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Europawahlen 2019: Schachspiel in Mitteleuropa

Lesezeit: 13 Minuten

Welch wird die Zusammensetzung der Fraktionen im Europaparlament nach den Wahlen im kommenden Mai sein? Schachspiel in Mitteleuropa, Aktivismus von Salvini, Repositionierung der Populisten in Westeuropa, Konsequenzen vom Brexit, Ungewissheit bezüglich Fidesz und ANO.

Treffen zwischen dem italienischen stellvertretenden Ministerpräsidenten Matteo Salvini und dem polnischen PiS-Vorsitzenden Jarosław Kaczyński; rechts im Bild Ryszard Legutko, Chef der PiS-Delegation im Europaparlament und Kopräsident der EKR-Fraktion. In der Legende: „Vize-Premier Salvini: ich befürworte das Aufkommen einer italienisch-polnischen Achse“.

Nachdem er Viktor Orbán im August 2018 in Italien empfangen hatte, ist nun Matteo Salvini am 9. Januar 2019 nach Warschau in Polen gereist, wo er sich mit Jarosław Kaczyński, dem Führer der regierenden Partei getroffen hat. Dabei erklärte er, dass Italien und Polen „die Protagonisten des neuen europäischen Frühlings“ sein würden. Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán bezeichnete dieses Bündnis zwischen Italien und Polen als „eines der größten Ereignisse, die den Jahresanfang prägen könnten“. Andere Chronisten meinen im Gegenteil, dass Salvini in dessen Suche nach politischen Allianzen auf europäischer Ebene bloß auf Sicht fliege.

Während Matteo Salvini sich mit der PiS-Führung traf, kam Luigi Di Maio – die Galionsfigur der Fünf-Sterne-Bewegung, des anderen Partners der italienischen Regierungskoalition – mit dem polnischen Populisten Paweł Kukiz zusammen, um ein Abkommen im Hinblick auf die Europawahlen abzuschließen, und zwar kurze Zeit nachdem Di Maio sein Interesse dafür ausgedrückt habe, ein Bündnis mit einer etwaigen aus den französischen Gelbwesten hervorgehenden politischen Bewegung einzugehen.

Diese Treffen sind der Anlass für eine Bestandsaufnahme des europäischen Spiels der Allianzen vier Monate vor den Europawahlen.

Schicksalsschwere Wahlen?

Wenn es ein Thema gibt, worüber beinahe alle politische Strömungen sich in Europa einig sind, dann eben darüber, dass die Europawahlen von Mai 2019 richtungsweisend sein werden. Es prallen zwei entgegengesetzte Richtungen, die – zumindest symbolisch – einerseits vom französischen Präsidenten Emmanuel Macron und andererseits vom ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán vertreten werden.

Macron und Orbán haben es nicht versäumt, einander als den Vertreter des gegnerischen Lagers zu bezeichnen: zu Besuch in Pressburg hat Macron die Regierungen Ungarns und Polens „verrückte Geister“ genannt, die „ihre Völker belügen“ würden, während Orbán, ab August anlässlich einer Reise nach Italien, um sich mit Innenminister Matteo Salvini zu treffen, auf Macron zielte, den er als Führer der einwanderungsfördernden Kräfte bezeichnete.

Im September 2018 kam Orbán persönlich nach Straßburg, um bezüglich des gegen Ungarn gerichteten Sargentini-Berichts das Wort zu ergreifen, und erwähnte erneut die kommenden Wahlen von Mai 2019: „Wir, Ungarn, stehen für die Wahlen im kommenden Mai bereit, in deren Rahmen endlich die Menschen über die Zukunft Europas werden entscheiden und die Demokratie in die europäische Politik zurückbringen können.“

Das Europaparlament ist zwar nicht die einzige führende Instanz der Europäischen Union und es ist wenig wahrscheinlich, dass die Wahlen im Mai 2019 zu einer radikalen Änderung innerhalb der EU führen, doch sind dessen symbolische Bedeutung – als einzige demokratische Instanz der EU – und dessen Rolle in den Institutionen – vor allem am Anfang der Legislaturperiode wegen der Amtseinführung der europäischen Kommissare – nicht zu unterschätzen.

