Skip to content Skip to sidebar Skip to footer

Diplomatische Gegenoffensive Polens gegen die weißrussische Aggression

Lesezeit: 4 Minuten

Polen – Am 24. November hielt das Europäische Parlament eine Debatte über die Lage in Weißrussland und an dessen Grenze zur Europäischen Union sowie über die Auswirkungen auf die Sicherheit und die humanitäre Lage ab. Obwohl die Diskussion in einer besonders ruhigen Atmosphäre stattfand und von einer ungewöhnlichen Übereinstimmung der Ansichten gegen illegale Einwanderung geprägt war, konnten die Abgeordneten einen Eklat zu Beginn der Sitzung nicht vermeiden, indem sie unter dem Vorwand, die Vorgehensweisen des Europäischen Parlaments einzuhalten, dem polnischen Premierminister Mateusz Morawiecki die Möglichkeit verweigerten, an der Debatte teilzunehmen und seine Sicht der Krise und der Maßnahmen, die zu ihrer Eindämmung ergriffen werden müssen, darzulegen. Sein Brief wurde daher vom PiS-Abgeordneten Ryszard Legutko von der Fraktion der Europäischen Konservativen und Reformisten (EKR) verlesen.

Der polnische Regierungschef wies darin darauf hin, dass die Stimme Polens, des Landes, an dessen Grenzen „sich das Schauspiel des weißrussischen Regimes abspielt, heute in Straßburg präsent sein müsse, da die Situation nicht nur Warschau, Vilnius oder Riga betreffe, sondern eine Bedrohung für die gesamte Europäische Union darstelle (…). Seit mehreren Wochen schickt Alexander Lukaschenko jeden Tag Hunderte von Zivilisten an die polnisch-weißrussische Grenze. Was wir beobachten, ähnelt auf den ersten Blick der Migrationskrise von 2015. Die Wahrheit sieht jedoch anders aus. Wir haben es mit einer geplanten Provokation zu tun, bei der die Migranten nur Lukaschenkos Werkzeuge sind. Und sein Ziel ist es, die Situation in Europa zu destabilisieren“. Mateusz Morawiecki machte darauf aufmerksam, dass die Stärke Lukaschenkos und Putins aus der mangelnden Solidarität innerhalb der Europäischen Union und der Passivität ihrer führenden Politiker resultiere, die in der Vergangenheit nicht in der Lage gewesens seien, sich zu widersetzen, als Russland der Ukraine die Krim entreißen wollte, als Alexander Lukaschenko Wahlen gefälschte habe oder um den Bau der Gaspipeline Nord Stream 2 zu stoppen.

Die Dinge sind bereits zu weit gegangen. Russland und Weißrussland haben alle möglichen Grenzen überschritten. Wir können ihnen das nicht mehr erlauben“, schloss er am Ende seines Briefes und schlug in sieben Punkten Maßnahmen vor, um die Offensive von Minsk und dem Kreml zu stoppen, darunter eine Verschärfung der Wirtschaftssanktionen gegen beide Länder, eine engere Zusammenarbeit im Rahmen der NATO und Energiesolidarität innerhalb der EU.  Einmalig schien die polnische Sichtweise von den meisten Europaabgeordneten der großen Fraktionen geteilt zu werden, und es gab nur wenige kritische Kommentare zu der vom unfreiwillig abwesenden Mateusz Morawiecki vorgelegten Analyse, die hauptsächlich darin bestanden, das Problem als eine einfache humanitäre und Migrationskrise darzustellen, für die Polen die Verantwortung tragen würde.

