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Grzegorz Kucharczyk: „Die preußischen Eliten betrachteten Polen als einen gescheiterten Staat“

Lesezeit: 8 Minuten

Grzegorz Kucharczyk ist ein polnischer Historiker, Professor für Geisteswissenschaften, und auf die Geschichte des politischen Denkens im 19. und 20. Jahrhundert und auf die Geschichte Deutschlands spezialisiert. Eines seiner letzten Bücher mit dem Titel „Preußen, fünf Jahrhunderte“ (Prusy, Pięc wieków) wurde im Herbst 2020 von der polnischen Stiftung für Geschichte und Kultur (Fundacja Kultura i Historia, FHiK) veröffentlicht. Professor Kucharczyk legt darin eine synthetische Studie zur Geschichte des Hohenzollernstaates vom 16. bis zum 20. Jahrhundert vor. In dem Versuch, einen neuen Blick auf diese Geschichte zu werfen, konzentriert sich der Autor auf die politische Geschichte, bezieht aber auch andere wichtige Aspekte wie Kultur, Gesellschaft und Wirtschaft mit ein.

Sébastien Meuwissen: Wenn wir über Preußen sprechen, denken wir an Schlagworte wie „Militarismus“, „Disziplin“ oder „Brutalität“. Einige Leute nannten dieses Gebiet sogar das „Sparta des Nordens“. In Polen hat Preußen keinen guten Ruf. Und das aus gutem Grund: Mehr als 70 % des heutigen Polens standen einst unter preußischer Besatzung. Außerdem stand die Politik dieses mitteleuropäischen Staates in scharfem Kontrast zu der seines östlichen Nachbarn. Ab dem 16. Jahrhundert erreichte Polen-Litauen ihren Höhepunkt und ihre Führer begannen eine Reihe von Fehlern zu machen, die den Hohenzollernstaat zu einer Macht im europäischen Maßstab werden ließen. Wie kam es zu dieser Veränderung der Dynamik?

Grzegorz Kucharczyk: Die polnische Außenpolitik gegenüber dem preußischen Nachbarn vom 16. bis zum 18. Jahrhundert bestand aus einer langen Reihe von verpassten Gelegenheiten. Es war das Gegenteil von dem, was die Hohenzollern taten. In dieser Zeit nutzte Preußen fast jede Gelegenheit, um seine Ziele zu erreichen. Erstens ging es darum, die Souveränität des jungen Staates zu erhalten. Zweitens, die Schwächung Polen-Litauens von innen. Der Große Kurfürst Friedrich Wilhelm I. von Brandenburg schrieb in seinem politischen Testament, dass man sich um die Beziehungen zur [polnischen] Republik, die niemals stirbt, kümmern müsse. Es muss verstanden werden, dass er dies nicht aus irgendeiner Sympathie für Polen heraus geschrieben hat. Mit „Republik“ meinte er das Parlament. Tatsächlich reichte es aus, einen einzigen Abgeordneten mit der Anweisung zu bestechen, das liberum veto zu nutzen, um den Sejm und den Staat zu lähmen. Wir als Polen hatten die Möglichkeit, den Lauf der Dinge in dieser Region auch nach der Autonomie des Herzogtums Preußen im Jahre 1525 zu beeinflussen. Obwohl ethnisch deutsch, war die Opposition des preußischen Adels und Bürgertums gegen die brandenburgische Herrschaft eine Chance für uns.

Sie sahen das polnische System als ein Beispiel für Freiheit und Recht. Die Ankunft der Hohenzollern in Königsberg wurde jedoch als freiheits- und rechtsfeindlich angesehen.

Leider konnte Polen, das sich selbst mitten in inneren Konflikten befand, diesen Vorteil nicht ausnutzen.

Sébastien Meuwissen: Der Fall Preußen ist ziemlich einzigartig, wenn man die verschiedenen europäischen Staaten dieser Zeit betrachtet. Bis zum 16. Jahrhundert beschränkte sich das preußische Territorium grob auf die heutige Enklave Kaliningrad und den Nordosten des heutigen Polens. In den folgenden Jahrhunderten entwickelte sich das, was manche einen „Projektstaat“ nennen. Können Sie uns erklären, woraus dieses Projekt bestand?