Viktor Orbán hat im Januar 2019 seine Ambition bekräftigt, dass eine migrationsfeindliche Mehrheit in jeder Institution der Europäischen Union entstehe. Die erste Etappe ist das Europaparlament, dann die Europäische Kommission und schließlich der Europäische Rat, nachdem nationale Parlamentswahlen migrationsfeindliche Regierungen an die Macht werden gebracht haben.

Derzeitiges Kräfteverhältnis und absehbare Konsequenzen des Brexit

Seit der Einrichtung eines im allgemeinen Wahlrecht gewählten Europaparlaments im Jahr 1979, bilden die christlich-demokratische Europäische Volkspartei (EVP) und die Sozialdemokraten die zwei größten Fraktionen in diesem Gremium, bilden gewöhnlich gemeinsam eine Mehrheit und teilen sich untereinander den Posten des Parlamentspräsidenten.

Im Januar 2019 verteilen sich die 750 Abgeordneten wie folgt:

  • EVP: 218 Abgeordnete (darunter die Mandatare des Fidesz)
  • Sozialdemokraten: 186 Abgeordnete (darunter die Mandatare der slowakischen SMER und der rumänischen PSD)
  • EKR (Europäische Konservative und Reformer): 74 Abgeordneten (darunter 19 polnische Mandatare u.a. vom regierenden PiS und 19 britische Konservative)
  • ALDE (Allianz der Liberalen und Demokraten für Europa, unter dem Vorsitz von Guy Verhofstadt): 68 Abgeordnete (darunter die vier Mandatare der tschechischen ANO)
  • Grüne/EFA: 52 Abgeordnete
  • Vereinte Europäische Linken u. Nordische Grüne Linke: 52 Abgeordnete
  • EFDD (Europa der Freiheit und der direkten Demokratie): 43 Abgeordnete (darunter 19 Mandatare der britischen UKIP, 14 Mandatare der italienischen Fünf-Sterne-Bewegung und ein Mandatar der AfD, Jörg Meuthen)
  • ENF (Europa der Nationen und der Freiheit): 34 Abgeordnete (darunter 15 Mandatare des französischen Rassemblement National von Marine Le Pen, 4 Mandatare der österreichischen FPÖ und 6 Mandatare der italienischen Lega Nord)
  • Fraktionslos sind 23 Abgeordnete.

Das aktuelle Kräfteverhältnis ergibt eine absolute Mehrheit (dafür sind 375 Sitze notwendig) für die EVP und die Sozialdemokraten, die gemeinsam 404 von 750 Abgeordneten aufstellen. Unter den fixen Mitgliedern der pro-Brüssel-Mehrheit kann man ebenfalls die liberalen Abgeordneten der ALDE zählen.

Auf der linken Seite sind die Fraktionen der Grünen und der Linken insgesamt pro-Europa und pro-Einwanderung, während ihre Nuancen bzw. Meinungsverschiedenheiten gegenüber den Mehrheitsströmungen eher hier und da in den Bereichen Umwelt, Freihandel (CETA) bzw. bezüglich der Beziehungen zu Russland (was die linke Fraktion betrifft) zu liegen scheinen.

Rechts von der EVP findet man drei Fraktionen:

  • die EKR-Fraktion, die es 2014 knapp erreichte, die drittgrößte Kraft im Parlament zu werden, indem sie u.a. die flämische NVA für sich gewinnen konnte, besteht hauptsächlich aus Konservativen und anderen Christdemokraten, die mit der EVP gebrochen haben bzw. ein paar Rechtspopulisten, doch distanziert sie sich von Mandataren, die als rechtsradikal bezeichnet werden könnten. So wurden im März 2016 die Mandatare der deutschen AfD ausgeschlossen.
  • die ENF-Fraktion, die wegen der Schwierigkeit, Mandatare aus mind. sieben Ländern zu gewinnen nicht gleich 2014 gebildet werden konnte, wurde im Laufe der Legislaturperiode dank des Beitritts einer ehemaligen UKIP-Mandatarin und zweier polnischen KNP-Abgeordneten konstituiert, nachdem ihr früherer Führer Janusz Korwin-Mikke ausgeschlossen wurde.

Eine neue EFDD-Sammelsurium-Fraktion mit der Fünf-Sterne-Bewegung?

