahr zu Jahr immer mehr zu einem markanten und einzigartigen Volksereignis werdend und besonders im Zusammenhang mit einer antipatriotischen Regierung wurde der Marsch zu einem Muss-Treffen für viele, auch für Veteranen, Familien und jüngere Leute. Viele PiS-Wähler haben unter anderem die Gewohnheit genommen, an dieser zivilen Prozession für die polnische Unabhängigkeit teilzunehmen.
Seit der Machtübernahme des christlichen und nationalkonservativen PiS – Prawo i Sprawiedliwość, Recht und Gerechtigkeit – im Herbst 2015 haben die Ausschreitungen mit der Polizei – infolge von zahlreichen Provokationen seitens der Polizei, was zuvor ein gefundenes Fressen für die Medien und die liberale Regierung war – gänzlich aufgehört und seitdem finden die Märsche ohne Zwischenfälle statt. Dies hat dazu beigetragen, den Marsch noch beliebter zu machen. Im vorigen Jahr 2017 sprach die Polizei von 60.000 Teilnehmern doch die echte Anzahl von denen lag wahrscheinlich eher bei 80 bis 100.000.
Heuer benutzte das vom liberal-libertären PO – Platforma Obywatelska, Bürgerplattform – regierte Warschauer Rathaus eine juridische Hintertür, um das Verbot des Unabhängigkeitsmarschs zu rechtfertigen, der seit dem Vorjahr vorwiegend aus dem außen benutzt wird, um die polnische Regierung anzugreifen. Die großen westlichen Medien haben unisono eine Fake News übernommen, die von 60.000 Neonazis, Faschisten bzw. Extremisten berichtete. Eine grobe Lüge, um auf eine konservative Regierung Druck auszuüben, die sich gegen Brüssel stellt und dessen Seilschaften auf nationaler Ebene zu beseitigen versucht.
Selbstverständlich hätten die Organisatoren auf den Unabhängigkeitsmarsch der 100 Jahre nicht verzichtet… Diese Ankündigung seitens des PO-Rathauses stellt offensichtlich ein Manöver dar, um die Hundertjahrfeier zu stören und dem jetzt regierenden PiS zu schaden. Vorerst kündigte der PiS an, seinen eigenen Marsch – den Marsch Rot und Weiß im Bezug auf die polnische Fahne. Vor dem Risiko der Zwietracht und des Konflikts am Tag der Unabhängigkeit bezeichneten es Nationalisten als Skandal. Schließlich machte das Manöver des PO den PiS stärker, denn schließlich ist es der polnische Staatspräsident Andrzej Duda selber, der die Rede am Anfang des Marschs hielt, bevor er dann in erster Reihe mit Ministerpräsident Mateusz Morawiecki den Demonstrationszug des PiS anführte. Der gesamte Marsch versammelte lt. Polizei 250.000 Personen, doch waren es wahrscheinlich in Wirklichkeit um die 300.000.
Das brachte den PiS dazu, sich als Verteidiger des Demonstrationsrechts gegenüber einem immer bedrängteren und als Agent von Brüssel betrachteten PO zu stellen. Doch Dudas Streich hatte auch zur Konsequenz, dem PiS zu ermöglichen, sich an den Marsch anzuschließen, was der PiS sich früher nicht erlauben konnte, um aus Imagegründen mit gewissen nationalistischen Gruppen nicht assoziiert zu werden.
Man kann sich fragen, ob Kaczyńskis Polen wohl dabei ist, sich zu orbánisieren; eines ist sicher, offensichtlich mit Erfolg und dank dem PO versucht der PiS, durch dessen Bedeutung und Teilnehmerzahl ausserordentlichen Marsch in die Hand zu nehmen. In Ungarn genießt Orbán im Notfall – besonders Brüssel gegenüber – die Unterstützung der „Friedensmärsche“ (Békemenet), um die Unterstützung durch das Volk und seine Mobilisierungsfähigkeit demonstrieren zu können. Bei Verhandlungen ist es ein Trumpf, um an seine Legitimität und seine Stabilität zu Hause zu erinnern. Es scheint wohl, dass der PiS den Unabhängigkeitsmarsch übernehmen möchte, um ihn in einer ähnlichen Weise zu benutzen, während er die nationalistische Dynamik entschärft, indem er versucht, die mit seinem konservativen und identitären Projekt kompatiblen Diskurse und Menschen zu integrieren.
In einem Zusammenhang der frontalen und immer härter werdenden Konfrontation mit Brüssel, dessen Einmischung durch manche Kommissare, die den Rahmen ihrer legalen Kompetenzen überschreitet, der für die polnischen demokratischen Freiheiten gefährlich wird, muss der PiS seine Truppen verstärken und seine Unterstützung erweitern bzw. sich für die Integration einer radikaleren Basis entscheiden, um die immer zahlreicher werdenden Frontalangriffe und andere Destabilisierungsversuche abwehren zu können. Hier auch hat Orbán in Ungarn das Gleiche vorgemacht, indem er die ehemals rechtsradikale Jobbik dadurch aussaugte, dass er seinen Diskurs über die Einwanderung radikalisierte und sich als der einzige Politiker stellte, der das Vaterland verteidigen könne. Sollte der PiS diesen Weg tatsächlich einschlagen, so kann man wetten, dass er wie der ungarische Fidesz radikaler und stärker wird, um die Brüsseler Angriffe kontern und seine vom Volk gewählte Politik weiterführen zu können. Das polnische Volk hat ein längeres Gedächtnis als die Ädilen von Brüssel, deren wiederholte Angriffe den PiS nur stärker werden lassen.