Als vor wenigen Tagen der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán sich weigerte, eine der üblichen „Besorgnis-Erklärungen“ der EU zu unterschreiben, in dem es um die Lage der Menschenrechte in Hong-Kong gehen sollte, ging der übliche „Aufschrei“ durch die westlichen Medien, die hier ein weiteres Beispiel für die „illiberalen“ Tendenzen des ungarischen Schurkenstaats erblickten. Nun liegt mir nichts ferner, als die Ereignisse in China zu verharmlosen oder den Kurs gutzuheißen, mit dem Peking seine peripheren Provinzen an die Kandare nimmt. Angesichts der gewaltsamen Ausschreitungen in den USA, in Spanien oder in Frankreich und dem zunehmenden Verlust demokratischer Grundwerte überall im Westen stellt sich allerdings die Frage, ob man mit Steinen werfen sollte, wenn man im Glashaus sitzt, wie ein anschauliches deutsches Sprichwort sagt – umso mehr, wenn man die Selektivität betrachtet, mit der der Westen sich zwar immer dann, wenn es medial opportun ist, zum Verteidiger der Menschenrechte aufschwingt, gleichzeitig aber, wenn keiner genau hinguckt, milliardenschwere Wirtschaftsverträge mit eben denselben, just verurteilten Regierungen schließt und nur allzu gerne mit Diktatoren paktiert, wenn sie eben nur auf „unserer“ Seite stehen. Nun sollte man diese Überlegungen nicht als zynischen Appell für einen moralischen Relativismus mißverstehen; ganz im Gegenteil geht es mir eher um die Überlegung,
daß der Westen sich früher oder später zu einer echten gewissen ideologischen Konsequenz durchringen sollte, um endlich nach außen wie nach innen halbwegs glaubhaft dazustehen und zu verhindern, daß sowohl viele Bürger als auch unsere Nachbarn sich zunehmend angeekelt von der westlichen Doppelmoral zurückziehen, ja sich gar gemeinsam zu unserem Sturz verschwören.
Sollte Außenpolitik auf der alleinigen Grundlage der Menschenrechte stattfinden, wie der gegenwärtige Selbstanspruch heißt, so sollte man diese wohl zunächst nach innen umsetzen (es gäbe hier alle Hände voll zu tun) und dann eben auch in völliger Gleichwertigkeit nach außen – mit der wahrscheinlichen Folge, daß so ziemlich alle Beziehungen nach Asien wie nach Afrika vollständig abgebrochen werden müßten, ganz zu schweigen von den zu erwartenden katastrophalen Konsequenzen nicht zuletzt im Bereich der Wirtschaftspolitik, hat man sich doch aus eigener Verschuldung so abhängig gemacht von der Industrie Ostasiens, daß der Aufbau eigener Strukturen zumindest in kurz- wie mittelfristiger Perspektive nahezu unmöglich geworden ist. Wollen wir das wirklich? Dann nur zu!
Oder aber, man setzt als oberste Priorität den Schutz der europäischen Interessen und nicht (selektiv verstandener) „Menschenrechte“ und gründet die Außenpolitik unseres Kontinents zunächst auf die Garantie unserer strategischen Unabhängigkeit und maximalen wirtschaftlichen Autonomie,
enthält sich dann aber vorerst jenes zahnlosen und unglaubwürdigen verbalen Interventionismus, um dann später, auf einer gesunden Basis und einer Position echter Stärke und Glaubwürdigkeit daran gehen zu können, sich für Recht und Gerechtigkeit auch im Ausland einzusetzen.
Davon sind wir natürlich noch weit entfernt, umso mehr, als der gegenwärtigen politischen Elite Europas jeglicher Sinn für Geopolitik abhandengekommen ist bzw. sie sich als Spielball der Interessen
einflußreicher Lobbies einsetzen läßt, die ganz eigene Ziele verfolgen und eben nicht das Wohl der abendländischen Zivilisation in ihrer Gänze im Herzen tragen.
Die Welt der Zukunft, ja eigentlich schon der Gegenwart ist von wirtschaftlich-politischen Großräumen dominiert, die zwar sicherlich nach relativen Hegemonien über ihre Peripherie streben, aber keine Möglichkeit haben, dauerhaft eine echte Weltherrschaft zu erringen. China, Indien, Rußland, die USA und Brasilien sind zu Herzen neuer multilateraler Imperien geworden, die im besten Fall ein unsicheres Gleichgewicht bewahren und sich nur an ihrer Peripherie reiben, im schlimmsten Fall aber in selbstzerstörerische Konflikte stürzen könnten.
Europa muß diese Situation einsehen; muß sich, ob es will oder nicht, als weiteren Spieler dieses neuen, hochgefährlichen „Great Game“ begreifen und sich die entsprechenden Institutionen geben, dieses Spiel aktiv und effizient mitzuspielen, um nicht unterzugehen. Dazu gilt es freilich, sowohl jene Ewiggestrigen aufzuklären, die immer noch glauben, ein Europa von 40 winzigen und zänkischen Nationalstaaten hätte auch nur den Ansatz einer Chance in dieser Situation, als auch bloßzulegen,
daß jene, die heute Europa zu schützen vortäuschen, in Wirklichkeit den Ausverkauf der abendländischen Interessen betreiben.
Dies geht allerdings nur durch die Bewußtwerdung unserer gemeinsamen historischen Identität, denn ohne eine solche muß die Hoffnung auf Solidarität und somit politische Kohäsion chimärisch bleiben. Hier liegt daher der eigentliche Hebel für die Weltstellung Europas im 21. Jh.s.