Die Redner verzichteten im Allgemeinen darauf, den Begriff „Flüchtlinge“ zu verwenden, um die Migranten zu bezeichnen, die die polnische Grenze durchzubrechen trachten. Das Europäische Parlament ist sich also der politischen Dimension der aktuellen Krise durchaus bewusst, und viele Abgeordnete, darunter auch diejenigen, die darauf bestehen, Polen unter dem Vorwand der Nichteinhaltung der „Rechtsstaatlichkeit“ und der „europäischen Werte“ zu bestrafen, warfen der Europäischen Kommission die unzureichende finanzielle Unterstützung Polens vor und forderten eine entschlossene Reaktion und konkrete Maßnahmen, die gegen die Aggressoren durchgesetzt werden sollten, einschließlich Sanktionen gegen Fluglinien, die sich an der Schleusung von Migranten aus dem Nahen Osten beteiligen. Die Einheit und Solidarität der europäischen Länder wurde betont, und es gab kritische Stimmen gegenüber denjenigen, die Verhandlungen mit Weißrussland unter Umgehung der EU und der direkt in die Krise involvierten Länder Polen, Litauen und Lettland aufnehmen. Insbesondere wurde die Initiative der scheidenden deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel ins Visier genommen, die – trotz zahlreicher kritischer Stimmen sowohl in Deutschland als auch in Polen und den baltischen Staaten – zweimal mit Alexander Lukaschenko telefonierte. Es war der erste Kontakt mit dem weißrussischen Präsidenten, der seit den als gefälscht eingestuften Präsidentschaftswahlen in Weißrussland im August 2020 von einem hochrangigen westlichen Politiker initiiert wurde. Die Staats- und Regierungschefs der EU-Länder erkennen Lukaschenkos Sieg bei den weißrussischen Präsidentschaftswahlen im August 2020 nicht an und das Vorgehen der scheidenden Bundeskanzlerin wurde als Beitrag zur Legitimierung des Regimes des weißrussischen Diktators wahrgenommen. Der litauische Außenminister Gabrielius Landsbergis erklärte, dass Verhandlungen mit Lukaschenko ein „gefährlicher Weg“ seien, denn „Diktatoren sind dafür bekannt, dass sie das Recht nicht respektieren (…). Selbst wenn also etwas vereinbart wird, heißt das nicht, dass es auch eingehalten wird.“ Die Gespräche zwischen Merkel und Lukaschenko wurden auch in Polen sowohl von der Regierung als auch von der Opposition stark kritisiert.

Polen hatte seinerseits in der letzten Woche eine besonders intensive diplomatische Aktion. Innerhalb weniger Tage besuchte der polnische Ministerpräsident Mateusz Morawiecki neun europäische Hauptstädte und traf sich mit elf Staats- und Regierungschefs, darunter Emmanuel Macron, Angela Merkel und Boris Johnson. Der polnische Präsident Andrzej Duda besuchte das NATO-Hauptquartier in Brüssel, um mit NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg über eine mögliche Anwendung von Artikel 4 des Nordatlantikvertrags zu sprechen, der es ermöglicht, im Falle einer Bedrohung der Integrität und Sicherheit eines Mitgliedslandes der Allianz internationale Konsultationen auf höchster Ebene einzuleiten. Diese Möglichkeit wurde jedoch zum jetzigen Zeitpunkt als verfrüht angesehen.

Die Lage an der Grenze bleibt angespannt. Das polnische Verteidigungsministerium informierte am 29. November über Twitter, dass die weißrussischen Dienste fast jede Nacht den Grenzzaun beschädigen würden, um Migranten die illegale Einreise nach Polen zu ermöglichen. Nach Angaben des Grenzschutzes hätten am Vortag fast 100 Personen versucht, die Grenze nach Polen zu überqueren, was den seit einigen Wochen zu beobachtenden Abwärtstrend bei der Zahl der Versuche bestätige, auch wenn die Polen bemerken, dass die uniformierten Weißrussen nicht einmal mehr verbergen würden, dass sie Migranten helfen, die versuchen, den Ende August aufgestellten provisorischen Stacheldrahtzaun zu überwinden. Bis Mitte nächsten Jahres wird aufgrund eines Sondergesetzes entlang der Grenze zu Weißrussland ein fünf Meter hoher Zaun mit Stacheldraht und elektronischen Geräten errichtet. Der 180 km lange und 5,5 m hohe Zaun wird in der Woiwodschaft Podlachien errichtet, während es in der weiter südlich gelegenen Woiwodschaft Lublin bereits eine natürliche Barriere in Form des Flusses Bug gibt.

Es ist jedoch zu befürchten, dass das letzte Woche von SPD, FDP und Grünen angekündigte Programm der nächsten deutschen Regierung, das den Erwerb der deutschen Staatsbürgerschaft und die Familienzusammenführung erleichtern soll, den Druck an der Grenze wieder erhöhen könnte. Denn das Hauptziel dieser „Migranten“ ist bekanntlich Deutschland und nicht Polen oder die baltischen Staaten.