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Die Klarstellung des polnischen Verfassungsgerichts ruft weiterhin Reaktionen hervor

Lesezeit: 4 Minuten

Polen/Europäische UnionDie Entscheidung des polnischen Verfassungsgerichts vom 7. Oktober, die auf eine Anfrage von Ministerpräsident Mateusz Morawiecki zurückging, ist lediglich eine Erinnerung an das Offensichtliche, nämlich dass europäisches Recht nur in den Bereichen Vorrang vor dem nationalen Recht der Mitgliedstaaten – in diesem Fall Polens – haben kann, in denen die Mitgliedstaaten ihre Souveränität ausdrücklich an die Europäische Union delegiert haben. Dennoch reagieren die führenden Gremien der EU und einiger westeuropäischen Staaten weiterhin hysterisch und empört, während in Mitteleuropa ein anderer Ton zu hören ist.

Von der Leyen: „ernsthafte Probleme mit dem Vorrang des EU-Rechts“

So droht die Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, bereits mit einem Vertragsverletzungsverfahren nach dem inzwischen berühmt Artikel 7 – nur weil darauf hingewiesen, was dort schwarz auf weiß steht? Der für Energie zuständige Kommissar Kadri Simson – von wPolityce zitiert – fasste die Ansicht von Frau von der Leyen wie folgt zusammen: „Die Präsidentin [der Kommission] betonte, dass

unser Ziel es sein muss, dafür zu sorgen, dass die Rechte der polnischen Bürger geschützt werden und dass alle wie alle anderen Bürger die Vorteile der Europäischen Union wahrnehmen können.

Sie erklärte, dass eine eingehende Analyse des Urteils noch nicht abgeschlossen sei, dass aber nach einer vorläufigen Bewertung ernsthafte Probleme mit dem Vorrang des EU-Rechts festgestellt werden konnten.“

Barley: „Die Europäische Kommission muss ein Vertragsverletzungsverfahren einleiten“

Die 4. Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments, Katarina Barley (SPD), die bereits kürzlich mit der Aussage für Aufsehen sorgte, sie wolle Polen und Ungarn finanziell „aushungern“, setzt nun noch ein drauf und meinte, dass die Europäische Kommission in diesem Fall ein Vertragsverletzungsverfahren einleiten müsse.

Sie könne sich nicht vorstellen, dass Polen in dieser Situation Geld aus dem Konjunkturfonds erhalte. Wenn die EU-Länder anfingen, frei über den Vertrag zu befinden, würde die EU ihre Grundlagen verlieren.

Der Binnenmarkt werde unter solchen Bedingungen nicht funktionieren. Die Union werde nicht mehr funktionieren, so Frau Barley in einem Interview mit der polnischen Tageszeitung Gazeta Wyborcza. Ferner hoffe sie, dass die künftige deutsche Regierung, die voraussichtlich vom Sozialdemokraten Olaf Scholz geführt wird, eine ganz klare Haltung zur Rechtsstaatlichkeit und Demokratie in Polen einnehmen werde.

Mark Rutte wird für die Ablehnung des polnischen Konjunkturprogramms plädieren

Dieser Ansicht ist auch der liberale niederländische Ministerpräsident Mark Rutte (VVD), der nicht nur neulich ausdrücklich erklärt hat, dass die niederländische Kronprinzessin eine Frau heiraten dürfe, sondern auch die Abgeordnetenkammer (Tweede Kamer) für eine „harte Linie“ gegenüber Polen gewonnen hat. Der niederländische grüne Abgeordnete Tom van der Lee (GroenLinks) sagte, die Europäische Kommission solle in diesem Fall „so stark wie möglich handeln“, während der Christdemokrat Mustafa Amhaouch (CDA) meinte:

Wenn man einem Verein angehört, befolgt man die Regeln dieses Vereins“.

Rutte wird daher auf dem nächsten EU-Gipfel dafür plädieren, den polnischen Konjunkturplan abzulehnen, um Polen die 36 Milliarden Euro zu entziehen, die es hätte erhalten sollen: 24 Milliarden Euro in Form von Zuschüssen und 12 Milliarden Euro in Form von Darlehen.