Grzegorz Kucharczyk: Im Vergleich zu anderen europäischen Staaten ab dem 16. und 17. Jahrhundert stellt Preußen eine Ausnahme dar. Preußen als Staat ist durch mehrere Elemente entstanden. Die Dynastie der Hohenzollern vereinigte die Mark Brandenburg mit dem alten Deutschen Orden. 1525, nach der Annahme des Protestantismus durch den letzten Hochmeister des Deutschen Ordens Albrecht von Hohenzollern, wurde Preußen zu einem weltlichen Fürstentum (ein weltlicher Staat) und einem Vasall des Königreichs Polen. Aus dem Zusammenschluss von Berlin (Brandenburg) und Königsberg (dem ehemaligen Deutschen Orden) entstand der preußische Staat. Aber das war noch nicht genug. Diese beiden Einheiten sollten durch eine gemeinsame Verwaltung und ein gemeinsames Ethos verbunden werden. Dies wird erst im 18. Jahrhundert geschehen. Das Schlüsselelement, das die Verbindung der beiden Einheiten ermöglicht, wird sich als die Armee erweisen.

König Friedrich Wilhelm I., bekannt als „der Soldatenkönig“, stellte praktisch alle Bereiche seines Staates in den Dienst der Armee. Was im Fall von Preußen ziemlich einzigartig ist, ist wirklich das Ausmaß dieses Phänomens. Fast jeder Aspekt des Funktionierens des Staates sollte in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts der Armee dienen.

Währenddessen versank Polen-Litauen in immer größerem Chaos.

Sébastien Meuwissen: Sie betonen in Ihrem Buch mehrfach eine goldene Regel Friedrich Wilhelms I., wonach es ratsam ist, „das Gesetz der günstigen Umstände“ anzuwenden. Mit anderen Worten: Es geht darum, im Rahmen der Außenpolitik des Staates pragmatisch zu sein, indem man die Schwächen der Rivalen maximal ausnutzt, um sie zu schwächen und die eigene Position zu stärken. Die Nachfolger Friedrich Wilhelms I. wendeten diese Regel in den folgenden Jahrzehnten buchstabengetreu an, allen voran sein direkter Nachfolger Friedrich II. Wie schafften es die Hohenzollern, ihren Staat zu einer so gewaltigen Macht in Mitteleuropa zu machen? Und wie schafften sie es, den neuen, überwiegend polnischen, ethnischen Minderheiten ihren Willen aufzuzwingen?

Grzegorz Kucharczyk: Friedrich II. kann als der letzte große preußische Herrscher der Hohenzollern-Dynastie angesehen werden, obwohl die Hohenzollern bis 1918 auf dem preußischen Thron saßen. Nach dem Tod Friedrichs II. im Jahr 1786 konnte keiner seiner Nachfolger an seine Dynamik und Effizienz als Staatsoberhaupt oder gar an die Qualitäten seines Vaters, Friedrich Wilhelm I., heranreichen. Diese beiden Führer waren die wahren Begründer von Preußens Macht und Einheit.

Aus der Zeit der mehr als 40 Jahre währenden Herrschaft Friedrichs II. von 1740 bis 1786 entwickelte sich ein Phänomen, das das 19. beherrschen wird. Es ist eine Form der Spannung zwischen dem Wunsch nach Integration und Modernisierung des preußischen Staates.

In der Tat können die von Friedrich II. annektierten Gebiete im heutigen Sprachgebrauch als echte Änderung der Machtverhältnisse bezeichnet werden, da sie das politische System im mitteleuropäischen Raum verändern. Diese Erfolge bringen Herausforderungen im Bereich der Integration mit sich. Die Annexion Schlesiens durch Preußen im Jahr 1740 als Folge des Konflikts mit Österreich ermöglichte es Friedrich II., den Schaden des Siebenjährigen Krieges zu begrenzen und 1763 einen Friedensvertrag zu schließen. Es ist in der Mitte des 18. Jahrhunderts, dass diese echte Änderung der Machtverhältnisse stattfindet. Erstens genügt ein Blick auf die Karte Europas, um zu verstehen, dass Friedrich II. durch die Einnahme Schlesiens das Nervenzentrum seines Staates, Berlin, vor einem möglichen österreichischen Angriff in Sicherheit bringt. Zweitens rückt er selbst deutlich näher an Wien heran. Drittens umzingelt er dabei Polen.

Dieser Prozess blieb nicht stehen, denn die Nachfolger Friedrichs II. setzten eines der wichtigsten Ziele Preußens aus dem 16. Jahrhundert weiter um, nämlich die Abrundung seiner Grenzen auf Kosten des östlichen Nachbarn. Anlässlich der Teilungen Polens Ende des 18. Jahrhunderts wurden gerade die Gebiete Ostpommerns und Großpolens (Posen) annektiert, wodurch sich das preußische Territorium ununterbrochen von Königsberg bis Breslau ausdehnte.

Die damaligen polnischen Führer waren sehr naiv und sahen nicht, dass zwischen diesen beiden Städten Posen lag, das unweigerlich von seinem germanischen Nachbarn geschluckt werden würde.