Der Brexit wird die Lage für die Fraktionen rechts der EVP wesentlich durcheinanderbringen. Die Zukunft der EFDD-Fraktion ist wegen des Abgangs der Briten und der Labilität der Positionierung der Fünf-Sterne-Bewegung ziemlich ungewiss.

Bisher war die EFDD-Fraktion (die während der vorigen Legislaturperiode 2009-2014 EFD hieß) vorwiegend das Instrument Nigel Farages, der sie als Tribüne benutzte, um den Brexit zu fördern. Als Präsident der Fraktion war Nigel Farage imstande, lange Redebeiträge in der ersten Reihe des Parlaments zu liefern, was er auch benutzte, um in Großbritannien und darüber hinaus berühmt zu werden.

Außer der UKIP und der Fünf-Sterne-Bewegung besteht die EFDD-Fraktion hauptsächlich aus Gelegenheitsverbündeten, die ideologisch nicht viel Gemeinsames haben. So wurde diese Fraktion 2014 gebildet, indem sie eine soeben aus ihrer Partei ausgetretene FN-Mandatarin bzw. die Schwedendemokraten für sich gewinnen konnte, die ursprünglich mit dem FN verbündet waren, doch es schließlich bevorzugten, eine Allianz mit Farage zu schließen, dessen Image weniger radikal war. Bemerken wir auch, dass diese Fraktion beinahe verschwunden wäre, nachdem eine lettische Abgeordnete ausgetreten war, doch konnte sie innerhalb 48 Stunden einen polnischen Mandatar (Robert Iwaszkiewicz) ergattern, der von der Liste des kaum salonfähigen Janusz Korwin-Mikke stammte. Insofern war die Strategie Farages ziemlich flexibel, denn sie diente einem einzigen Ziel, nämlich ihm eine Tribüne zu gewähren, um seinen politischen Diskurs verbreiten zu können.

Es schiene also, dass der größte Wunsch Farages es war, nicht in derselben Fraktion wie Marine Le Pen zu sitzen, sowohl aus Imagegründen als auch um nicht mit einer weiteren starken Persönlichkeit in der Fraktion umgehen zu müssen.

Die Fünf-Sterne-Bewegung scheint nun die EFDD-Fraktion behalten zu wollen, die sie 2017 doch zu verlassen versuchte. Wegen ihres politischen Gewichts würde die M5S unweigerlich die Führung dieser Fraktion übernehmen.

Im Hinblick auf die Verwirklichung dieses Ziels sind mehrere Verbündete gefunden worden, so die polnische Kukiz-Bewegung, die kroatische Partei Živi zid – die als populistisch bezeichnet wird – sowie die finnische liberale Partei Liike Nyt.

Genauso wie in der Legislaturperiode 2014-2019 wird die künftige etwaige von der Fünf-Sterne-Bewegung geführte EFDD-Fraktion ihren Mitgliedern eine vollständige Abstimmungsfreiheit gewähren, was ihre Fähigkeit fördern sollte, Freigeister für sich zu gewinnen, um die notwendigen sieben Staatsbürgerschaften erreichen zu können.

Der ENF-Fraktion wird es ums Überleben gehen

Die ENF-Fraktion zählt derzeit acht Staatsbürgerschaften. Wenn sie so bleibt wie jetzt, dann würde sie nach dem Austritt des Vereinigten Königreichs noch knapp die sieben erforlichen Staatsbürgerschaften weiter zählen. Allerdings ist es nicht sicher, dass all ihre Mitglieder wiedergewählt (u.a. die polnischen KNP-Mandatare) bzw. innerhalb der ENF-Fraktion bleiben werden – da die Positionierung von Salvinis Lega im Moment noch ungewiss ist. Weitere Verbündete könnten jedoch als Verstärkung dazukommen, z.B mit dem etwaigen Einzug der tschechischen Nationalistenpartei SPD von Tomio Okamura.

Es ist auch nicht unmöglich, dass die Fraktion sich wegen der Anforderung der sieben Staatsbürgerschaften nicht erneut konstituieren könne – wobei das Kontingent der französischen RN-Mandatare beinahe allein die zweite Bedingung von 25 Mitgliedern erfüllen sollte. Alles wird davon abhängen, wie Parteien wie die italienische Lega oder die österreichische FPÖ sich positionieren werden: sie sind während der Legislaturperiode 2014-2019 zu Regierungsparteien geworden, was sie in den Augen von potentiellen Partnern – vorwiegend in der EKR-Fraktion – salonfähiger kann erscheinen lassen.

