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Wird die Gesundheitskrise das serbische EU-Mitgliedschaftsprojekt beenden?

Lesezeit: 6 Minuten

Serbien – Während wir uns mitten in einer Gesundheitskrise befinden und Fragen über das Management dieser Pandemie durch unsere Behörden auftauchen, ist es interessant zu untersuchen, wie ein jüngerer und weniger mächtiger Staat (gegründet 2006 bzw. mit einem BIP von 51,5 Milliarden Dollar für 7 Millionen Einwohner) sich zu mobilisieren wusste, um dem Virus entgegenzuwirken.

Hinter dem Staat scheint eine ganze Nation den Macronʼschen Slogan „Wir führen Krieg“ wörtlich zu nehmen. Es war aber auch der Mangel an europäischer Solidarität, der den serbischen Präsidenten Aleksandar Vučić dazu veranlasste, sich entschlossen anderen Akteuren zuzuwenden, wie dem russischen großen Bruder oder dem mächtigen chinesischen „Cousin“.

Ein Staat in Schlachtordnung

Während das Virus am 9. April in Frankreich beinahe 11.000 Tote und rund 100.000 Infizierte hinterlassen hatte, gab es in Serbien nur 61 Tote und weniger als 2.500 Infizierte. Hinter diesen makabren Zahlen steckt jedoch vor allem die Kluft zwischen der abwartenden Haltung Frankreichs und der Reaktionsfähigkeit der serbischen Behörden.

Tatsächlich hatten die Behörden in Belgrad bereits vor dem ersten Todesfall am Covid-19 in Serbien am 21. März drastische Maßnahmen ergriffen:

  • Verbot jeglicher Beförderung zwischen Städten, ausgenommen Güterbeförderungsfahrzeuge.
  • Der Ausnahmezustand wurde am 20. März mit Ausgangssperre zwischen 17:00 Uhr und 5:00 Uhr verordnet. Senioren dürfen zwischen 4:00 Uhr und 7:00 Uhr ausgehen, um in Supermärkten einzukaufen, die speziell für sie geöffnet sind (die Regierung hat eine Liste mit mehr als 2.000 Einrichtungen veröffentlicht). Alle Geschäfte außer Supermärkten, Lebensmittelgeschäften und Apotheken sind geschlossen. Parks und Grünflächen dürfen nicht betreten werden.
  • Schließung aller Grenzen und Militärpatrouillen entlang der Grenzen und in Straßen von Großstädten.
  • Veröffentlichung einer amtlichen Liste von Produkten und Lebensmitteln, deren Preise nicht erhöht werden dürfen (alles, was unbedingt erforderlich ist, wie Brot, Milch, Mehl, Zucker, Eier, aber auch  Hygieneartikel).
  • Quarantäne für alle serbischen Staatsbürger, die aus dem Ausland zurückkehren (14 Tage, außer für diejenigen, die aus Spanien und Italien zurückkehren und für die eine Quarantäne von 28 Tagen angeordnet wurde)
  • Ausgehverbit für alle Personen über 65 Jahren (außer für Einkäufe am frühen Morgen) – unter Strafe einer Geldbuße von ca. 1.000 Euro und/oder einer Haftstrafe.
  • Moratorium für die Begleichung von Rechnungen für die Monate Februar, März und April (Strom, Wasser usw.) für Unternehmen und Haushalte.

Vor dieser Grenzschließung gab es eine starke Rückkehrwelle von 35.000 serbischen Gastarbeitern aus Österreich, Deutschland und der Schweiz. Alle sollen systematisch 14 Tage in militärmedizinischen Lagern an den Grenzen verbringen.

Noch vor dem ersten Todesfall wurden in jeder größeren Stadt Hotels und große Sporthallen requiriert, um die Covid-19-Patienten aufzunehmen und ein erstes Screening durchzuführen, bevor diejenigen, deren Zustand dies erfordern sollte, in Intensivstationen geschickt werden. In Belgrad wurde die Kongress- und Messehalle (Sajmište) […] in ein riesiges Pflegezentrum mit 3.000 Betten – unter dem Schutz der Armee – verwandelt.

