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Aus einer „unsichtbaren“ Verordnung zieht die EVP eine Waffe gegen den Fidesz

Die Magyar Nemzet ist die größte Tageszeitung Ungarns. Die 1938 gegründete Magyar Nemzet (dt. Ungarische Nation) ist eine führende Zeitung der Konservativen und steht der Regierung von Viktor Orbán nahe.

Lesezeit: 4 Minuten

Dieser Artikel ist am 1. März 2021 in der Magyar Nemzet erschienen.

Der Fidesz könnte durch rückwirkend angewandte Regeländerungen bestraft werden.

Am Mittwoch wird die Fraktion der Europäischen Volkspartei (EVP) im Europäischen Parlament  ihren Mitgliedern eine Satzungsänderung zur Abstimmung vorlegen, die in der Praxis die Verpflichtung festschreibt, die Frage der Suspendierung der Mitgliedschaft der Fidesz in der Fraktion zur Abstimmung zu stellen. Nach unseren Quellen im Europaparlament hat die EVP aus einem „unsichtbaren“ Dokument von kaum zwanzig Seiten eine Waffe gegen den Fidesz geschmiedet. Um eine Vorstellung von Manfred Webers Haltung in dieser Angelegenheit zu bekommen, braucht man sich nur daran zu erinnern, wie er bereits im vergangenen Dezember den von Viktor Orbán vorgelegten Kompromissvorschlag unbeantwortet ignoriert hatte. Nach unseren Informationen würden sogar einige Mitglieder der deutschen christdemokratischen Parteien in der Fraktion (CDU/CSU) diese speziell für den Fidesz geschriebene Regelung als rechtlich fehlerhaft ansehen.

„Ich teile dem Fraktionsvorsitzenden mit, dass der Fidesz die Fraktion verlassen muss, wenn die bei der Sitzung der Fraktionsführung und der Leiter der nationalen Delegationen am 26. Februar beschlossenen Bestimmungen zur Abstimmung gestellt werden und die Abstimmung positiv ausfällt.“ Ministerpräsident Viktor Orbán, Vorsitzender des Fidesz, hat sich am Sonntag in einem Brief an den Vorsitzenden der EVP-Fraktion im Europaparlament, Manfred Weber, gewandt. Wie wir kürzlich schrieben, verbirgt die EVP-Fraktion im Europaparlament kaum ihre Bereitschaft, die Verfahrensordnung der Fraktion zu reformieren, um endlich die Suspendierung der Fidesz-Delegation zu erleichtern.

Nach der ursprünglichen Fassung des Änderungsantrags wäre es künftig möglich, ganze Delegationen zu suspendieren und auszuschließen (ein Verfahren, das bisher nur für einzelne Abgeordnete möglich war – NdR.), und zwar mit einfacher Mehrheit der stimmberechtigten EVP-Abgeordneten. Außerdem würde eine automatische Verbindung zwischen der Mitgliedschaft in der europäischen Partei und der Mitgliedschaft in der parlamentarischen Fraktion hergestellt: Jeder Beschluss zur Suspendierung oder zum Ausschluss eines Mitglieds durch Partei oder Fraktion würde dann auch sowohl für Partei und Fraktion gelten.

Dieser letzte Punkt ist offensichtlich für den Fidesz maßgeschneidert, dessen EVP-Mitgliedschaft zwar seit 2019 ausgesetzt ist, aber trotzdem im Wesentlichen seine Arbeit in vollem Genuss seiner Rechte innerhalb der EVP-Fraktion fortsetzt.

Eine gegen den Fidesz geschmiedete Regel

Unseren Quellen zufolge wurde auf der EVP-Sitzung am vergangenen Freitag – auf die sich der ungarische Ministerpräsident in seinem Brief bezieht – klargestellt, dass es weder für die Annahme der Regel über die Suspendierung und den Ausschluss ganzer Delegationen noch für die Annahme der Regel über die einfache Mehrheit eine Zweidrittelmehrheit gibt, und dass die EVP ohne eine solche Zweidrittelmehrheit diese Regeln im Prinzip nicht in ihrer Satzung verankern kann. Die Fraktion plant jedoch, am Mittwoch ein drittes Element – die Regel der Symmetrie zwischen europäischer Partei und Fraktion – zur Abstimmung zu stellen, so dass eine Abstimmung über die Suspendierung der ungarischen Regierungspartei fast unvermeidlich wird.

