Dieser Artikel ist am 3. Juni 2021 in der Magyar Nemzet erschienen.
„In einem der komplexesten Rechtsfälle in der Geschichte der Europäischen Union wird ein Schnellverfahren beantragt, während in einem einfachen Verfahrensfall das Urteil um drei Jahre verzögert wird? Was ist aus der Rechtssicherheit geworden?“ – fragte Judit Varga in einem Interview mit der Magyar Nemzet, die sie nach den rechtsstaatlichen Themen fragte, die derzeit auf der Agenda der EU stehen. Mit Blick auf das heutige Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union sagte die Justizministerin, es sei eine Entscheidung über einen Fall, von dem die Verfechter der Rechtsstaatlichkeit noch nicht einmal gehört hätten. „Ich selbst habe bei jeder Anhörung, zu der ich im Zusammenhang mit dem Verfahren nach Artikel 7 vorgeladen wurde, erklärt, dass meine Anwesenheit, solange es kein Gerichtsurteil gibt, nicht einmal erforderlich sein sollte“ – behauptet sie und fügt hinzu: „Es ist gelinde gesagt problematisch, dass gerade für das Funktionieren der Institutionen der Europäischen Union die Achtung jener rechtsstaatlichen Prinzipien wie Ehrlichkeit in den Verfahren und Rechtssicherheit fehlt.“
„Das ist ein Urteil, das in einem Prozess gefällt wurde, von dem die Verfechter der Rechtsstaatlichkeit bis heute nicht einmal Kenntnis genommen haben.“
– So reagierte Judit Varga gegenüber Magyar Nemzet auf die Ankündigung, dass der Europäische Gerichtshof am Donnerstag die Klage Ungarns abgewiesen hat, in der die ungarische Regierung die Rechtmäßigkeit der Abstimmung, die zur Annahme des Sargentini-Berichts führte, in Luxemburg angefochten hatte. (Bekanntlich gab das Europäische Parlament im Herbst 2018 grünes Licht für den mit Judith Sargentinis Namen verbundenen Bericht, eine Sammlung kritischer, ungarnfeindlicher Übertreibungen. Bei der Abstimmung wurden die Stimmenthaltungen nicht zur Gesamtzahl der abgegebenen Stimmen hinzugezählt, so dass der Bericht angenommen werden konnte, d.h. die für die Einleitung des Verfahrens nach Artikel 7 erforderliche Zweidrittelmehrheit erreicht wurde. Die ungarische Regierung wandte sich daraufhin an den Gerichtshof der Union und wies auf einen Verfahrensfehler hin – AdR.).
Nach Ansicht der Justizministerin sind die vor fast drei Jahren vom Europäischen Parlament verabschiedete Entschließung und das daraufhin eingeleitete Verfahren nach Artikel 7 – das sogenannte „Rechtsstaatsverfahren“ – in vielen Punkten widersprüchlich. „Bisher hat dieses Verfahren nach Artikel 7 stattgefunden, ohne dass die europäischen Institutionen und die europäische Linke von dem laufenden Verfahren vor dem Gerichtshof der Europäischen Union Kenntnis zu haben schienen.
Kein einziger dieser Verfechter der Rechtsstaatlichkeit hat sich darum gekümmert, dass ein Mitgliedstaat eine relevante Frage im Zusammenhang mit dem Verfahren aufgeworfen hat. Ich selbst habe bei jeder Anhörung, zu der ich im Zusammenhang mit dem Artikel-7-Verfahren geladen wurde, erklärt, dass meine Anwesenheit, solange es kein Gerichtsurteil gibt, nicht einmal erforderlich sein sollte.
In jedem Rechtsstaat, der etwas auf sich hält, geht man davon aus, dass kein Urteil vollstreckbar ist, wenn kein rechtskräftiger Gerichtsbeschluss vorliegt“ – so die Ministerin, um den widersprüchlichen Charakter dieser Verfahren aufzuzeigen. „In diesem Fall gab es aber eine inhaltliche Frage zur Sachlage: Kann man überhaupt von einem rechtlich zulässigen Sargentini-Bericht sprechen? Wurde das Artikel 7-Verfahren überhaupt rechtmäßig eingeleitet?“
Faktischer Unsinn
Speziell zu dem Urteil sagte Judit Varga, dass es auch sachliche Fehler gab. „Wenn ein Abgeordneter beschließt, an einer Abstimmung teilzunehmen, hat er drei Möglichkeiten: dafür oder dagegen zu stimmen, oder sich zu enthalten. Wenn man dies mit einem Minimum an gesundem Menschenverstand betrachtet, könnte man sich fragen: Was ist der Sinn dieser dritten Option des Abstimmungsgeräts, wenn Stimmenthaltung – laut dem Gericht – nicht als abgegebene Stimme gilt?