Gleichzeitig hämmern private und öffentliche Fernsehsender Präventionsbotschaften aus. Basketball- oder Fußball-Promis fordern ihre Mitbürger auf, zu Hause zu bleiben, und sagen, dass sie auf diese Weise Meister und Gewinner der Krankheit werden („Mi smo šampijoni“). Aus diesen Botschaften geht ein echter patriotischer Impuls hervor – manche würden sagen, er werde vom Staat instrumentalisiert.

Dieses starke Management der Krise zeigt durchaus, wie der Präsident die inneren Angelegenheiten leitet. Aleksandar Vučić, der seit 2014 an der Macht ist und aus den Reihen der nationalistischen Rechten stammt, ist jetzt ein überzeugter Pro-Europäer. Wenn er auch heute im Kampf gegen die Pandemie an vorderster Front stehen will, erinnern wir uns noch daran, dass er den Covid-19 anfangs auf die leichte Schulter genommen hatte. Die Gesundheitskrise bot dem serbischen Präsidenten auch die Gelegenheit, die Medien besser zu kontrollieren, während der für den 26. April geplante (und seitdem wegen der Gesundheitskrise verschobene) Wahlkampf für die Parlamentswahlen gerade erst begonnen hatte.

Der serbische Präsident Aleksandar Vučić. Bild: Facebook / Aleksandar Vučić

Eine vereinte und mobilisierte Gesellschaft

Seit Beginn der Pandemie haben zahlreiche Beispiele von Solidarität die Lebenskraft der serbischen Gesellschaft gezeigt. Die Gewohnheit, aufgrund der Erinnerung an die 1990er Jahre – einer Zeit internationaler Embargos und Grenzkriege – zusammenzuhalten, erklärt teilweise diese Zunahme persönlicher Solidaritätsinitiativen der Gemeinschaft gegenüber. Wir können aber auch denken, dass das sozialistische System – wie es seit zwei Monaten in Ländern wie China oder Kuba geschieht – seine Spuren hinterlassen hat.

Die Fluggesellschaft Air Serbia hat täglich mehrere Flugzeuge hinausgeschickt, um serbische Staatsbürger aus Paris, Amsterdam, Doha, Moskau, Zypern bzw. Thessaloniki zurückzuholen. Vergleichen Sie dies mal mit den Zehntausenden französischer Touristen, die auf der ganzen Welt gestrandet sind und gezwungen werden, Rückflugtickets in ihre Heimat zu überhöhten Preisen zu kaufen. Tagtäglich holen Flüge manchmal bis zu einem Dutzend serbischer Touristen ab, die in Mexiko, Kuba oder Malta gestrandet sind, so Aleksandar Vučić in einem Interview mit dem Fernsehsender Prva am Sonntag, den 29. März 2020.

Seit Beginn der Pandemie sind mehr als 100.000 Menschen serbischer Staatsangehörigkeit in das Land zurückgekehrt, darunter 120 medizinische Kräfte. Epidemiologen, die seit vielen Jahren im Ausland gearbeitet haben, sind zahlreich nach Serbien zurückgekehrt, um ihren Landsleuten ohne finanzielle Entschädigung zu helfen. Es gibt unzählige Spenden von berühmten serbischen Sportlern (beginnend mit der Weltnummer 1 in Tennis, Novak Djoković, der eine Million Dollar gespendet hat). Die Solidarität der serbischen Prominenten stieg innerhalb weniger Tage auf sechs Millionen US-Dollar an Spenden an die Krankenhäuser. Diese Bemühungen werden es einem Land, das sich noch im wirtschaftlichen Wandel befindet, ermöglichen, Atemschutzgeräte zu erwerben, die in den kommenden Wochen sehr nützlich sein werden.