Allerdings ist es auch nicht sicher, dass die Schwergewichte der EKR-Fraktion Interesse daran haben, dass größere Parteien wie der französische Rassemblement National (RN) – der darauf hoffen kann, erneut um die 20 Mandatare ins Europaparlament zu schicken – nach den Wahlen vollends links liegen blieben und fraktionslos werden, da diese Abgeordneten die Regierungen Polens bzw. Ungarns systematisch unterstützten, als diese in den letzten Jahren zum Gegenstand eines feindlichen Votums im Europaparlament wurden.

Die Zukunft der EKR-Fraktion und die unwahrscheinliche gemeinsame Fraktion der Europaskeptiker

Was die EKR-Fraktion anbelangt, so ist sie zwar durch den Abzug der britischen Konservativen nicht gefährdet, doch wird dieser Verlust von 19 Abgeordneten sie wohl schwächen. Um ihren Platz als drittgrößte Fraktion im Europaparlament behalten zu können, wird sich die EKR-Fraktion also für neue Partner öffnen müssen, umso mehr als die ALDE-Fraktion Verstärkung durch die Mandatare der französischen Regierungspartei La République en Marche (LREM) erfahren könne, die es 2014 noch gar nicht gab.

Verstärkung für die EKR-Fraktion könnte aus Frankreich mit der Partei Debout la France (DLF) von Nicolas Dupont-Aignan kommen, die derzeit im Europaparlament nicht vertreten wird, bisher mit der EFDD-Fraktion von Nigel Farage verbündet war und nun ein Abkommen mit der EKR-Fraktion abgeschlossen hat. Vorausgesetzt, dass die Wahl vom Mai 2019 der von Dupont-Aignan angeführten Liste mehr als 5% der Stimmen einbringen, was die Umfragen derzeit erwarten lassen.

Der tschechische Europaabgeordnete Jan Zahradil und Spitzenkandidat der EKR-Fraktion für die Europäische Kommission erwähnte ebenfalls die italienische Lega Nord als potentiellen neuen Partner der EKR-Fraktion. Doch scheint er eine Zusammenarbeit mit dem französischen Rassemblement National (ehem. FN) bzw. mit der deutschen AfD auszuschließen, u.a. wegen geopolitischer Meinungsverschiedenheiten zwischen den Anhängern des Atlantismus und den russlandfreundlichen Parteien.

Während die russische Frage teilweise stimmt – besonders für Polen –, so könne dies nicht das einzige Argument sein, besonders wenn man die russlandfreundliche Positionierung Matteo Salvinis in Betracht zieht, die ihn nicht daran gehindert hat, in Warschau empfangen zu werden. In Wirklichkeit scheinen sich die Regierungen Ungarns und Polens, Zusammenkünfte mit führenden Politikern aus Westeuropa zu erlauben, die als Populisten bzw. Europaskeptiker bezeichnet werden, sobald letztere an einer Regierungskoalition teilnehmen und ein solches Treffen als Regierungsarbeit vorgestellt werden kann. So war es mit dem Treffen zwischen Viktor Orbán und dem österreichischen Vizekanzler und FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache bzw. dem italienischen stellvertretenden Ministerpräsidenten Matteo Salvini. Und nun ist es genau so für das Treffen zwischen Kaczyński und Salvini.

Umgekehrt, obwohl sie gegenüber ihrem französischen Partner des RN (ehem. FN) loyal bleiben, mit dem sie im Europaparlament bis zu Ende der Legislaturperiode in der ENF-Fraktion zusammensitzen, haben die Anführer der italienischen Lega und der österreichischen FPÖ in den letzten Monaten mehr Interesse daran gezeigt, öffentlich mit Orbán bzw. Kaczyński gesehen zu werden, wie die Abwesenheit prominenter Persönlichkeiten wie Salvini (der eine Videobotschaft übermitteln ließ) oder Strache (vertreten durch Harald Vilimsky) bei einem vom RN am 1. Mai 2018 in Nizza organisierten europäischen Treffen es zeigte.