Wenn eine nationale Partei von der europäischen Partei suspendiert wird, wäre es nach diesem Änderungsantrag obligatorisch, die Frage ihrer Fraktionszugehörigkeit den Abgeordneten zur Abstimmung zu stellen. –

Sie haben eine Regel für einen konkreten Fall gefälscht und wollen sie zudem rückwirkend anwenden.“ Unsere Quelle im EP erklärt das Manöver so: „Bisher war die Geschäftsordnung der EVP-Fraktion ein relativ kurzes Dokument – insgesamt etwa 20 Seiten – dessen Inhalt selbst den Abgeordneten kaum bekannt war. Nun aber wird auf schleichende und rechtlich unkorrekte Weise versucht, sie aufzublähen, indem der Umfang der Geschäftsordnung verdoppelt wird, die bisher beinahe „unsichtbar“ war.

Die Mitgliedspartei mit der verhältnismäßig größten Wählerunterstützung

In seinem öffentlich gemachten Brief erwähnt Viktor Orbán auch die rechtliche Unregelmäßigkeit des Verfahrens. Wie er schreibt, erlaubt die ungarische Auslegung des Begriffs der Rechtsstaatlichkeit keine Rückwirkung bei der Änderung von Vorschriften oder bei der Anwendung von Sanktionen. „Da es Ihnen nicht gelungen ist, genügend Stimmen zu sammeln, um uns zu bestrafen, versuchen Sie nun, die Regeln zu ändern und sie auf ein bereits laufendes Verfahren anzuwenden“ – schreibt der Fidesz-Vorsitzende. (Die Mitgliedschaft des Fidesz in der EVP wurde 2019 ausgesetzt, lange vor der für Mittwoch geplanten Satzungsänderung. Die Fraktionsführung würde also über die Suspendierung der Fidesz abstimmen und beruft sich dabei auf einen Prozess, der fast zwei Jahre zurückliegt und dessen Folgen immer noch andauern, NdR.).

Ein weiteres Argument Viktor Orbáns, das Magyar Nemzet bereits bekannt gemacht hat:

Es waren die ungarischen Wähler, die die Fidesz-Abgeordneten in das Eeuropaparlament delegiert haben, um ihre Interessen auf EU-Ebene zu vertreten.

Diese dreizehn Politiker (die Delegation setzt sich aus zwölf Fidesz- und einem KDNP-Abgeordneten zusammen) leiten ihre Rechte und Pflichten also nicht von der EVP, sondern von den Wählern ab. „Als Präsident der Fidesz ist es meine Pflicht, die vollständige Vertretung unserer Wähler sicherzustellen.“ „Im Verhältnis zur Landesbevölkerung bringt die Fidesz die stärkste Delegation der EVP ein“, so Viktor Orbán weiter in seinem Brief, „sie wurde 2019 von 1,8 Millionen Ungarn gewählt, die 52 % der abgegebenen Stimmen repräsentieren.“

Auch dieses Mal werden sie sich nicht herablassen zu antworten.

Unseren Quellen zufolge ist sich die Fraktion der juristischen Fehlerhaftigkeit des Vorgangs durchaus bewusst. Am Wochenende berichtete das Portal Politico.eu, die in Brüssel den Ton angibt, dass der Juraprofessor und Fidesz-Europaabgeordnete László Trócsányi eine juristische Lösung in Erwägung zieht, bei der die Frage der Satzungsänderung vor den Europäischen Gerichtshof gebracht werden soll. Auch wenn auf diesem Portal von der „Androhung“ einer Klage die Rede ist – eine Information, die uns aus den Reihen der EVP erreicht –, so scheint es doch so zu sein,

dass es in der Tat Mitglieder der deutschen christdemokratischen Parteien waren, die innerhalb der Fraktion zuerst die Idee geäußert haben, dass dieser Änderungsantrag vor den EU-Gerichten nicht standhalten würde.

(Unseren Quellen zufolge war es diese Ansicht, die László Trócsányi als Autorität auf dem Gebiet des Rechts bestätigte – daher der Artikel auf Politico.eu).

Es sei auch daran erinnert, dass der ungarische Ministerpräsident in seiner Eigenschaft als Fidesz-Vorsitzender bereits im Dezember des Vorjahres vorgeschlagen hatte, dass die ungarischen Abgeordneten bis zur Entscheidung der EVP in Form einer informellen Zusammenarbeit in der Fraktion bleiben.

Manfred Weber hat auf den Brief mit diesem Vorschlag nie geantwortet,

obwohl es Unterstützung für die Idee gab – so unsere Quelle in den Reihen der EVP, die es für höchst zweifelhaft hält, ob die Führung der Fraktion sich diesmal herablasse, auf das ungarische Schreiben zu antworten. Diese Quelle findet es auch merkwürdig, wie Ende letzten Jahres die Vorbereitungen für eine Offensive gegen die Fidesz – fast ohne Rücksicht auf die Gesundheitskrise – in solcher Eile begannen. Bis dahin, so die vorherrschende Meinung innerhalb der Fraktion, sei es besser, den Abschluss des Streits zwischen der ungarischen Regierungspartei und der europäischen Partei abzuwarten.

Von der Visegrád Post aus dem Ungarischen übersetzt.