Dieser Artikel wurde ursprünglich in französischer Sprache auf der Seite der französischen Beobachtungsstelle des Journalismus (Observatoire du Journalisme, OJIM) in drei Teilen veröffentlicht, aus denen wir einen einzigen Artikel gemacht haben.
Ungarn – Seit der Rückkehr Viktor Orbáns an die Macht in Ungarn im Jahr 2010 ist dieses kleine mitteleuropäische Land vom 23. zum 87. Platz in der Rangliste der Pressefreiheit der NGO Reporter ohne Grenzen abgestuft worden. Mehrere Organe in der Europäischen Union kritisieren die Lage der Presse in Ungarn und machen sich Sorgen ob eines Abdriftens zugunsten der christlich-konservativen Regierung des sehr polarisierenden Viktor Orbáns, des starken Manns von Budapest.
Die westlichen Medien berichten ebenfalls über diesen angeblichen Würgegriff der ungarischen Regierung gegen die Presse. Seit Jahren, u.a. in Frankreich prangern sehr viele Dokus, Reportagen und Artikel diese autoritäre und „antidemokratische“ Politik an. Anfang Dezember 2019 veröffentlichte eine internationale Mission einen alarmierenden Bericht über die Lage der Pressefreiheit in Ungarn und bat unmittelbar die EU-Behörden einzugreifen. Im Umfeld Viktor Orbáns beteuert man hingegen, dass man versuche, einen Status quo herzustellen, um einer Situation ein Ende zu setzen, wo die Presse der Regierung und dem Konservatismus überwiegend feindlich gegenüberstehe, und erinnert an die Vorherrschaft der linksliberalen Medien seit der Wende vor dreißig Jahren.
Wie ist also die Lage der Presse in Ungarn wirklich? Wie ist man zu dieser Lage gekommen? Welche Rolle spielen die berühmten „Oligarchen“ in der Entwicklung der Lage der Presse in Ungarn? Ein historischer Rückblick und ein Überblick um die Lage der Presse in Ungarn verstehen zu können.
Altes Land, junge Demokratie und ständiger Medienkrieg
Ungarn ist einer der ältesten Staaten in Europa. Nachdem es am Ende des Mittelalters durch die osmanische Eroberung verkümmerte, stand Ungarn bis zum Ende des I. Weltkriegs unter dem Einfluss der Habsburger. Im 19. Jahrhundert unter dem Antrieb der Intellektuellen, der Liberalen und der Freimaurerei erhob sich die Presse wie anderswo in Europa zu einer neuen Macht, die u.a. als Sprachrohr für die fortschrittlichen, revolutionären bzw. im allgemeinen Sinne der Monarchie feindlich gesinnten Strömungen diente.
Am Ende des I. Weltkriegs wird Ungarn vom Habsburger Reich getrennt, verliert durch den Vertrag von Trianon (1920) zwei Drittel seines Staatsgebiets und über die Hälfte seiner Bevölkerung und wird unter der Regentschaft von Admiral Horthy zu einer unabhängigen parlamentarischen Monarchie. Während dieser Zeit wird die Presse wie anderswo in Europa überwacht und kontrolliert. Allerdings ist die Pressefreiheit einigermaßen vorhanden, wenn es darum geht, die Regierung zu kritisieren.
Infolge des II. Weltkriegs wird das Land von den Sowjets übernommen. Ab 1948 wird eine Alleinherrschaft der Kommunistischen Partei aufgezwungen und bis 1956 wird die Presse vollkommen zu ihren Diensten stehen. Nach dem Aufstand von Oktober 1956 ermöglichen die Entstalinisierung Ungarns bzw. Verhandlungen zwischen den heimischen Eliten und Moskau die Einrichtung durch János Kádár des sog. „Gulaschkommunismus“, der aus Ungarn „die lustigste Baracke im Ostblock“ machte. Nach und nach wurde das Wort freier und immer mehr verbotene Publikationen wurden de facto toleriert, während manche Künstler als Ventil für die öffentliche Meinung dienen, indem sie auf der Bühne, im Fernsehen bzw. in Filmen beißenden Humor gegenüber der Regierung treiben. Druckmedien und Rundfunk bleiben allerdings unter der Kontrolle des Staatsapparats bzw. sind sie weiterhin linientreu.
Vom Kommunismus zur Privatpresse
Anlässlich der Wende geht Ungarn von einem System der vollkommenen Kontrolle der herrschenden Presse zu einer um einige Eigentümer organisierten Presse über. Allerdings vollzieht sich der Regimewechsel erst allmählich. Am Anfang der 1990er Jahre führt die erste demokratische Regierung Ungarns, die Mitte-Rechts-Regierung József Antalls den „ersten Medienkrieg“. Die Kraftprobe zwischen Presse und Regierung wird dann zu einer Komponente im politischen Leben Ungarns und Antall versucht, die Unterstützung einiger Medien zu bekommen, indem er ihnen gesponserte Regierungsanzeigen zukommen lässt, bzw indem er die Privatisierung von Új Magyarország, Pesti Hírlap und der großen Referenztageszeitung Magyar Nemzet vorantreibt. Doch vor allem versucht Antall, die Kontrolle über die staatlichen Medien zurückzugewinnen, da das Gesetz von 1974 – das der Regierung ermöglicht, die Staatsmedien zu kontrollieren – und das Moratorium der letzten kommunistischen Regierung über die Genehmigung der Gründung neuer Privatmedien (praktisch die Vergabe neuer Lizenzen) immer noch in Kraft waren, bis das Parlament ein neues Gesetz mit Zweidrittelmehrheit verabschiede, um die Vorschriften zu ändern. Doch wird man bis 1995 warten müssen, dass die Abgeordneten sich endlich über ein Mediengesetz einigen können. Inzwischen wird die Regierung Antall einem Ungehorsam und einem Chaos innerhalb der Staatsmedien gegenüberstehen, die sie aufgrund der Opposition der Liberalen nicht zu kontrollieren vermochte. 1996 tritt ein Gesetz in Kraft, demgemäß die öffentlichen Medien von einem Gremium geleitet werden, das aus Vertretern der im Parlament vertretenen Parteien besteht und wo Regierungs- und Oppositionsparteien gleichgestellt werden.