Diese Entwicklungen gingen offensichtlich mit einer Veränderung der Bevölkerung in ethnischer, aber auch in religiöser Hinsicht einher. Das „katholische Problem“ in Preußen lag ab diesem Zeitpunkt gerade in der Expansion in diese Gebiete, die überwiegend von Katholiken, also Polen, bewohnt waren.

Neben dem „polnischen Problem“ wurde die Annexion dieser Gebiete von dem begleitet, was man ein „jüdisches Problem“ nennen würde. Tatsächlich nahm nach der dritten Teilung Polens der Anteil der Juden innerhalb der neuen preußischen Grenzen erheblich zu. Legt man zudem eine Karte aus dieser Zeit über eine Karte des heutigen Polens, so sieht man, dass drei Viertel des heutigen Polens damals unter der Herrschaft der Hohenzollern standen. Dies war der Beginn einer langen Reihe von Integrationsproblemen innerhalb dieses Staates. Auf der anderen Seite gibt es immer wieder die Herausforderungen der Modernisierung, die für eine gute wirtschaftliche Entwicklung unabdingbar sind.

Sébastien Meuwissen: Wenn man an Preußen denkt, kommt einem direkt eine Person in den Sinn, nämlich Otto von Bismarck. Aus den Schriften Bismarcks gewinnt man den Eindruck, dass die Polen ein Volk von rückständigen Wilden seien, die zivilisiert werden müssten. Was halten Sie von diesem Überlegenheitskomplex?

Grzegorz Kucharczyk: Das Gefühl der kulturellen Überlegenheit der preußischen politischen und intellektuellen Eliten gegenüber der polnischen Bevölkerung war bereits im 18. Jahrhundert gut verankert. Man braucht nur zu lesen, was Friedrich II. in seinem politischen Testament über seinen slawischen Nachbarn schrieb. Er bezeichnete die Polen als „die letzte der europäischen Nationen“ wegen der angeblichen Unzulänglichkeiten ihres politischen Systems und ihrer sozialen Organisation, die als chaotisch angesehen wurden. Es gibt keinen Mittelstand, der Adel ist egoistisch und die Bauern sind arm bzw. werden von diesem egoistischen Adel diskriminiert. So wurde Polen von den politischen und intellektuellen Eliten Preußens im 18. Jahrhundert als ein Staat ohne Zukunft und sogar ohne Geschichte wahrgenommen.

Liest man, was so bedeutende Persönlichkeiten wie Immanuel Kant, Georg Wilhelm Friedrich Hegel und Wilhem von Humboldt über Polen schrieben, so wird deutlich, dass Polen weithin als gescheiterter Staat angesehen wurde. In diesem Zusammenhang wurde die Teilung Polens am Ende des 18. Jahrhunderts aus preußischer Sicht als Chance und Möglichkeit der Modernisierung für die Polen gesehen. Die Polen sollten froh sein, in diesen Kulturstaat integriert zu werden.

In dieser Tradition wurde auch Bismarck ausgebildet. Zu dieser Tradition muss eine weitere hinzugefügt werden, die ebenso wichtig ist. Es ist die tiefe Überzeugung der preußischen Führung, dass jede Autonomie – geschweige denn Unabhängigkeit – Polens eine Gefahr für die Staatsraison Preußens darstellt.

In einem Brief an seine Schwester schrieb Bismarck, die Polen sollten „wie Wölfe geschlagen werden […], bis sie ihren Lebenswillen verlieren“.

Dieser Brief wurde während Bismarcks Aufenthalts in Sankt Petersburg geschrieben. Frustriert beobachtete er die Änderung der Haltung der Russen gegenüber Polen. Die Russen dachten über eine mögliche Aufweichung ihrer Politik gegenüber ihrem westlichen Nachbarn nach. Es war sogar die Rede von einer möglichen Form der Autonomie für Polen. Es waren die preußischen Führer, und insbesondere Bismarck, die diese Projekte anprangerten, da sie der Meinung waren, dass selbst die geringste polnische Autonomie ein „existenzielles Risiko für die preußischen Interessen“ darstellen würde. Derselbe Bismarck, der öffentlich wiederholte, die Polen seien „eine chaotische Nation, unfähig, sich selbst zu organisieren“, war sich sehr wohl bewusst, dass sie in der Tat durchaus in der Lage waren, sich nicht nur selbst zu organisieren, wenn sie die Gelegenheit dazu hatten, sondern sogar Preußen zu bedrohen. Diese Mentalität erinnert wieder an das 18. Jahrhundert und Friedrich II., als er an seinen Freund Voltaire schrieb, wie anarchisch und unfähig, einen Staat zu führen, diese Polen seien. Gleichzeitig schrieb er alarmierte Briefe an Zarin Katharina II., um sie davon zu überzeugen, die Reformen des polnischen parlamentarischen Systems im Jahr 1774 zu stoppen. Friedrich II. war der Meinung, dass die Abschaffung des liberum veto-Prinzips es Polen ermöglichen würde, wieder eine europäische Macht zu werden.

