Polen/Litauen/Weißrussland – Seit einigen Wochen tauchen an den Grenzen Litauens, Polens bzw. Lettlands zu Weißrussland Tausende von illegalen Migranten aus dem Nahen Osten auf, die hauptsächlich aus dem Irak stammen. Der weißrussische Journalist Tadeusz Giczan (Тадеуш Гичан), Chefredakteur des Oppositionsmediums Nexta, veröffentlichte am Dienstag, den 24. August (auf Polnisch) eine Untersuchung über die Hintergründe einer Krise, die möglicherweise vom Regime in Minsk inszeniert wird.
Weißrussische Reaktion auf EU-Sanktionen
Alles begann im Mai, als die weißrussischen Behörden unter dem Vorwand einer Bombendrohung zweifelhaften Ursprungs ein Ryanair-Flugzeug zur Landung zwangen, um den weißrussischen Journalisten und Oppositionellen Roman Protassewitsch, den Vorgänger und Kollegen Tadeusz Giczans an der Spitze von Nexta, auf dem Weg von Athen nach Wilna (Vilnius), wo er im Exil lebte, festzunehmen. Protassewitsch, der sich offenbar freiwillig bzw. unter Zwang zur Zusammenarbeit mit den weißrussischen Justizbehörden entschlossen hat, und seine gleichzeitig verhaftete russische Freundin stehen inzwischen unter Hausarrest, bis ihr Prozess beginnt.
Als Reaktion auf diesen „Akt der Piraterie“ verhängten die EU-Mitgliedstaaten daraufhin neue Sanktionen gegen Weißrussland, auf die Präsident Lukaschenko am 26. Mai reagierte:
„Wir haben Drogen und Migranten gestoppt – jetzt werdet ihr es selbst tun,“
Dies war eine ziemlich offene Ankündigung dessen, was gerade jetzt an der Grenze geschieht. Die Entwicklung der Situation kann in der Tat nicht unbemerkt bleiben: Während im vergangenen Jahr 81 Migranten die Grenze zwischen Weißrussland und Litauen illegal überquerten, sind es seit Mai und der Ankündigung des weißrussischen Präsidenten immerhin mehr als 4000.
Von irakischen Reisebüros organisierte Ankunft von Migranten in Minsk?
Tadeusz Giczan fragt sich, wie diese Tausenden von Irakern plötzlich in Weißrussland gelandet sind, wo doch Minsk Tausende von Kilometern von Bagdad entfernt ist. Nach den Ergebnissen seiner Untersuchung – die auch durch eine Untersuchung des deutschen Magazins Spiegel bestätigt wird – erhielten die Äußerungen des weißrussischen Präsidenten im Irak mehr oder weniger die gleiche Verbreitung wie Merkels Operation der offenen Tür im Jahr 2015, da das irakische Fernsehen sie mehrere Tage lang ununterbrochen ausstrahlte. Darüber hinaus – und dies kann nicht von vornherein ohne die ausdrückliche Genehmigung der weißrussischen Behörden geschehen sein – hat die Fluggesellschaft Fly Baghdad eine Verbindung zwischen Bagdad und Minsk eröffnet, während Iraqi Airways die Zahl der Flüge auf dieser Strecke von einem auf vier pro Woche erhöhte und sogar neue Flugverbindungen zwischen drei irakischen Großstädten (Erbil, Basra und Suleimaniye) und der weißrussischen Hauptstadt eröffnete.
Leitfaden für Migranten
Diese „Ausflüge“ werden Berichten zufolge von Centrkurort, einem Unternehmen, das Giczan als der weißrussischen Regierung nahestehend bezeichnet, an irakische Reisebüros verkauft, die sie auf dem irakischen Markt für 600 bis 1.000 Dollar anbieten. All diese Touristen besuchen jedoch nicht nur die touristischen Sehenswürdigkeiten Weißrusslands. Ein Flugblatt in arabischer Sprache, das von Tadeusz Giczan verörrentlicht wurde, erklärt dies allerdings sehr deutlich:
„Am zweiten Tag steigt man in einen Bus und fährt für 20-25 Dollar zum nächstgelegenen Punkt der litauischen Grenze – das ist Lida, im Grenzgebiet zwischen Litauen und Weißrussland […] Nachdem man die Grenze durch die weißrussischen Wälder überquert hat, muss man dem Schmuggler 1000-1500 Dollar zahlen, damit er einen nach Wilna bringt, und schon ist man in Litauen“.
Ein vor Jahren vorbereiteter Plan?
Tadeusz Giczan erklärt dann, dass laut Frontex – ein Vorwurf, der auch offiziell von Litauen erhoben wird – weißrussische Grenzschutzbeamte Gruppen von Migranten zur Grenze eskortieren und ihnen sogar helfen, durch den Stacheldraht zu gelangen, und sogar selbst die litauische Grenze verletzen. Diese Vorgehensweise entspräche einem Plan, den zwei belarussische KGB-Offiziere, Ivan und Jurij Tertelj (zwei Brüder), in den Jahren 2010-2011 entwickelt hätten und an dem auch der russische FSB beteiligt sei, wie ehemalige belarussische Offiziere, die übergelaufen sind und in Polen im Exil leben, laut Tadeusz Giczan bezeugen würden.
Da Litauen nun begonnen hat, Migranten nach Weißrussland zurückzuschicken, und einige von ihnen sich anschickten, sich in verlassenen Häusern in weißrussischen Grenzdörfern zu niederlassen, sollen die weißrussischen Grenzschützer angefangen haben, sie an die polnische und lettische Grenze zu treiben, da das weißrussische Regime auch nicht möchte, dass sie sich dauerhaft in Weißrussland niederließen. Die jetzige Situation an der polnischen und lettischen Grenze ist somit eine Nebenwirkung der Entscheidung Litauens, sein Hoheitsgebiet zu verteidigen.