Polen/USA – Immer wieder stellt man mit Erstaunen fest, daß die Sichtweise der polnischen Konservativen auf die USA eine vollständig unterschiedliche ist als diejenige der französischen oder auch deutschen; auch und gerade im Kontext der gegenwärtigen russisch-ukrainischen Krise. Dies mag eine Binsenweisheit sein, sollte aber gerade in den gegenwärtigen, außenpolitisch zunehmend schwierigen Zeiten für Polen und das Trimarium-Gebiet nicht vergessen, sondern aktiv bedacht werden. Die geopolitische Ausgangssituation ist allbekannt: Eingekeilt zwischen Deutschland und Rußland ist es seit jeher die polnische Strategie gewesen, sich an periphere Bündnispartner zu wenden, welche die Garantie politischen Überlebens gegen jene beiden übermächtigen Nachbarn liefern können, ohne selber territoriale Interessen u hegen. In der praktischen Auskleidung jener Doktrin ist allerdings feststellen, daß jener äußeren Mächte aufgrund der jeweiligen historischen Entwicklung meist solche waren, die zwar ein pragmatisches Interesse am Überleben Polens zeigten, deren Ideologie aber den polnischen Konservatismus faktisch eher behinderte als förderte.
Ein erstes Beispiel ist hierbei fraglos das bis heute immer noch positiv gewürdigte Bündnis mit Napoleon, der sich zwar aufgrund der Wiederherstellung Polens als französischem Vasallenstaat große Verdienste um die Rückgängigmachung der Teilungen erworben hat, dessen tatsächliche Politik aber auf eben jenen „revolutionären Werten“ beruhte, welche langfristig die spirituellen Grundwerte nicht nur der polnischen, sondern jeder anderen europäischen Gesellschaft untergraben mußte.
Ein weiteres Beispiel ist die Anlehnung des neugegründeten polnischen Nationalstaat nach dem Ende des Ersten Weltkriegs an die westlichen Entente-Mächte, welche ebenfalls eine Ideologie verfolgten, die dezidiert antichristlich, internationalistisch und plutokratisch aufgestellt war – eine Anlehnung, die dann auch im Zweiten Weltkrieg versucht wurde, letztlich aber in territorialer Verstümmelung und zwei Generationen sowjetischer Dominanz endete.
Das heutige Bündnis mit den Vereinigten Staaten gehört ebenfalls in diese Kontinuität, und es ist zu befürchten, daß die negativen Konsequenzen wohl erst offenbar werden, wenn es bereits zu spät ist.
Sicherlich, das idealisierte Bild, das viele Polen von den USA hegen, mag dieser Befürchtung widersprechen und wurde durch die Präsidentschaft Donald Trumps und seine kurze Traumhochzeit mit der polnischen konservativen Regierung scheinbar völlig bestätigt. Aus dieser Sichtweise gelten die USA als ultimative Vorbilder einer freiheitlich ausgerichteten republikanischen Ordnung, welche zum einen tief verwurzelt ist im christlichen Bekenntnis, zum anderen von einem unbändigen Willen zur individuellen Freiheit beseelt ist; zwei Faktoren, welche in schönster Weise mit der (katholischen) religiösen Gesinnung Polens und der polnischen Tradition des „liberum Veto“ gleichzuklingen scheinen. Daß die USA sich in der Zeit der kommunistischen Diktatur obendrein zu einem Idealbild von Wohlstand, Demokratie und Freiheit entwickelt haben und aufgrund ihres praktischen Vergleichs mit den desaströsen Verhältnissen im real existierenden Sozialismus aus polnischer Sicht ein vielbeneidetes Erfolgsmodell darzustellen schienen, ist ebenfalls durchaus verständlich.
Aber die USA des 21. Jahrhunderts haben nur noch wenig mit einer solchen um mehrere Generationen veralteten Idealvorstellung zu tun, wie von vielen westlichen Intellektuellen, welche die USA nicht durch den Kontrast mit dem realen Kommunismus kannten, sondern vielmehr durch die kritische Auseinandersetzung mit den tatsächlichen Folgen der Amerikanisierung, bereits im 20. Jahrhundert kritisiert wurde (ja eigentlich, denkt man an de Toqueville, bereits schon im 19. Jahrhundert vorausgeahnt werden konnte). Schon damals zeigte sich sogar in so selbstbewußten Staaten wie Frankreich, daß die Anglisierung der Sprache zu einem Rückgang der eigenen Muttersprache führen würde, der ultraliberale Kapitalismus der USA zu einer Diktatur einiger großer Oligopole, die Amerikanisierung der Kultur (und nicht zuletzt der Gastronomie) zu einem bedenklichen Niedergang der eigenen kulturellen Entwicklungen, und die naive und oft genug unwissende und egozentrische Übertragung eigener demokratischer Kriterien auf nicht-abendländische Staaten zu einer nicht abreißenden Folge außenpolitischer Desaster, in deren Konsequenz
nicht nur die USA, sondern eben auch viele europäische Staaten überall auf der Welt in einem äußerst schlechten Licht betrachtet werden.
Diese Entwicklung hat sich heute um weitere, bedenkliche Erscheinung vermehrt. Ein unvoreingenommener Blick auf die tatsächliche Lebensrealität der Vereinigten Staaten zeigt, in welchem Maße die USA in den Griff jener selbstzerstörerischen Ideologie geraten sind, die man oft genug als „politische Korrektheit“ oder „Wokismus“ bezeichnet hat, und welche unter der Präsidentschaft Joe Bidens ihren noch nie dagewesenen Höhepunkt feiert.