Infolge eines neuen Gesetzes von 1995 finden neue Ausschreibungen statt. Wie in anderen Sektoren sind es ausländische Investoren, die das Rennen machen. 1997 werden einerseits RTL Klub, andererseits TV2 gestartet, die außer zahlreichen Reality Shows, Filmen und anderen Unterhaltungssendungen jeden Abend eine Tagesschau mit linksliberaler Orientierung anbieten. Beide Kanäle werden rasch zu den meistangeschauten in Ungarn, insbesondere ihre Nachrichtensendungen, die seit nun zwanzig Jahren ihre Konkurrenten dominieren. RTL Klub gehört zu 80% der RTL Group Central & Eastern Europe GmbH und zu 20% der KOS Beteiligungs- und VerwaltungsgmbH. TV2 gehört am Anfang ebenfalls deutschen Investoren, da sie Eigentum der ProSiebenSat1 Media SE ist.
Viktor Orbán erscheint auf der Bühne
Parallel dazu setzt sich ein junger Politiker auf nationaler Ebene immer mehr durch: Viktor Orbán machte sich unter dem Kommunismus einen Namen, indem er im Juni 1989 vor 200.000 Personen bzw. live im Fernsehen den Abzug der sowjetischen Truppen forderte. Er ist damals ein vom Antikommunismus motivierter junger liberaler Aktivist. Aus diesem Grund genießt er dann die Unterstützung der amerikanischen Netzwerke und erhält ein Stipendium von George Soros. Der Wende in seiner Heimat wegen wird er dieses Stipendium und das Semester in Oxford aufgeben und eine politische Karriere beginnen.
Allerdings bricht Viktor Orbán 1992 mit den Soros-Netzwerken, da er manche Einmischungen des berühmten ungarischstämmigen amerikanischen Milliardärs in die Politik des Landes ablehnt. Seitdem ist er nicht mehr das Wunderkind der ungarischen Politik sondern ein Konservativer, dem man misstrauen soll: die internationale Presse fängt an, ihren Diskurs über Orbán zu revidieren.
1998 wird Viktor Orbán zum Ministerpräsidenten, nachdem seine Partei, der Fidesz, die Wahlen gewonnen hat. Er wird damals mit einer Versteifung der Medien seiner konservativen Regierung gegenüber konfrontiert und entscheidet, konservative Medien zu begünstigen, um zu einem Gleichgewicht gegenüber den mehrheitlich linken und liberalen Medien zu erreichen. „Die Änderung des Kräfteverhältnisses in den Medien wird nun beginnen. […] Es bedarf Änderungen, die den Zugang zu einer zuverlässigen und ausgewogenen Information in dieser neuen Welt garantieren. […] Es müssen die Bedingungen geschaffen werden, damit beide Weltanschauungen gerechterweise in der Presse vertreten werden können,“ so Orbán am 27. September 1998 ein paar Monate, nachdem er zum jüngsten Regierungschef in Europa geworden ist. Regierungsnahe Journalisten und Autoren werden dann mehr gefördert, doch ist es infolge der Unfähigkeit der Opposition, sich über die Ernennung ihrer Vertreter im Aufsichtsgremium für die staatlichen Medien zu einigen, dass der Fidesz de facto die Leitung dessen übernehmen konnte. Im Laufe des Jahres 1999 sitzen dort keine Vertreter der Opposition. Etwas später im gleichen Jahr wiederholt sich das gleiche Szenario für den Kanal Duna TV (öffentlicher Kanal für die Auslandsungarn) und für das Radio.
Die Angelegenheit kommt vor das Verfassungsgericht, das befindet, dass diese Situation gegenüber einem Nichtvorhandensein eines Aufsichtsgremiums ein geringeres Übel darstelle. Am Ende des Jahres 1999 berichten die öffentlichen Medien überwiegend und positiv über das Wirken der Regierung.
Doch versucht die Regierung Orbán I nun auch das Gleichgewicht auf der Ebene der Tageszeitungen herzustellen, was zum Anfang des „zweiten Medienkriegs“ führt. Es ist u.a. der Übernahmeversuch 1998 des sehr liberalen Magyar Hírlap, der den konservativen Kolumnisten ermöglicht, auf das abgekartete Spiel zwischen Sozialisten, Liberalen und Printmedien hinzuweisen, während die Vertreter der sozialistischen MSZP und der liberalen SZDSZ offensichtlich in die Bresche springen, um die Operation zu verhindern.
Die Regierung drängt dann die Magyar Nemzet dazu, mit den nichtpolitischen Zeitungen zu fusionieren, um ihre Leserschaft zu erweitern, während eine Stiftung bedeutende öffentliche Subventionen erhält, um die Heti Válasz, einem liberal-konservativen wöchentlich erscheinenden Magazin finanzieren zu können, das zu einem Pendant zum ebenfalls wöchentlich erscheinenden linksliberalen Magazin HVG werden soll.
Das Wochenblatt Magyar Narancs, das regierungskritisch geworden ist, bekommt dann keine Zuwendungen seitens des Fidesz mehr – obwohl es 1989 vom Fidesz gegründet worden war.