Bei dieser Abstimmung im Europaparlament 2018 gab es Abgeordnete, die mit der Position der ungarischen Regierung übereinstimmten, es aber aus innenpolitischen Gründen vorzogen, den „Enthaltungsknopf“ zu drücken, anstatt mit „Nein“ zu stimmen. Es ist die Freiheit des Vertretungsmandats, die verletzt wurde, insofern sie dazu gebracht wurden, gegen ihren Willen zum Erfolg des Antrags des Sargentini-Teams ‚beizutragen’“,
– so die Ministerin, die sich weigert, es als Zufall zu betrachten, dass die grüne Europaabgeordnete Sargentini selbst am Vorabend der Abstimmung die Abgeordneten ermutigte, lieber einen Kaffee trinken zu gehen, als an der Abstimmung teilzunehmen. „Es ist sicher, dass sie Angst vor diesen Enthaltungen hatte, von denen sie genau wusste, dass sie die Erfolgschancen ihres Antrags gefährden würden.“
In der Zwischenzeit ist der Rechtsstaatlichkeitsstreit um ein neues juristisches Verfahren reicher geworden: Diesmal ist es das Europaparlament, das eine Klage gegen die Europäische Kommission einreichen will, weil die Abgeordneten der Meinung sind, dass letztere die Verordnung zur Einführung des Konditionalitätsmechanismus rechtswidrig nicht angewandt hat, als diese am 1. Januar in Kraft trat. Ungarn und Polen haben vor dem Europäischen Gerichtshof die Regelung angefochten, die dieses System rechtsstaatlicher Bedingungen vorschreibt – eine Option, die bereits in der Vereinbarung der Staats- und Regierungschefs vom vergangenen Dezember verankert war.
Ein typischer Brüsseler Krieg
Darauf angesprochen, antwortete die Ministerin, dass der Europäische Rat, in dem die Staats- und Regierungschefs versammelt sind, das oberste Gremium der Europäischen Union sei, das das letzte Wort haben müsse, ganz abgesehen davon, dass auch der Präsident der Europäischen Kommission für die Einhaltung der Vereinbarung vom vergangenen Dezember gebürgt habe.
„Wir sind Zeugen eines typischen Brüsseler Machtkampfes. Die Frage ist: Wer ist der Kapitän an Bord? Wer hat das Sagen: die Mitgliedsstaaten oder das Europäische Parlament?
Es gibt keinen Zweifel an der Antwort. Bei der politischen Einigung im Dezember letzten Jahres spielte das Europäische Parlament keine Rolle, da die Verträge ihm dafür keine Legitimation geben. Das hindert die Abgeordneten der liberalen Linken nicht daran, jetzt der Kommission, also einem der eigentlichen Protagonisten in diesen Verhandlungen, zu drohen. Und da das Europaparlament den Gerichtshof der Europäischen Union um ein beschleunigtes Verfahren in diesem Fall bittet, könnte eine Entscheidung in dieser Angelegenheit in wenigen Tagen fallen. Auch hier gibt es auf jeden Fall einen Widerspruch:
Während im Fall Sargentini die Verurteilung um fast drei Jahre verzögert wurde, fordert das Europaparlament im Fall des Konditionalitätsmechanismus für die Gewährung europäischer Mittel ein beschleunigtes Verfahren von knapp sechs Monaten.
Lassen Sie uns diese beiden Fragen ins rechte Licht rücken: In einem der komplexesten Rechtsfälle in der Geschichte der Europäischen Union wird ein Schnellverfahren gefordert, während in einem einfachen Verfahrensfall das Urteil drei Jahre lang zurückgehalten wird? Was ist aus der Rechtssicherheit geworden? Es ist, gelinde gesagt, problematisch, dass es gerade in der Funktionsweise der Institutionen der Europäischen Union an der Einhaltung rechtsstaatlicher Prinzipien, d.h. an fairen Verfahren und Rechtssicherheit, mangelt. Auf jeden Fall möchte ich glauben, dass das Gericht bei seiner Prüfung des Antrags auf ein beschleunigtes Verfahren eine unparteiische Entscheidung treffen wird. Dieser Fall zeigt, warum wir uns keine Illusionen machen sollten: Wenn die Befugnisse des Europaparlaments in Zukunft ausgeweitet werden sollten – wie es die Europäische Linke und die ungarischen Oppositionsabgeordneten fordern –, so ist dies ein gutes Beispiel dafür, wie diese Befugnisse ständig missbraucht werden würden.
Für sie ist das alles nur ein politisches Spiel, das nichts mit dem Gesetz zu tun hat.“
Wir haben Frau Jourová nichts zu sagen
Konfrontiert mit den jüngsten Äußerungen von Věra Jourová, dass es keinen Sinn habe, das Urteil des Gerichts abzuwarten, da Brüssel in ein paar Monaten ein Rechtsstaatlichkeitsverfahren einleiten könne, sagt Judit Varga, dass sie der politisch beeinflussten Meinung von Kommissarin Jourová, die in diesem Fall Voreingenommenheit zeige, wenig Bedeutung beimesse.
„Ich habe zu viel Respekt vor der Europäischen Kommission und ihrer Präsidentin, um die Worte von Věra Jourová mit der kollegialen Sicht der Kommissare zu verwechseln. Ich lege nicht viel Wert auf ihr Wort, insofern ist es klar, dass sie auf Ungarn fixiert ist.“
Judit Varga nutzte die Gelegenheit, um zu bestätigen, dass Frau Jourová zwar eine Reihe von extremistischen Äußerungen getätigt habe, die ungarische Regierung aber nicht die Absicht habe, sie zurück an den Verhandlungstisch einzuladen: Die diplomatischen Beziehungen zu Kommissarin Jourová bleiben ausgesetzt. „Wer es wagt, von einer angeblich unabhängigen Position aus Ungarn als kranke Demokratie zu bezeichnen und die Ungarn angeblich zu verachten, dem haben wir nichts zu sagen.“
Tamara Judi (Brüssel)
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Von der Visegrád Post aus dem Ungarischen übersetzt.