Soll man daraus schließen, dass der Beitritt der Lega zur EKR-Fraktion nach den Wahlen von 2019 auf gutem Wege sei? Auf jeden Fall hat der Deutsche Manfred Weber, der von der EVP zum ihrem Kandidat als Nachfolger an der Spitze der Europäischen Kommission ernannt wurde, es nicht versäumt, wissen zu lassen, dass er es gern sehen würde, wenn die Lega sich der EKR-Fraktion anschließen und entsprechend die ENF-Fraktion verlassen würde, wo Marine Le Pens Rassemblement National sich befindet.

Hinter einer anscheinenden Verzettelung scheint Salvini sich keine Tür verschließen zu wollen, da er weiterhin gute Beziehungen mit Marine Le Pen pflegt, die er im Oktober in Italien empfing, um eine „Front der Freiheit“ im Hinblick auf die Europawahlen von 2019 anzukündigen.

Manche Stimmen, wie die von Salvini bzw. von der deutschen AfD, haben den Wunsch geäußert, nach 2019 eine gemeinsame Fraktion zu gründen, die alle Europaskeptiker versammeln würden, die man derzeit in den EKR-, EFDD- bzw. ENF-Fraktionen finden kann. Eine solche Fraktion könnte durchaus über hundert Mandatare zählen.

Allerdings ist die Wahrscheinlichkeit ziemlich gering, dass eine solche Einheitsfraktion gegründet werde, u.a. wegen der Auswirkung, die dies auf manche dieser Regierungsparteien auf nationaler Ebene haben könnte, wenn sie sich mit manchen Bewegungen verbünden, die als zu sehr ausgegrenzt bzw. ausgrenzend gelten.

Während die Perspektive, den PiS in der gleichen Fraktion mit dem RN oder dem Vlaams Belang zu finden, nicht an der Tagesordnung zu sein scheint, merkt jedoch Olivier Bault, dass „man eine Entwicklung innerhalb des PiS gegenüber der französischen Nationalbewegung bzw. Marine Le Pen fühlen kann.“

Bei den Abstimmungen im Europaparlament gegen die Regierungen Polens und Ungarns haben letztere in der Tat immer auf die Unterstützung der ENF-Mandatare zählen können und suchen also – ohne sich jedoch mit ihnen politisch zu verbünden – freundschaftliche Beziehungen mit diesen Parteien zu pflegen.

Man darf sich somit nach 2019 – wenn die ENF-Fraktion sich erneut konstituieren kann – ein Szenario mit zwei Fraktionen rechts von der EVP vorstellen, mit einer informellen Zusammenarbeit zwischen beiden Fraktionen, umso mehr als die meisten europaskeptischen Parteien im Grunde genommen auf einem Austritt aus der EU bzw. aus der gemeinsamen Währung verzichtet haben. Dazu käme noch eventuell eine EFDD-Fraktion in der Stellung des Freikämpfers bzw. ohne klare politische Linie – zur Erinnerung haben die Europaabgeordneten der Fünf-Sterne-Bewegung dem Sargentini-Bericht gegen Ungarn beigestimmt…

Ungewissheit bezüglich des ungarischen Fidesz und der tschechischen ANO

Das Verbleiben des Fidesz innerhalb der EVP wurde seit mehreren Monaten zum Gegenstand zahlreicher Debatten und Spekulationen. Jean-Claude Juncker selbst erklärte, dass der Fidesz seiner Meinung nach keinen Platz mehr in der EVP habe, während Manfred Weber dem Sargentini-Bericht gegen die ungarische Regierung beistimmte.

Sogar in Ungarn wird die Frage manchmal aufgeworfen, wie dies anlässlich einer Frage aus dem Publikum bei der Sommeruniversität in Tusványos (Siebenbürgen) der Fall wurde, wo Viktor Orbán alljährlich eine allgemeine politische Rede hält.

Allerdings ist der Fidesz innerhalb der EVP nicht völlig isoliert, wo er noch über solide Stützen wie deren Vorsitzenden Joseph Daul verfügt. Bei der Abstimmung über den Sargentini-Bericht konnte der Fidesz noch mehrere verlässliche Verbündete zählen, wie die Mandatare der Forza Italia, der kroatischen HDZ bzw. der slowenischen SDS.