Im Jahr 2002 zeigt das International Press Institute (IPI) mit dem Finger auf das von Orbán regierte Ungarn und erklärt, dass die Lage der Pressefreiheit sich dort wesentlich verschlechtert habe.
2002 gewinnen Liberalen und Sozialisten die Wahlen
Im gleichen Jahr führt der Fidesz einen auf dessen positiver Bilanz gestützten Wahlkampf doch verliert allerdings die Wahlen zugunsten der Liberalen und Sozialisten, die vor allem in den Medien eine sogenannte „Black PR“-Kampagne geführt haben, indem sie die Regierung systematisch verunglimpften. Viktor Orbán und der Fidesz, die erwartet hatten, die Wahlen zu gewinnen, werden in die Opposition relegiert, was die Partei erschüttert. Viktor Orbán verliert das Vertrauen eines Teils seiner Wählerschaft und manche kündigen schon das Ende seiner politischen Laufbahn an. Währenddessen ersetzen die an die Macht zurückgekehrten Liberalen und Sozialisten alle Manager der öffentlichen Medien durch ihnen nahestehende Personen. Der sozialistische Ministerpräsident Péter Medgyessy reformiert die Finanzierung der öffentlichen Medien und macht sie dadurch von der Regierung abhängiger. Diese Reform wird weder in Ungarn noch im Ausland großartig kritisiert.
In den Jahren 2004 und 2005 kommen mehrere Akten heraus, die zeigen, wie der Wahlkampfberater der MSZP, ein Amerikaner, mit der Führung des öffentlichen Fernsehens und der nationalen Presseagentur MTI darüber spricht, dass die Botschaften der Regierung „bei der Bevölkerung nicht gut genug ankommen“.
Es ist in diesem Zusammenhang, dass Viktor Orbán erklärt, dass er sich wünschen würde, dass das öffentliche Fernsehen in Ungarn ähnlich sei wie in Italien, sprich „weder links noch rechts“. Da dieses Projekt nicht zustandekommen konnte, ist es also der Schatzmeister und langjährige Freund Viktor Orbáns, Lajos Simicska, ein geschickter Geschäftsmann, der damit beauftragt wird, einen Fidesz-nahen Informationskanal ähnlich wie CNN bzw. BBC World News aufzubauen, um endlich über einen befreundeten Sender und eine entsprechende Unterstützung bei künftigen Wahlen zu verfügen. Und so entstand Hír TV im Jahr 2003. Es folgen die Rundfunksender Magyar Katolikus Rádió 2005 (dessen für 1996 geplante Gründung von den sozialistischen Regierungen verzögert wurde) und Lánchíd Rádió 2007. Noch bedeutender ist nach jahrelangem Ringen die erfolgreiche Übernahme von Magyar Hírlap 2006 und Echo TV, einem zweitrangigen Kabelfernsehsender.
Acht Jahre lang befinden sich Viktor Orbán und der Fidesz in der Opposition und versuchen, ihre Kommunikationswerkzeuge zu konsolidieren, um die erdrückende Dominanz der liberalen Linken zu kontern. Die Ereignisse vom Herbst 2006 – Krawalle in Budapest infolge der Verbreitung von polemischen Äußerungen des liberal-sozialistischen Ministerpräsidenten Ferenc Gyurcsány – dienen dem Fidesz als Sprungbrett, der seitdem bis heute (Anfang 2020) sämtliche landesweite Wahlen gewonnen hat.
2010: Rückkehr Orbáns an die Macht
Im Jahr 2010 kommt der Fidesz triumphal an die Macht zurück und erreicht sogar eine Verfassungsmehrheit von zwei Dritteln der Sitze im Parlament. Die ungarische Gesellschaft wurde durch die desaströse Führung der liberal-sozialistischen Regierungen traumatisiert, die das Land 2006 und 2008 an den Rand des Ruins gebracht haben bzw. eine sehr harte Sparpolitik und eine bedeutende Inflation aufzwangen. Bei den Wählern des Fidesz und der radikalen Nationalisten des Jobbik heißt es: „Nie wieder die Linke!“
Allmählich werden die post-kommunistischen, sozialistischen und liberalen Führungskräfte aus den großteils öffentlichen Organen entfernt. Aber vor allem beginnt dann eine neue Offensive in der Medienlandschaft. Während manche immer noch darüber debattieren, ob es sich um die Fortsetzung des „zweiten Medienkriegs“ oder tatsächlich um einen dritten handelt. Tatsache ist, dass der starke Mann von Budapest sich viel effizienter in seinem Medienkampf einsetzt.
Aufbau eines Mythos: „Es gibt keine Pressefreiheit in Ungarn mehr“
Im Jahr 2010 startet die konservative Regierung eine Reform des öffentlichen Fernsehens und – genauso wie einst 2002-2010 die Liberal-Sozialisten – ersetzen ihrerseits sämtliche Führungskräfte der öffentlichen Medien durch Fidesz-nahem Personal. Der Fidesz lässt dann ein in Ungarn und im Ausland gelinde gesagt umstrittenes Mediengesetz verabschieden. Als Baustelle Nr. 1 der Regierung Orbán II zwingt dieses Gesetz die Journalisten dazu, ihre Quellen in Fällen, die die nationale Sicherheit betreffen, den Behörden bekannt zu geben, und droht ihnen mit riesigen Geldstrafen im Falle von Desinformation – wobei dieser Passus ziemlich schwammig formuliert wird und daher eine sehr freie Interpretation erlaubt, was genau darunter zu verstehen sei. Allerdings kam dieser Aspekt des Gesetzes nicht zur Anwendung, außer für Faktenfehler, die von der Justiz anerkannt wurden. Dieses Gesetz sieht die Gründung einer Nationalen Behörde für Medien und Nachrichtenübermittlung (Nemzeti Média- és Hírközlési Hatóság, NMHH) – ähnlich dem Rundfunkrat in Deutschland bzw. dem Stiftungsrat des ORF in Österreich – aus für neun Jahre ernannten Fidesz-nahen Mitgliedern, regelt die Werbung und vor allem organisiert die öffentlichen Medien von Grund auf neu.
