Ungarn – Das am 15. Juni vom Országház (Einkammerparlament) verabschiedete ungarische Gesetz über Pädophilie und den Schutz von Kindern vor Sexualität hat für viel Wirbel und hitzige Diskussionen gesorgt. Es gab unzählige Reaktionen von Mitgliedern des Europaparlaments, Regierungschefs und Ministern, Sportverbänden und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens. So unglaublich es auch erscheinen mag, obwohl ein von 18 EU-Ländern mitunterzeichneter Brief das ungarische Gesetz verurteilte und die Europäische Kommission – unter anderem durch die Anrufung des EU-Gerichtshofs – zum Eingreifen aufforderte scheint sich niemand die Mühe gemacht zu haben, den Inhalt des Textes selbst oder sogar seinen Geist zu hinterfragen.
Doch was ein Gesetz ausmacht, ist in erster Linie der Geist, der es leitet.
Der Geist des Gesetzes
Der Gesetzgeber wollte im Rahmen seiner Kompetenz und demokratischen Souveränität das Prinzip der Rolle des Staates in Fragen der Sexualität von Minderjährigen klären: der Staat muss verantwortungsbewusst und aktiv sein, wenn es darum geht, einen Minderjährigen vor sexueller Gewalt zu schützen (der größte Teil des Textes entwickelt im Übrigen ein Arsenal gegen Pädophilie); der Staat muss Garant und Beschützer der elterlichen Freiheit in Bezug auf die Sexualerziehung sein, und zwar insbesondere in Bezug auf die Art und Weise, wie die sensibleren sexuellen Themen Homosexualität, Gender oder Pornografie behandelt werden, um nur diese Beispiele zu nennen.
Dieses Gesetz befasst sich also nicht mit Homosexuellen als Personen und auch nicht mit deren Rechten (die im ungarischen Grundgesetz verteidigt werden), sondern mit Homosexualität als sexuellem Thema, dessen Verständnis nach Meinung der vom Volk gewählten Gesetzgeber (hauptsächlich) ein Vorrecht der Eltern und nicht der Zivilgesellschaft oder des Staates bleiben sollte.
Dies ist letztlich ein Bekenntnis zur Verantwortung bei einem sensiblen Thema. „Sensibel“, weil keine wissenschaftliche Studie mit Sicherheit sagen kann, ab welchem Alter oder mit welcher Herangehensweise man sich diesen Themen nähern sollte. Progressive und Konservative können vertretbare Argumente finden, aber angesichts der Sensibilität dieser Themen wird hier die elterliche Freiheit verteidigt. Das Ziel des Textes ist es, dieses Konzept in einem Kontext zu schützen, in dem diese Freiheit als gefährdet wahrgenommen wird. Wir denken zum Beispiel an die Verbände, die in den Schulen, im Fernsehen, im öffentlichen Raum intervenieren, um den Kindern bewusst zu machen, dass es möglich ist, „sein Geschlecht zu wählen“. Das Problem liegt vor allem darin, dass dies ohne elterliche Zustimmung geschieht und damit möglicherweise gegen den Willen der Eltern.
Intellektuelle Diskrepanz der Kritiker
Das ungarische Gesetz trifft eine gesellschaftliche Entscheidung, deren Achse der Disputatio nicht das Recht dieser oder jener Minderheit ist, sondern die Verantwortung der Erziehung.
Wie auf jeder ideologischen Achse ist es möglich, unterschiedlicher Meinung zu sein. Der Fehler, den die Kritiker dieses Gesetzes machen, ist, nicht auf der Achse des eigentlichen Themas zu debattieren, sondern auf einer anderen.
Die eigentliche Debatte hätte darin bestanden, die Position zur Verantwortung des Staates zu hinterfragen. Was jedoch zu beobachten ist, ist eine Denunziation auf der Grundlage einer angeblichen „Nichtbeachtung der Werte der Europäischen Union“.
Da gibt es zwei Probleme:
Erstens ist dieses Argument, wie bereits gesagt, fehl am Platz. Im ungarischen Gesetz geht es nicht um die Rechte von Homosexuellen, sondern um Fragen der Sexualität, ohne Menschen aufgrund ihrer Sexualität zu diskriminieren oder zu verurteilen.
Zweitens wird in keiner der kritischen Stellungnahmen erwähnt, gegen welche „Werte“ sich dieses Gesetz richten würde, oder gar, wie es sich gegen sie richten würde.
Der sehr dezidierte Vorwurf ist nicht sehr präzise, und es ist schwer zu erkennen, worin die Schuld Ungarns liegen soll.