Was Viktor Orbán betrifft, so ist dessen Kommunikation zu dem Thema weiterhin unverändert: für ihn kommt es nicht in Frage, dass der Fidesz die EVP verlasse.

Über eine gewisse Verlegenheit in deren Reihen hinaus, den Fidesz unter ihren Mitgliedern weiter zu zählen, geht es in der EVP vor allem darum, die größte Fraktion im Europaparlament zu bleiben. Trotz des geringen demographischen Gewichts Ungarns innerhalb der Union sind die Wahlergebnisse des Fidesz derart, dass die ungarische EVP-Delegation zahlenmäßig immerhin die fünftgrößte in der Fraktion ist.

Denn die Hypothese eines Ausschlusses des Fidesz hätte als Konsequenz, dass eine Dutzend – wenn nicht mehr – Mandatare abgehen würden, und zwar wahrscheinlich in Richtung der EKR-Fraktion, die es nicht versäumt zu wiederholen, dass er dort willkommen wäre. Diese Hypothese würde der EVP aber auch der Strategie Orbáns schaden, der eher seine Partner auf seine Linie herziehen will, statt sich auf der europäischen Szene ausgrenzen zu lassen.

Merken wir auch den großen Einfluss des Fidesz auf die ungarischen Abgeordneten (RMDSZ/UDMR) aus Rumänien bzw. aus der Slowakei – falls die eine der beiden ungarischen Parteien, die Fidesz-nahe MKP, ihre Vertretung im Europaparlament behalten könne. Somit entspricht das potentielle Gewicht des Fidesz in etwa 15 Mandatare (12 Fidesz aus Ungarn, 2 RMDSZ aus Rumänien und einen MKP aus der Slowakei).

Falls der Fidesz aus der EVP ausgeschlossen wird und es schaffen sollte, seine Verbündeten aus den ungarischen Minderheiten bzw. weitere Partner aus Italien, Kroatien und Slowenien mitzunehmen, dann würde die EVP über weniger Abgeordnete verfügen als die Sozialdemokraten – umso mehr als die deutsche CDU und die französischen Les Républicains (LR) sehr wahrscheinlich schlechtere Wahlergebnisse als 2014 einfahren werden.

Wie dem auch sei wird sich vor den Wahlen und den Ernennungen der europäischen Kommissare zwischen Fidesz und EVP vermutlich kaum was bewegen.

Eine weitere etwas fundiertere Ungewissheit bezieht sich darauf, wo die Europaabgeordneten der tschechischen Regierungspartei ANO von Ministerpräsident Andrej Babiš sitzen werden. Letztere gehören derzeit der von Guy Verhofstadt geführten ALDE-Fraktion und haben dem Sargentini-Bericht gegen die ungarische Regierung beigestimmt, was den Unmut Andrej Babišʼ hervorrief, der infolgedessen präzisierte, dass sie ein Jahr später keine Europaabgeordneten mehr sein würden, ihre Abstimmung bedauerte und sich davon distanzierte.

Was mit den Linkspopulisten aus Ost- und Mitteleuropa?

Auf der linken Seite ruft manchmal die Anwesenheit der slowakischen SMER – der größten Partei der Regierungskoalition in Pressburg – bzw. der rumänischen PSD innerhalb der sozialdemokratischen Fraktion einige Fragen wegen der „populistischen“ Orientierung der Regierungsweise dieser beiden Parteien hervor. In der Vergangenheit wurde die SMER mehrmals wegen ihrer Regierungsbündnisse mit rechtsnationalen Parteien – darunter der SNS – heftig kritisiert.

Wenn er die globale Lage in Europa erwähnt, sieht es der EVP-Kandidat als Präsident der Europäischen Kommission, Manfred Weber, genauso und vergisst dabei auch nicht die rumänischen Sozialisten der PSD: „Wenn ich mir heute die europäische politische Landschaft anschaue, dann sehe ich Salvini in Italien, Kaczyński in Polen, die rumänischen Sozialisten, Orbán. Wir würden uns natürlich etwas Anderes wünschen, aber das ist die Realität.“

Wenn drei der vier SMER-Mandatare als zuverlässige Leute durch die Netzwerke George Sorosʼ identifiziert wurden, muss man feststellen, dass letztere – außer Boris Zala – die Anweisungen ihrer Fraktion bei den Abstimmungen über die Lage in Ungarn bzw. Rumänien nicht systematisch befolgt haben.