Die vier öffentlichen Medien (der Radiosender Magyar Rádió, der Fernsehsender MTV, der Fernsehsender für die Auslandsungarn Duna Televízió und die nationale Presseagentur MTI) werden restrukturiert; etwa tausend Mitarbeiter werden gekündigt und eine neue regierungsnahe Führung wird ernannt. Ein gemeinnütziger Medienverwaltungs- und Treuhandfonds (Médiaszolgáltatás-támogató és Vagyonkezelő Alap, MTVA) wird gegründet, um die öffentlichen Medien zu verwalten und Csaba Fazekas, ehemaliger Direktor von Hír TV, wird an dessen Spitze ernannt.
Die linksliberale Opposition und die ähnlich gesinnten Medien organisieren eine große Kampagne gegen diese Reform Orbáns, die die öffentlichen Medien auf die konservative Seite fallen lässt. Die Tageszeitung der radikalen Linken, Népszabadság, veröffentlicht Anfang 2011 unumwunden auf ihrer Titelseite in allen Amtssprachen der Europäischen Union: „Es gibt keine Pressefreiheit in Ungarn mehr“. Hillary Clinton ruft ihre ungarischen Freunde auf, die Verfassung zu ändern und Guy Verhofstadt findet dieses neue Gesetz inakzeptabel, während Daniel Cohn-Bendit meint: „Dieses Gesetz wurde mit der eindeutigen Absicht geschaffen, die Medienaktivitäten in Ungarn einzuschränken und die kritische Kontrolle der Regierung zu begrenzen, und das im Rahmen einer generellen Tendenz zur Einschränkung des Pluralismus in Ungarn. Das widerspricht den Grundprinzipien der EU, wie sie in den EU-Verträgen und der Grundrechte-Charta festgelegt sind.“
Die OSZE, Deutschland und weitere Organisationen zeigen sich besorgt. Infolge einer Untersuchung findet die Europäische Kommission allerdings nichts auszusetzen.
Orbán gewinnt an Boden, Opposition und linke Medien radikalisieren sich
Im Jahr 2016 kündigt Viktor Orbán seine Vision öffentlich an: „Es gibt vier Sektoren, wo es notwendig ist, dass das nationale Kapital das internationale Kapital überragt. Es handelt sich um Medien, Banken, Energie und Einzelhandel.“ An der Spitze dieser Liste: die Medien. Gemäß dem konservativen Ministerpräsidenten soll man den ausländischen Einfluss in den Medien einschränken.
Da die ungarische Presse nicht subventioniert wird, untersteht sie den Marktgesetzen. Und das wird die ungarische Regierung ab 2010 benutzen, um ihre Unterstützung in der Presse zu steigern.
So wie Antall gerade nach der Wende wird Orbán damit beginnen, die Vergabe von Werbeanzeigen dafür zu benutzen, um bestimmte Medien unmittelbar zu finanzieren. So deckte die regierungsnahe Tageszeitung Magyar Idők 2018 85% ihrer Finanzierung durch Anzeigen der Regierung – amtliche Bekanntmachungen über Regierungsprogramme bzw. nationale Konsultationen. Dieser Geldsegen kam allerdings auch feindlichen Medien zugute wie der linksliberalen Tageszeitung Népszava, die trotz einer überwiegenden Finanzierung durch ihre Leserschaft die Meinung vertritt, dass diese indirekte Unterstützung durch die Regierung die Selbstzensur fördere. Währenddessen veröffentlichen berühmte konservative Journalisten, allen voran István Lovas – ehemaliger Dissident und Mitarbeiter von Radio Free Europe, ehemaliger Student (mit Abschluss) von Sciences Po Paris und Spezialist für internationale Beziehungen – zahlreiche Kolumnen, um die Selbstzensur der Konservativen anzuprangern, die sich den liberalen Tabus und der linken Political Correctness unterwerfen.
Was die Printmedien anbelangt, so ist ihr Rückgang am Anfang dieses Jahrhunderts kein ungarisches Spezifikum. Der Fidesz ergriff die Gelegenheit, um diesen, um gewisse Schichten der Bevölkerung zu erreichen, noch strategischen Markt zu dominieren: die ungarische Regierung entwickelt nach und nach eine Strategie, um die gesamte ungarische Tagespresse aber auch zahlreiche lokale Gratismedien zu kontrollieren. Im Visier: die Pensionisten und die ländlichen Wähler.
6. Februar 2015, der „G-Tag“
Doch dann kommt der 6. Februar 2015, der sogenannte „G-Tag“. Lajos Simicska, ein Oligarch und treuer Unterstützer Viktor Orbáns, lässt durch die Presse wissen, dass er seinem Jugendfreund, dem gegenwärtigen ungarischen Ministerpräsidenten, den Krieg erklärt. Die unklare Ursache des Konflikts stammt angeblich aus dem Jahr 2015: die realistischste Theorie behauptet, dass eine von der Regierung initiierte Gesetzesänderung bezüglich des Satzes der Werbesteuer die Ursache des Konflikts sei. Infolgedessen gewährt der gewöhnlich sehr diskrete Lajos Simicska eine Reihe von Interviews an die Oppositionsmedien und wiederholt überall einen auffallend vulgären Satz – der für die kommenden Jahre den Ton angibt: „Viktor Orbán egy geci“ [Viktor Orbán ist ein Arschloch, NdR]. Es ist der „G-Tag“ (G wie geci, der eine neue Wende in der ungarischen Politik- und Mediengeschichte einleitet.