Die USA stehen heute nicht mehr für individuelle Freiheit, Demokratie und Lebenslust, sondern vielmehr für die erbarmungslose Durchsetzung von Multikulturalismus, LGBTQ-Ideologie, die Umwandlung demokratischer in oligarchische Strukturen, Masseneinwanderung, Ent-Christianisierung, Casino-Kapitalismus, Verdammung der eigenen historischen Vergangenheit, Verfolgung angeblich toxischer Maskulinität und vieles weitere.
Man sollte sich also keinerlei Illusionen hingeben, daß zumindest unter den gegenwärtigen politischen Umständen ein solches Bündnis mit den USA für eine konservative polnische Regierung zunehmend widernatürlich wird, und die erhoffte Garantie der polnischen staatlichen Autonomie teuer bezahlt werden muß, nämlich durch die Aufgabe der inneren kulturellen Autonomie, welche wohl kaum weniger schwerwiegend sein dürfte als die erstere. Nun sollte man diese Ausführungen aber keineswegs als Appell lesen, sich von der langjährigen Partnerschaft mit den USA zu lösen oder sich gar einem der beiden unmittelbaren Nachbarn zu unterwerfen, da zum einen die gegenwärtig herrschende Ideologie in Deutschland (und der EU) kaum anders geartet ist als die in den Vereinigten Staaten, während zum anderen der angebliche russische Konservatismus wenig mehr ist als ein Deckmantel für eine instabile Oligarchie, deren angebliche „Liebe“ zur christlich-abendländischen Kultur sich nur vor wenigen Wochen darin äußerte, zehntausende muslimische Migranten in die weißrussischen Wälder einfliegen zu lassen, um sie gegen die polnische Grenze zu schicken.
Der Sinn dieser Zeilen beruht vielmehr darin, dem Leser offenbar zu machen, wie einsam Polen bis auf seine gegenwärtigen mitteleuropäischen Verbündeten, allen voran Ungarn, tatsächlich in der Weltpolitik steht, und daß selbst seine traditionellen Partner wie die USA im besten Fall einen hohen Preis für ihre Unterstützung fordern werden, wenn sie diese nicht im schlimmsten Fall einfach gänzlich versagen würden – auch dies eine leidvolle Erfahrung der polnischen Politik im 18., 19. und 20. Jahrhundert. Zentral scheint es daher, einen pragmatischen und bewußt pessimistischen Blick auf die tatsächlichen Gegebenheiten zu pflegen, um jenseits von naiven Hoffnungen und Idealisierungen mit kühlem Kopf berechnen zu können, welche positiven und negativen Folgen die jeweiligen Bündniskonstellationen tatsächlich offerieren können, welchen Preis sie einfordern würden, und welche tatsächliche Stabilität sie auch langfristig entwickeln können. Aus der Tatsache, daß daher alle potentiellen Partner nur mit großer Skepsis betrachtet werden können, kann sich nur eine einzige Folgerungen ergeben:
Polen muß seine einseitige Ausrichtung auf die USA insoweit modifizieren, daß es dringend weitere Partner suchen muß, welche zwar möglicherweise im Einzelnen weniger praktische militärische Bedeutung besitzen mögen, dafür aber doch in ihrer Summe ein außenpolitisches Klima entstehen lassen können, in dem Polen auch außerhalb der ausgetretenen Pfade des Ost-West-Kontextes mit Sympathie und Achtung begrüßt wird – auch Soft Power wird im 21. Jahrhundert weiterhin eine große Bedeutung haben.
Zu denken ist daher erstens an eine Intensivierung der Beziehungen zu jenen modernen „Mittelmächten“, die bislang in der polnischen Außenpolitik kaum in Betracht gezogen worden sind, wie etwa Japan, Südkorea, Indien, Brasilien, Mexiko und viele mehr. Ein anderer wesentlicher Punkt ist der dringend notwendige Ausbau des Visegrad-Bündnissystems und des Trimarium-Gedankens, die beide zwar regelmäßig seit mittlerweile einer Generation als ultimatives Ziel polnischer Europapolitik in den Vordergrund gestellt worden sind, faktisch aber doch nur wenige Erfolge vorzuweisen haben, ja aufgrund der jüngsten Wahlen in Tschechien sogar in ihrem Kern bedroht scheinen. Hier dringt gilt es dringender als je, jenem Bündnis feste inhaltliche wie institutionelle Strukturen zu geben, um die Verfolgung gemeinsamer Ziele auch abseits der jeweiligen innenpolitischen Situationen garantieren zu können und gleichzeitig endlich jene wirtschaftliche und politische Zusammenarbeit der Trimarium-Staaten auf die Wege zu bringen, welche angesichts der gegenwärtigen Bedrohung nicht nur von Osten, sondern auch vom Westen dringend einer Intensivierung durch Zusammenhalt benötigen. Das Zeitfenster für eine solche eigenständige Außenpolitik Polens schrumpft zunehmend, je weiter der Konflikt mit der Europäischen Union wie auch mit der Bundesrepublik Deutschland an Schärfe gewinnt, zumal die anstehende „Konferenz zur Zukunft Europas“ Entwicklungen zeitigen könnte, welche die gegenwärtige Stellung Polens in Europa noch weiter zu marginalisieren vermag. Es steht nur zu hoffen, daß die gegenwärtig stark durch die Uneinigkeiten bezüglich der covid-Politik angeschlagene polnische Regierung überhaupt noch über die Energie und Weitsicht verfügt, um das anstehende letzte Jahr der Regierungsmehrheit gewinnbringend nutzen zu können.