Verhalten der slowakischen SMER-Mandatare anlässlich der Abstimmungen über Ungarn und Rumänien. Quelle: votewatch.eu

Die Situation der SMER und der PSD bei den Sozialdemokraten ist derjenigen des Fidesz in der EVP sehr ähnlich: trotz mancher Meinungsunterschiede scheint niemand ein Interesse an einer Scheidung zu haben, die die sozialdemokratische Fraktion schwächen und die Ausgeschlossenen ausgrenzen würde.

Während die Lage der SMER innerhalb der sozialdemokratischen Fraktion nicht allzu viel Fragen aufwirft, wird es dagegen interessant sein, zu sehen, wie die Lage der rumänischen PSD-Mandatare sich entwickeln wird, nachdem eine erste Abstimmung im Europaparlament gegen die rumänische Regierung stattgefunden hat und Rumänien nun turnusmäßig den Vorsitz der Europäischen Union übernommen hat.

Eine weitere (derzeit rein theoretische) Option für diese Linkspopulisten – im Falle einer Trennung mit den Sozialdemokraten – wäre eine etwaige Annäherung mit der künftigen EFDD-Fraktion unter der Führung der Fünf-Sterne-Bewegung.

Fraktionsübergreifende Koordinationen?

Es ist also kaum wahrscheinlich, dass die Zusammenarbeit der unterschiedlichen Oppositionsgruppen gegen die heutige Orientierung der Europäischen Union sich mit der Gründung einer gemeinsamen Fraktion während der Legislaturperiode 2019-2024 im Europaparlament kristallisiere.

Es heißt aber keineswegs, dass dies für die reformatorischen Bestrebungen günstig wäre, da die EVP und die Sozialdemokraten ohne ihre jeweiligen Störenfriede zwar zahlenmäßig einigermaßen schwächer wären, doch könnten sie – mit der liberalen ALDE-Fraktion – einen mehrheitlichen Zentrumsblock bilden, der keinen internen Widerspruch mehr erleben würde.

Denn auch wenn ein Erstarken der Populisten möglich ist, scheint es noch wahrscheinlich, dass die drei Fraktionen von Sozialdemokraten, ALDE und EVP zusammen über eine bequeme Mehrheit im Europaparlament verfügen werden, auch wenn der Fidesz oder die PSD daraus abziehen sollten.

Falls darüber hinaus schwer vorhersehbare politische Phänomene woanders in Europa aufkommen – wie die Fünf-Sterne-Bewegung in Italien bzw. die Gelbwestenbewegung in Frankreich (von der es derzeit unmöglich ist zu sagen, ob sie zu einer Wahlbewegung werden wird, und wenn ja zu was für einer) –, dann würden sie dazu auch noch beitragen, die traditionellen Kräfte zusätzlich zu schwächen.

Vorbehaltlich größerer Umwälzungen des heutigen Kräfteverhältnisses könnte der Weg der Reform hier und da die Form von fraktionsübergreifenden Koordinationen auch über die nationalen politischen Traditionen hinweg annehmen. In diesem Sinne stellt die Ablehnung des Berichts gegen die rumänische Regierung durch die Fidesz-Abgeordneten – während die PSD-Mandatare zwei Monate zuvor dem Sargentini-Bericht gegen Ungarn beigestimmt hatten –, ein Vorbild des politischen Pragmatismus dar. Merken wir allerdings, dass das Verhalten der PSD-Abgeordneten gegen Ungarn von zahlreichen Anhängern der Linie des PSD-Vorsitzenden Liviu Dragnea besonders kritisiert worden ist und dass durchaus denkbar sei – wie auch in Tschechien –, dass die künftigen PSD-Mandatare nun sorgfältiger aufgrund ihrer Linientreue ausgewählt werden.

Man kann übrigens auch nicht ausschließen, dass die Verachtung der Westeuropäer und Brüssels für die Regierungen Ost- und Mitteleuropas das beste Mittel darstellt, um letztere dazu zu bringen, ihre Solidarität und ihre politische Identität über die V4 hinaus zu stärken – das Ganze mit der Unterstützung der westeuropäischen Populisten, die deren Regierungsweise loben.