Von da an führt Herr Simicska einen „totalen Medienkrieg“ gegen Viktor Orbán. Die Fidesz-nahen Mitarbeiter von Hír TV werden fristlos gekündigt. Herr Simicska lässt ebenfalls die redaktionelle Ausrichtung anderer seit 2002 wichtigen rechten Medien ändern: Lánchíd Rádió, Heti Válasz und die renommierte Magyar Nemzet werden innerhalb kürzester Zeit regierungskritisch. Simicska nähert sich schließlich der rechtsradikalen Jobbik an, die gerade ihre 180-Grad-Wende ansetzt, und bietet ihr eine bisher nicht dagewesene Präsenz in der Presse mit dem erklärten Ziel, den Fidesz 2018 von der Macht wegzudrängen.
Lőrinc Mészáros tritt auf
Der Fidesz gelangt plötzlich in eine heikle Situation, da er nun seine Flaggschiffe in der Medienlandschaft verloren hat – ihm bleiben nur noch die öffentlichen Medien. Diese Situation wird zur harten Durchführung der Strategie Orbáns führen. Er begünstigt – auf legalem Weg – den Bürgermeister von Felcsút – seiner Heimatgemeinde –, Lőrinc Mészáros, und macht aus ihm einen neuen Oligarchen seines Vertrauens. Als Unternehmer und Gasinstallateur wird er blitzschnell sehr reich, nachdem er – ab 2010 aber besonders ab 2017 – den Zuschlag bei bedeutenden Ausschreibungen erhält. 2019 wird er zum reichsten Mann in Ungarn und zum ersten Euro-Milliardär des Landes. Forbes reiht ihn auf den 2057. Rang der reichsten Menschen in der Welt.
Im Jahr 2016 wird die Gesellschaft Mediaworks Kft., Eigentümerin der sich auf Talfahrt befindenden linksradikalen Zeitung Népszabadság, von der Gesellschaft Opimus Prime Zrt. gekauft, die apriori mit Herrn Mészáros verbunden ist. Wie dem auch sei, wird die Zeitung – deren Auflage von 460.000 im Jahr 1989 auf 37.000 im Jahr 2016 geschrumpft war – liquidiert, was von der Opposition als eine politische Maßnahme des Fidesz gegen die „unabhängige Presse“ betrachtet wird.
Lőrinc Mészáros wird allmählich neue unterstützende Medien für den Fidesz aufbauen. Schließlich nimmt diese Strategie im Sommer 2018 Gestalt mit der Gründung einer Holding namens KESMA (Közép-Európai Sajtó és Média Alapítvány – dt. Mitteleuropäische Presse- und Medienstiftung) mit einem Kapital in Höhe von 88 Millionen Euro. Dieser Mediengigant – auf ungarischer Ebene – vereinigt sowohl Printmedien wie Fernseh- und Radiosender bzw. sog. Internet Pure Players und definiert sich als nationale Antwort (die Stiftung wird von der Regierung als von strategischem Interesse erklärt) zu den Medienkonzernen wie Bertelsmann (RTL), The Scott Trust Limited (The Guardian) bzw. FAZIT-Stifung Gemeinnützige Verlagsgesellschaft mbH. Über die regionale Tagespresse und zahlreiche Gratiszeitungen hinaus besitzt die KESMA ebenfalls Hír TV bzw. Origo.hu, die 2015 von der Deutschen Telekom gekauft und in ein regierungsnahes Medium verwandelt wurde. Ebenfalls 2015 kaufte der Fidesz-nahe Produzent Andi Vajna (u.a. Terminator) den Fernsehsender TV2. Dort werden die Änderungen der redaktionellen Ausrichtung etwas diskreter durchgeführt, doch gemäß einer 2017 durchgeführten Umfrage betrachten 47% der Zuschauer, dass dieser Kanal pro-Fidesz sei.
Radikalisierung der linken Opposition
U.a. von Herrn Simicska gedrängt und vom serbischen Aktivisten Srđa Popović – 2017 zu Besuch in Budapest – in ihrer Strategie der gemeinsamen Front und des totalen Kriegs gegen den Fidesz ermutigt, verschärfen Opposition und linke Medien den Ton und gemäß dem Wunsch von Lajos Simicska führen sie einen präzedenzlosen Krieg gegen die Regierung. Der Ton wird schärfer und da das ungarische Recht ziemlich permissiv ist, sind die unbegründeten Anschuldigungen – auf beiden Seiten – genauso zahlreich wie die Diffamierungskampagnen. Die Angriffe ad hominem, die Fake News und die Verbreitung von manchmal obskuren und unverschämten Gerüchten häufen sich sowohl in den oppositionellen wie in den Fidesz-nahen Medien. Origo wird zu einem der Fidesz-nahen Medien, die am häufigsten vor Gericht verurteilt werden, Gegendarstellungen veröffentlichen und Bußgelder zahlen müssen. Auf der Seite der Opposition sind es Index, HVG, 24.hu bzw. 444.