Freiwilligenbrigaden patrouillieren systematisch durch Wohngebiete um Kontakt mit Menschen über 65 aufzunehmen und ihnen Lebensmittel bzw. Medikamente zu bringen. Bestehende aus jeweils drei jungen Freiwilligen mit einem Brigadenführer halfen sie der Bevölkerung, insbesondere älteren Menschen, massiv, psychisch fit zu bleiben. Diese Art von Aktionen steht im Einklang mit der „radne akcije“ (Freiwilligenbrigaden), die in der Zeit des sozialistischen Jugoslawiens junge Menschen dazu brachte, freiwillig auf verschiedenen nationalen Baustellen zu arbeiten (beim Bau von Straßen und Eisenbahnstrecken zum Beispiel).

Masken wurden seit zwei Wochen kostenlos an die Bevölkerung verteilt. Sie werden rationiert und in Paketen an jede Familie verteilt, was jedoch im Gegensatz zum Wechsel zwischen Knappheit und unerschwinglichen Preisen im französischen Fall steht. Ein echtes Bewusstsein für die Gesellschaft bedeutet, dass jeder – wie in China – auf der Straße, im Fernsehen oder in der Regierung Handschuhe und eine Maske trägt.

Medizinische Experten aus China wurden am 21. März 2020 nach Belgrad geschickt. Bild: Li Zhen Árpád.

Angesichts der Verzögerungen in der EU ist China ein wichtiger Verbündeter

Montag, 23. März: Aleksandar Vučić begrüßt das erste Flugzeug mit medizinischer Hilfe aus China mit großer Begeisterung und erklärt: „Wenn Serbien keine Ausrüstung hat, dann ist es die Schuld der Europäischen Union“, weil sie den Export von medizinischen Geräten seit Beginn der Krise stark eingeschränkt hat. Und wütend fügt er hinzu, dass die „europäische Solidarität nicht existiert, es ist ein Märchen für Kinder“. Zu diesem Zeitpunkt beschloss der serbische Präsident an einem historischen Wendepunkt, den Chinesen zu vertrauen, „den einzigen, die uns helfen können“. Er geht so weit, die Geburt einer „Freundschaft [anzukündigen], die Jahrhunderte und Jahrhunderte dauern wird“. Seit dieser Rede sind mehrere chinesische Flugzeuge in Serbien gelandet und brachten mehr als 3 Tonnen Masken, viele Atemgeräte, aber auch Ärzte mit.

Der serbische Präsident Aleksandar Vučić begrüßt das chinesische Ärzteteam am 21. März 2020 in Belgrad. Bild: Facebook / Aleksandar Vučić

Russland hat ebenfalls medizinische Ausrüstung sowie Drogentests geschickt . Offensichtlich hat die Europäische Union hier den Zug verpasst. Während sie in früheren Krisen immer rasch anwesenden gewesen war (insbesondere mit 80 Millionen Euro für die Hilfe während der Überschwemmungen von 2014), zeigte sie nun Trägheit und Blindheit angesichts der aktuellen geopolitischen Probleme. Belgrad rief mehrfach nach Hilfe, was zu einem enttäuschenden Ergebnis führte: ein von der EU gechartertes Flugzeug, dessen medizinische Ausrüstung jedoch von Serbien bezahlt wurde.

Auch wenn die EU verspätet aufzuholen versuchte, so waren nur wenige Staaten wie Norwegen den Anforderungen gewachsen.

Dies spricht Bände über das Fehlen einer wirklichen Reaktion der europäischen Behörden auf die aktuelle gesundheitliche Herausforderung. Erinnern wir, dass Serbien in den EU-Beitrittsverhandlungen das am weitesten fortgeschrittene Land auf dem westlichen Balkan (ex-Jugoslawien) ist. Während Aleksandar Vučić bislang ein überzeugter Befürworter der EU-Mitgliedschaft war, scheint die Gesundheitskrise seine Meinung geändert zu haben; somit würde er sich der Entwicklung einer Meinung anpassen, die sich für die europäische Integration immer weniger geneigt zeigt (die Unterstützungsrate, die im Oktober 2003 72% betrug, lag im August 2019 nur bei 53%). Es ist, als ob die EU angesichts ihrer ersten großen Gesundheitskrise nicht mehr existiere, was in Serbien zu Enttäuschungen führte, die zweifellos ihre Spuren hinterlassen werden…

Dieser Artikel wurde ursprünglich auf The conversation France veröffentlicht.