In Artikel 14 (3) der Charta der Grundrecht der Europäischen Union heißt es: „Die Freiheit zur Gründung von Lehranstalten unter Achtung der demokratischen Grundsätze sowie das Recht der Eltern, die Erziehung und den Unterricht ihrer Kinder entsprechend ihren eigenen religiösen, weltanschaulichen und erzieherischen Überzeugungen sicherzustellen, werden nach den einzelstaatlichen Gesetzen geachtet, welche ihre Ausübung regeln.“ Zwei Elemente dieses Artikels zeigen, wie das ungarische Gesetz mit den oben genannten Werten übereinstimmt: das Recht der Eltern, die Erziehung und den Unterricht sicherzustellen, und die Tatsache, dass dies durch die nationalen Gesetze umgesetzt wird. Einer der hier verteidigten Werte der EU ist die volle Souveränität der Staaten in dieser Frage. Dies scheint dem Ansatz der 18 Regierungen zu widersprechen, die ein in den Verträgen verankertes Objekt der Souveränität verurteilen.
Es mangelt also an Ehrlichkeit sowohl bei der Beurteilung der Situation als auch bei der geäußerten Kritik.
In der Tat gibt es keine direkt zugängliche Übersetzung des Gesetzestextes. Die einzige „Zusammenfassung“ der Lage entspricht einer karikierten Alarmglocke, die von der Opposition oder von Lobbys geläutet wird. Es wurde offensichtlich keine Arbeit geleistet, um das betreffende Gesetz zu verstehen (oder zu lesen), noch gab es einen inhaltlichen Austausch mit den Autoren des Gesetzes. Bei der Beurteilung wurde die Phase der Einsichtnahme der Materie „ausgelassen“.
Und die Kritik, wie wir sie entwickelt haben, konzentriert sich auf eine Off-Topic-Achse, deren Ziel es zu sein scheint, um eine der Thesen von Matthieu Bock-Côté zusammenzufassen [BOCK-COTE Mathieu, „L’empire du politiquement correct – Essai sur la respectabilité politico-médiatique“, Les éditions du cerf, Paris, 2020], eine Position zu disqualifizieren, indem man sie daran hindert, die Arena der Debatte zu betreten, ohne sie überhaupt zu diskutieren, sobald sie nicht der progressiven Agenda entspricht.
Voraussetzungen für Debatten über die Zukunft der EU
Diese ungarische Episode offenbart die Löcher im Denken über das europäische Projekt. Zum Schluss noch ein paar mögliche Lösungen für den Mangel an intellektueller Ehrlichkeit, der eine konstruktive Debatte verhindert. Lassen Sie uns zwei Bereiche angehen, die vorrangig zu sein scheinen.
Zunächst einmal ist es angesichts der Debatten über die Zukunft der Europäischen Union notwendig, vorrangig eine Klärung darüber aufzunehmen, was heute die Souveränität der Mitgliedstaaten ist. Mehr als das, es wäre sogar eine Frage der Definition, was mit Souveränität gemeint ist. Handelt es sich um ein Konzept, das sich auf den Entscheidungsprozess oder auf die Reaktionen und Auswirkungen der Entscheidung bezieht? Oder beides? Universitäten, Think Tanks, politische Studienzentren, Parteien, politische Akteure könnten sich auf eine solche Definitionsarbeit einlassen, ohne ideologischen Kampf. Ohne an dieser Stelle in eine Ideendebatte einzusteigen, geht es zunächst darum, zu klären, was heute in den Verträgen steht, denn darauf baut alles auf.
Dann, und in der gleichen Art und Weise eine Kartierung der europäischen „Werte“ vorschlagen, ausgehend von der objektiven Liste dessen, was derzeit in den Verträgen steht. Wir könnten uns allenfalls vorstellen, eine Aufschlüsselung in konkretere Elemente vorzunehmen, aber zunächst ohne weiter zu gehen. Dies würde es ermöglichen, eine ganze Reihe von Themen als „out of scope“ oder „in scope“ zu deklarieren und die missbräuchliche Verwendung des Begriffs „Werte“ zu verhindern. Im Rahmen dieser Übung halten wir, sobald es eine Meinungsverschiedenheit in der Interpretation gibt, ohne Wertung inne und erkennen, dass wir dann in eine politische Debatte geraten. Die Idee ist aufzulisten, um das „Fundamentale“, den kleinsten gemeinsamen Nenner, festzustellen.
Diese beiden Klärungsübungen sind eine Voraussetzung dafür, die Basis zu entdecken, auf der die europäische Zukunft aufgebaut werden muss, und zwar durch eine Rückkehr zu einer offenen Dialektik, die auf Argumenten und nicht auf Emotionen, Egos und ideologischen Abqualifizierungen beruht.