Parallel zum Narrativ bezüglich der „Diktatur“, der „Korruption“, vom „Ende der Freiheit“ – die erneut 2018 und 2019 angekündigt werden – bezeichnen sich die Oppositionsmedien beharrlich als „unabhängige Medien“ im Gegensatz zu den Medien, die offensichtlich der konservativen Regierung nahestehen – und bilden dadurch absichtlich eine Vermischung zwischen den Begriffen „unabhängig“ und „regierungsfeindlich“. Während der Fidesz allerdings die Kontrolle über eine gewisse Anzahl von Medien übernommen und sich ein kleines Medienimperium aufgebaut hat – die KESMA besitzt so um die 500 Medien –, verlieren die Oppositionsmedien immer mehr bis zum Anschein der Unbefangenheit. Besonders während des Wahlkampfs, der anderthalb Jahre lang dauert, boykottieren die Politiker beinahe systematisch die Medien der „anderen Seite“. Dieser gegenseitige Boykott führt dazu, dass ein Grabenkampf mit zwei politischen Lagern und zwei Armeen von Medien sich breitmache.
Im April 2018 gewinnt der Fidesz erneut die Wahlen mit einer Verfassungsmehrheit – zum dritten Mal in Folge. Lajos Simicska wirft das Handtuch, gibt die meisten seiner Geschäfte und Medien auf. Die Fidesz-nahen Kreise kaufen alles auf, was sie nur können: Hír TV wird gekauft und übernimmt Echo TV bzw. in einem offensichtlichen Rachezug wird die Belegschaft von Hír TV in umgekehrter Richtung gesäubert. Magyar Nemzet wird urplötzlich drei Tage nach den Wahlen von dessen Eigentümer aufgegeben und eingestellt. Am 6. Februar 2019 (dem Jahrestag des „G-Tags“) startet die neue Magyar Nemzet mit deren früherem 2015 von Herrn Simicska aus politischen Gründen abgesetzten Chefredakteur an ihrer Spitze. Die Zeitung verwertet Magyar Idők und übernimmt den Namen dieser historischen renommierten Tageszeitung. Lánchíd Rádió wird eingestellt, ebenfalls Heti Válasz zwei Monate nach den Wahlen. Der mit Agitprop-Methoden propagierte Anti-Orbán-Hysterie folgt eine Zeit der Unentschlossenheit für die Opposition, während der Fidesz von einem Wahlsieg berauscht wird, den er nicht so massiv erhofft hatte.
Aufbau im Ausland eines einseitigen und feindlichen Narrativs
Die Suche nach ausländischer Unterstützung durch die liberalen Kräfte in Ungarn ist kein neues Phänomen. Schon 1992, da er Bitten von George Soros ablehnte, wurde Orbán für die internationale Presse verdächtig, nachdem er zuvor deren Liebling gewesen war.
Die besorgten Berichte von Institutionen, von NGOs und von mit den Soros-Netzwerken bzw. mit der CIA oder der Bundesrepublik Deutschland verbundenen Organisationen häufen sich insbesondere bezüglich der „Pressefreiheit“. Angesichts der politischen Geschicklichkeit Orbáns, der vom Volk unterstützt wird, versuchen die liberalen Netzwerke, Druck von außen auszuüben. Dazu werden sie durch zahlreiche ausländische Stellen geholfen: die deutsche, französische, britische, amerikanische und sonstige Presse wird zum Sprachrohr von einigen Journalisten und in der internationalen Kommunikation spezialisierten Aktivisten.
Die wenigen in Ungarn anwesenden Korrespondenten und ihre heimischen Mitarbeiter werden ständig als beliebte Experten und Denker von der überwiegend Orbán-feindlichen westlichen Presse in Anspruch genommen. In französischer Sprache sind vor allem die radikal linksliberalen Journalisten Florence La Bruyère und Joël Le Pavous die Hauptansprechpartner und Informationsquellen für ihre Kollegen in Frankreich. Allerdings kann man auch den Mediapart-nahen unabhängigen linken Pure Player Courrier d’Europe Centrale nennen, dessen Redakteure ebenfalls von ihren französischsprachigen Kollegen der gleichen politischen Richtung in Anspruch genommen werden.
Die meisten fremdsprachigen Medien, die über Ungarn berichten, sind somit regierungsfeindlich eingestellt. Seitens des Fidesz kommt die Reaktion ziemlich spät bzw. ist sie sehr zentralisiert und hängt unmittelbar von der Regierung ab: So werden About Hungary und Hungary Today direkt von den Behörden verwaltet. In französischer Sprache kann einzig der unabhängige Pure Player Visegrád Post, der der französischen Libertés Gruppe nahesteht als regierungsnah betrachtet werden.
Konkrete Bestandsaufnahme
Laut der Seite der von der Open Society Foundations unterstützten NGO Mérték stellte der Anteil der öffentlichen Medien bzw. der KESMA- und anderen regierungsnahen Medien 77,8% des Medienkapitals im Jahr 2017 dar, gegen 22,2% für die „unabhängigen“ (sprich oppositionellen) Medien. Diese unsicheren Zahlen werfen Fragen bezüglich des Kräfteverhältnisses innerhalb der ungarischen Medien auf.
Allerdings werden diese Zahlen von denjenigen relativiert, die vom regierungsnahen Institut Nézőpont veröffentlicht wurden. So zeigte Nézőpont Ende 2018 die absoluten Marktanteile der regierungsnahen bzw. regierungskritischen Medien für das Jahr 2018:
Vergleich der Marktanteile der Medien:
- Regierungsfeindlich: 4.440.630
- Regierungsnah: 3.092.527 (davon KESMA: 2.232.062)
Pro Medienkategorie:
- Fernsehen: 54% regierungsfeindlich, 46% regierungsnah
- Radio : 53% regierungsfeindlich, 47% regierungsnah
- Papier : 28% regierungsfeindlich, 72% regierungsnah
- Internet : 71% regierungsfeindlich, 29% regierungsnah
Insgesamt werden die Marktanteile im allgemeinen Ende 2018 wie folgt verteilt: 59% für die regierungsfeindlichen und 41% für die regierungsnahen Medien. Aufgrund von möglichen marginalen Rechenfehlern kann man rund von einer 50/50-Verteilung sprechen.