Souveränität, demokratische Legitimität und Verfassungsordnung der Mitgliedstaaten

Es sei jedoch darauf hingewiesen, dass nicht ganz Europa gegen die Position Warschaus ist, ganz im Gegenteil. Ungarn zum Beispiel hat sich sofort auf die Seite Polens gestellt und damit einmal mehr bestätigt, dass „Pole, Ungar, zwei Brüderlein“ sind (Lengyel, magyar – két jó barát / Polak, Węgier – dwa bratanki). Der ungarische Europaabgeordnete László Trócsányi (Fidesz), ehemaliger Justizminister (2014-2019), erklärte, dass „die europäischen Institutionen einen politischen Angriff auf die Entscheidung des polnischen Verfassungsgerichts von letzter Woche gestartet haben [wobei]

das polnische Verfassungsgericht den Vorrang des EU-Rechts in Fällen, in denen die Union zuständig ist, nicht in Frage stellt, sondern stellt es fest, dass die nationale Verfassung in der Rechtsordnung Vorrang hat.

[…] Das polnische Verfassungsgericht hat den Standpunkt vertreten, dass die Souveränität, die demokratische Legitimität und die verfassungsmäßige Ordnung der Mitgliedstaaten die Grundlage der nationalen Verfassungen sind, die den Rahmen für die Anwendung des EU-Rechts bilden.“ Eine Ansicht, die logischerweise auch die ungarische Justizministerin Judit Varga teilt:

Für uns ist dies ein sehr wichtiger Schritt […] in der Geschichte der EU. Es muss offen gesagt werden, dass es Bereiche gibt, in die sich die Union nicht einmischen darf, und dass sie stets die Verfassungsidentität der Mitgliedstaaten, ihre eigenen kulturellen Traditionen und ihr Verfassungssystem respektieren muss.

[…] Der Vertrag besagt auch, dass es Bereiche gibt, in denen die Staaten niemals auf ihre Souveränität verzichtet haben, was logischerweise die Aufteilung der Zuständigkeiten zwischen der Union und ihren Mitgliedstaaten impliziert. Von einem Vorrang des EU-Rechts kann also nur in den Bereichen gesprochen werden, in denen Zuständigkeiten übertragen worden sind. […] Man kann sagen, dass bei diesen gemeinsam ausgeübten Zuständigkeiten das EU-Recht Vorrang hat. Andererseits,

in Bereichen, in denen die Mitgliedstaaten die EU-Institutionen nie ermächtigt haben, sich in ihre Angelegenheiten einzumischen, kann der Vorrang des EU-Rechts nicht in Frage gestellt werden.“

Manche deutsche und französische Juristen teilen die polnische Auffassung

Auch der ehemalige Professor für politische Ökonomie an der Universität Mannheim, Roland Vaubel, unterstützt diese Position und meint,

er teile die Auffassung des deutschen und des polnischen Verfassungsgerichts, dass die Entscheidung über die Auslegung der EU-Kompetenzen nicht vom EU-Gerichtshof, sondern nur von den zuständigen Gerichten der Mitgliedstaaten getroffen werden könne.

Dies sei logisch und eine Folge der Tatsache, dass die Zuständigkeiten gerade von den Mitgliedstaaten auf die EU-Ebene übertragen wurden – gemäß dem Grundsatz der kompetenzzuweisung. Der ehemalige Generalsekretär des französischen Verfassungsrates, Jean-Eric Schoettl, von wPolityce zitiert, sagte im Wesentlichen das Gleiche.

In einer Reihe von europäischen Ländern vertreten rechte und manchmal auch linke Oppositionsparteien die Auffassung, dass die Auslegung der Verträge und des europäischen Rechts durch den EUGH keinen Vorrang vor nationalen Verfassungen haben dürfte. Dies ist zum Beispiel in Frankreich der Fall, wo alle Kandidaten der Rechten und der Mitte bei den Präsidentschaftswahlen im nächsten Jahr versprechen, einen Teil der durch missbräuchliche Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs konfiszierten Souveränität zurückzugewinnen und den Vorrang der Verfassung auf französischem Gebiet zu bekräftigen. Selbst Arnaud Montebourg, ehemaliger Wirtschaftsminister des sozialistischen Präsidenten François Hollande und linker Präsidentschaftskandidat, sagte nach der Entscheidung des polnischen Verfassungsgerichts, dass „die Verteidigung der nationalen Souveränität der Mitgliedstaaten von grundlegender Bedeutung“ sei, auch wenn er „die klerikale und reaktionäre Regierung Polens nicht gutheißt“ (sic).  In Italien haben sich die beiden größten Rechtsparteien, die Lega und die Fratelli d’Italia, ebenso wie die konservative Partei Vox in Spanien in diesem Zuständigkeitsstreit auf die Seite Polens gestellt.