So gab es einerseits ein Gefühl der zivilisatorischen Überlegenheit gegenüber den Polen und andererseits die Überzeugung, dass es „entweder wir oder die Polen“ sein würde.

Sébastien Meuwissen: Machen wir einen Sprung ein halbes Jahrhundert nach vorne. Wenn wir uns die Karten der verschiedenen deutschen Wahlen Anfang der 1930er Jahre ansehen, sehen wir, dass die Partei Adolf Hitlers, die NSDAP, ihre besten Ergebnisse in den östlichen Regionen (Ostpreußen, Vorpommern usw.) des Reiches erzielte. Es scheint sogar, dass Hitler ohne diese „preußische“ Unterstützung wahrscheinlich nicht Kanzler hätte werden können. Was ist Ihre Meinung zu diesem Thema?

Grzegorz Kucharczyk: Das ist eine ziemlich komplexe Frage. Hat Preußen dazu beigetragen, Hitler und den Nationalsozialismus an die Macht zu bringen? Ich würde sagen, dass es die Preußen waren, die dazu beigetragen haben, die Bürger Preußens. Ich möchte daran erinnern, dass nach der Abschaffung der Monarchie in Deutschland im November 1918 Preußen als Republik überlebt hat. Dies ist ein bemerkenswertes Ereignis in der Geschichte. Zum ersten Mal war Preußen ohne einen König. Diese Republik währte kaum fünfzehn Jahre. In der Zwischenkriegszeit war das preußische Element im Deutschen Reich weitgehend dominant. Preußen machte etwa zwei Drittel des Territoriums der damaligen Weimarer Republik aus. Es war daher selbstverständlich, dass die Entscheidungen dieser großen Territorien erheblichen Einfluss auf ganz Deutschland hatten.

Ich weise in meinem Buch darauf hin, dass die NSDAP in protestantisch geprägten Regionen die besten Ergebnisse erzielte. Im Gegensatz dazu war die stabilste Wählerschaft in überwiegend katholischen Gebieten zu finden. Die Ergebnisse der Nationalsozialistischen Partei waren dort deutlich niedriger.

Sébastien Meuwissen: Welches Verhältnis hat das heutige Deutschland zu seiner preußischen Geschichte?

Grzegorz Kucharczyk: In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts war die vorherrschende Meinung in Westdeutschland, dass man sich von Preußen und seinen Traditionen distanzieren müsse.

Konrad Adenauer wollte Berlin nicht als Hauptstadt eines vereinigten Deutschlands, weil es „zu sehr von preußischer Brutalität erfüllt“ sei. Wie wir wissen, hörte Helmut Kohl entweder nicht auf seinen Vorgänger oder teilte dessen Meinung in dieser Sache nicht.

Auf jeden Fall gibt es jetzt eine Art preußische Wiedergeburt, vor allem der Hohenzollern-Dynastie. Ein Beispiel ist die kürzlich erfolgte vollständige Restaurierung des Hohenzollernschlosses im Zentrum Berlins. Es ist seit letztem Jahr für die Öffentlichkeit zugänglich. Es heißt jetzt Humboldt-Forum. Es gibt Galerien, Ausstellungen und Büchersammlungen. Ziel dieses Projektes ist es, chinesischen, japanischen oder amerikanischen Touristen zu zeigen, dass diese Hohenzollern doch nette Menschen waren. Sie sammelten Bücher, Gemälde, spielten Flöte und schrieben auf Französisch an ihre philosophischen Freunde. Und schließlich: Wovon reden diese Polen, wenn sie sich über den preußischen Expansionismus beklagen?

Anlässlich des 300. Geburtstages Friedrichs II. wurde 2012 in Deutschland eine ganze Reihe von Gedenkveranstaltungen organisiert. Es gab Sonderausstellungen, Fernsehsendungen, vor allem auf dem Sender ARTE, in denen Friedrich II. als Herrscher der Aufklärung vorgestellt wurde, als Modernisierer, der auf Französisch schrieb und mit Voltaire befreundet war. Wir sind also Zeuge einer gewissen Neudefinition Preußens. Es geht nicht mehr um einen brutalen und militaristischen Staat, sondern um einen fortschrittlichen und modernisierenden Staat.