Dies alles wird von einer ziemlich großen Vitalität der Presse begleitet, während zahlreiche neue Medien in den letzten Jahren gestartet wurden. Als Beispiel können wir somit die neue Wochenzeitung Magyar Hang nennen, die von den liberalen „Waisenkindern“ der 2018 eingestellten Magyar Nemzet gegründet wurde; den linksliberalen und unabhängigen Pure Player Azonnali, der durch seine Recherchearbeiten, seine Reportagen und eine größere Unbefangenheit versucht, sich den anderen liberalen Seiten gegenüber zu profilieren; Neo-Kohn, ein rechtsliberales, pro-israelisches Medium; die liberal-zentristische, regierungsfeindliche Seite Válasz online als Erbe der eingestellten Heti Válasz; aber auch Vadhajtások, ein unabhängiges, etwas schräges, volksnahes und oft vulgäres Medium, das von Pro-Orbán-Fussballfans geleitet wird, die oft „Videotrolling“ bei linken Veranstaltungen treiben und dazu beitragen, derartige Informationen, wie Fdesouche in Frankreich, in Ungarn zu verbreiten.
Im Internet
Im Netz ermöglicht eine kurze Rundschau, eine gute Ahnung der Kräfteverhältnisse zu bekommen. Im November war die Verteilung der bedeutendsten politischen Online-Medien unter den 50 meist besuchten Seiten wie folgt:
Regierungsnah |
Regierungsfeindlich | ||||
Rang | Name | Einzelbesuche pro Tag | Rang | Name | Einzelbesuche pro Tag |
4e | Origo.hu | 710 000 | 1e | Index.hu | 843 849 |
24e | Borsonline.hu * | 195 253 | 2e | Blikk.hu * | 733 068 |
44e | Tv2.hu * | 99 829 | 3e | 24.hu | 727 751 |
6e | Hvg.hu | 460 160 | |||
10e | 444.hu | 368 135 | |||
18e | Napi.hu | 238 646 | |||
26e | Atv.hu * | 161 501 | |||
41e | Rtl.hu * | 103 788 | |||
50e | Rtlmost.hu * | 91 752 |
* Diese Seiten sind nicht vorwiegend politikorientiert doch berichten sie regelmäßig über politische Fragen.
Fazit: plumpe Methoden auf der Seite Orbáns, verdeckter Aktivismus auf der anderen Seite
Wie wir es gesehen haben, ist die Lage der Medien in Ungarn etwas komplexer, als man es uns gewöhnlich glauben lässt. In Ungarn gibt es tatsächlich Meinungsfreiheit und diese wird sogar weniger als in Frankreich und allgemein in Westeuropa eingeschränkt. Allerdings ist die ungarische Medienlandschaft durch zwei feindlich gegenübereinander stehende Lager stark polarisiert, die sich in einem erbitterten Einflusskampf gegeneinander befinden.
Es gibt einerseits einen seit dreißig Jahren ununterbrochen dominanten liberalen Pol, der sich auf einer Linie mit den bedeutendsten Medien der westlichen Länder befindet bzw. die offene Gesellschaft und die neoliberale Wirtschaft fördert. Unter den sukzessiven Regierungen Viktor Orbáns hat die liberale Presse seit 2010 allmählich einen Großteil ihres Einflusses verloren, leidet unter dem Mangel an heimischer öffentlicher Unterstützung und spielt die selbstzugewiesene Rolle einer Gegenmacht gegen Viktor Orbán und dessen „Regime“, um die dabei verwendete Terminologie zu zitieren. Das Lager der ungarischen liberalen Medien verfügt über große Unterstützung in den westlichen politischen, kulturellen und akademischen Kreisen, ist die Informations- und Meinungsquelle der westlichen Medien und ist vor allem beim Fernsehen, beim Rundfunk und bei den Online-Medien stark, wo es unbestritten dominant ist. Ihre Zielgruppen sind die globalisierten Eliten aus den Innenstädten, die Führungskräfte, die Angestellten aus den Dienstleistungsbranchen in den Städten, die Studenten und einen Teil der Unterschicht.
Andererseits gibt es einen regierungsnahen Medienpol, der zwar von Jahr zu Jahr stärker wird, doch allerdings trotz einer über 20 Jahre alten Strategie, die seit 2010 fortlaufend durchgeführt wird, immer noch Mühe hat, seine Verspätung aufzuholen. Das „illiberale“ Lager des Herrn Orbán zieht Nutzen aus den tiefen Veränderungen des Printmedienmarkts und konnte dadurch im Bereich der regionalen Tagespresse dominant werden, wo es 72% der Leserschaft darstellt. Seine Zielgruppen sind die ländliche Bevölkerung, die Handwerker und Unabhängigen, die Pensionisten und die mittleren Klassen sowie auch einen Teil der Unterschicht.
Die Strategie des Fidesz fügt sich in eine Logik der politischen Förderung des Volkes und der ländlichen Regionen ein, im Gegensatz zu den liberalen Medien, die sich auf die Städter und die Jungen konzentrieren und daher im Internet überrepräsentiert sind, wo die regierungsnahen Kräfte die Formel nicht finden konnten, um die erdrückende Dominanz der Oppositionsmedien anzugreifen. Ein weiter philosophisch-politischer Unterschied, der im Dezember 2019 vom Staatssekretär für öffentliche Diplomatie und Beziehungen Zoltán Kovács deutlich formuliert wurde, ist, dass es nicht die Rolle der Presse sei, die Regierung zu kontrollieren, und dass die „unabhängigen“ Journalisten eigentlich politische Aktivisten seien.
Feindliche ausländische Medien
Ein weiteres bedeutendes Element, das man allerdings nicht messen kann, ist der Einfluss der ausländischen Medien und zwar im Bezug auf beide Lager. Da sie über kein amtliches Sprachrohr in der Art einer Presseagentur verfügt – der Versuch, eine internationale Presseagentur namens V4N4 – in der Hand von regierungsnahen Personen bzw. von Mediaworks – aufzubauen, ist derzeit gescheitert) und da sie keine Influencer außerhalb des ungarischsprachigen Gebiets kontrolliert, befindet sich die ungarische Regierung bei den westlichen Mainstream-Medien in einer Situation der Schwäche bzw. scheint nicht in der Lage zu sein, den Trend umzukehren – wahrscheinlich mangels Kenntnisse, wie die Mechanismen der Einflussnahme im Westen funktionieren.
Dieser Mangel an Kenntnissen bezüglich der zeitgenössischen Mechanismen der Einflussnahme und der Kommunikation ist einer der Hauptschwachpunkte des „Mediensystems Orbáns“. Die steile Hierarchisierung und die Steifheit des Orbán-nahen Medienblocks, die durch die bescheidene Größe des Landes kristallisiert wird und daher an nützlichen und begabten Elementen mangelt, die Angst vor weiterem Verrat und ein Minderwertigkeitskomplex den Sozialliberalen gegenüber bringen die ungarische Regierung dazu, alles überwachen und lenken zu wollen. Die regierungsnahe doch einigermaßen unabhängige Seite Pesti Srácok bezeichnet als „Papagei-Kommando“ diese Neigung der regierungsnahen Medien endlos das Gleiche zu wiederholen bzw. die copy and paste Funktion in peinlicher Weise zu mißbrauchen. Diese Vorgehensweise erinnert an alte Kommunikationsmethoden in einer Zeit, wo man es Propaganda nannte, bevor der Terminus einen abwertenden Beigeschmack bekam.
Die erzwungene, wiederholte Kommunikation bzw. das Einhämmern mancher Botschaften (bezüglich der Migranten, Brüssel oder Soros) führten zum Ende der Unterstützung durch einen Teil der konservativen Intelligentia und ermöglichen es nicht oder kaum, neue Leser, Zuschauer bzw. Wähler dazuzugewinnen.
In diesem von der Ambition Viktor Orbáns gegen die Liberalen im Medienberei initiierten Grabenkampf scheint es allerdings eine Veränderung zu geben. Infolge der Gemeinde- und Komitatenwahlen vom Oktober 2019, bei denen die Opposition in zehn von 23 Großstädten bzw. vor allem in der Hauptstadt Budapest das Rennen für sich entscheiden konnte, hat der Fidesz seine Strategie u.a. öffentlich und durch dessen Influencer in verschiedenen Artikeln und Sendungen hinterfragt, indem zugegeben wurde, ungeschickt gewesen zu sein bzw. teilweise über das Ziel hinaus geschossen zu haben. Parallel dazu haben manche neue Bezirksvorsteher bzw. Bürgermeister aus der (gegen den Fidesz) vereinigten Oppositionskoalition schon restriktive Maßnahmen getroffen bzw. lokal verteilte regierungsnahe Zeitungen bedroht. Das Jahr 2020 beginnt übrigens sehr stark mit der Antwort Orbáns an einen Journalisten von Index.hu während seiner jährlichen „filterlosen“ Pressekonferenz. Da der Journalist ihn über die Dominanz der Orbán-nahen Presse befragte, ließ der ungarische Ministerpräsident anmerken, dass die regierungsfeindlichen Medien einmal mehr in der Mehrheit waren: „Wenn wir da plötzlich eine Abstimmung organisieren würden, um zu wissen, ob diese Regierung ihre Arbeit fortsetzen soll oder nicht, dann würde ich die Wahl mit 20% gegen 80% verlieren“.
Echte Meinungsfreiheit aber Verschlechterung der Qualität
Im Hinblick auf die Meinungsfreiheit bzw. auf die Pressefreiheit ist also die Lage der Presse in Ungarn gar nicht so besorgniserregend. Es gibt kaum Länder, die sich damit brüsten können, zwei politische Lager zu haben, die dermaßen im Rahmen des Rechtsstaats gegeneinander auftreten. Es gibt auch wenige Länder, die sich damit brüsten können, eine Presse zu besitzen, die so lebhaft ist und soviel gelesen wird. Allerdings ist die allmähliche Verschlechterung der Qualität – diesbezüglich stellt HVG das traurigste Beispiel dar – in der Tat besorgniserregend. Doch hier auch ist das kein ungarisches Spezifikum. Die vom Online-Kult der Unmittelbarkeit und der Besessenheit, über alles berichten zu wollen, kontaminierte Presse zeugt einer allgemeinen Verschlechterung ihrer Qualität, in welchem politischen Lager auch immer. Sensationsgier, Oberflächlichkeit, Hastigkeit, Schwarzmalerei, Übertreibung, Übernahme von Elementen des Social Engineering, Angriff ad hominem, Vermehrung der Meinungsartikel und Verharmlosung der Beschimpfung sind die echten Gefahren, denen die ungarische Presse ausgesetzt wird.
Für diejenigen, die die ungarische Sprache beherrschen, kann man diese Lage dank der ungarischen Beobachtungsstelle des Journalismus noch näher verfolgen.