Tschechien – Als der französische Präsident Macron vor fünf Jahren seine Vorstellungen über die Zukunft der Europäischen Union formulierte, wählte er für seine Rede die Sorbonne-Universität in Paris. Offenbar hielt er diesen Ort für authentisch genug für einen französischen Politiker, um französische Ansichten über die zukünftige europäische Ordnung zu formulieren. Der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz entschied sich anders. Er wählte Prag, um die deutsche Sicht auf die Zukunft der Europäischen Union zu formulieren. In den Räumen der altehrwürdigen tschechischen Karls-Universität, nicht in den Räumen einer deutschen Universität, hielt er eine Rede, in der er die deutsche Sicht auf die Zukunft Europas darlegte.
Die ungeheuerliche Symbolik, die sich in Prag und nicht in Berlin oder München abgespielt hat, muss von vornherein entschieden zurückgewiesen werden. Die tschechische Geschichte ist seit Jahrtausenden eine Geschichte der Koexistenz, aber auch des Kampfes mit dem deutschen Element. Nicht immer war es eine Geschichte des gegenseitigen Vorteils, sondern häufiger ein Versuch, deutsche Herrschaft in Böhmen zu etablieren. Deshalb sind wir Tschechen verpflichtet, sensibel und vorsichtig auf Reden deutscher Politiker über die künftige europäische Ordnung und die „deutsche Verantwortung dafür“ (wie Scholz in seiner Rede sagte) zu reagieren, die in Böhmen – oft auf unsere Kosten – gehalten werden. Unsere Geschichte hat uns gelehrt, vorsichtig zu sein.
Olaf Scholz, der Chef der stärksten europäischen Macht und Kanzler des Landes, das in Wirklichkeit über das Schicksal der Europäischen Union entscheidet, hat in seiner Rede den anhaltenden Krieg in der Ukraine skrupellos missbraucht, um ein „stärkeres geopolitisches Europa“ zu fordern.
Während seiner gesamten Rede zögerte er nicht, dieses Kriegsleiden auszunutzen und es als eine Gelegenheit für Vorschläge zu nutzen, die letztlich für die Stabilität und den Wohlstand Europas gefährlich sind. In diesem Zusammenhang ist es nicht nötig, auf Kleinigkeiten zu achten, wie z.B. seine Bemerkungen zu möglichen Reformen des Europäischen Parlaments oder der Europäischen Kommission, zur Schaffung europäischer „Silicon Valleys“.
Der wichtigste und entscheidende Gedanke ist Scholz’ Satz, dass „abstrakte Diskussionen uns nicht weiterführen“, dass wir das Vetorecht aufgeben und im Europäischen Rat Entscheidungsprozesse auf der Grundlage der qualifizierten Mehrheit einführen müssen.
Wenn dieser Vorschlag Realität wird, würde er die Entscheidungsprozesse in den europäischen Institutionen grundlegend verändern. Deshalb sollte und muss er für kleine und mittlere EU-Mitgliedstaaten völlig inakzeptabel sein, da diese Art der Entscheidungsfindung den großen, mächtigen EU-Mitgliedern entgegenkommt und ihnen hilft, ihre wirtschaftlichen und politischen Interessen zu verteidigen und zu fördern. Obwohl Scholz sagt, dass dies nur „Ideen […] wohlgemerkt, Angebote, Denkanstöße – keine fertigen deutschen Lösungen“ seien, verweist er fast sofort auf „Deutschlands Verantwortung für Europa“.
Um das Vetorecht bei wichtigen außen- und sicherheitspolitischen Entscheidungen zu beseitigen, zögerte Scholz nicht, den Wunsch einiger Länder nach einem EU-Beitritt auszunutzen. Er versprach die deutsche EU-Beitrittsunterstützung für Länder des Westbalkans, Moldawiens, der Ukraine und bis hin zu Georgien, obwohl eine solche Mitgliedschaft für – zumindest einige von ihnen – außerhalb der Realität liegt. „Das wird Zeit brauchen, und deshalb müssen wir jetzt damit anfangen. Auch bei bisherigen Erweiterungsrunden sind Reformen in den Beitrittsländern übrigens Hand in Hand gegangen mit institutionellen Reformen innerhalb der Europäischen Union“, sagte Scholz mit dem klaren Ziel, grundlegende Änderungen in den Abstimmungsverfahren zu erzwingen. Der „deutsche“ Zweck heiligt die „deutschen“ Mittel, füge ich hinzu.
Lassen wir uns nicht täuschen von Scholz’ schönen Sätzen über das schöne Prag, seine Geschichte, seinen Zitaten von bedeutenden tschechischen Schriftstellern und Denkern. Sie waren nur der Hintergrund, vor dem der deutsche Kanzler äußerst gefährliche Vorschläge machte.
Seine Aufrufe, „Lassen Sie uns gemeinsam nach Kompromissen suchen!“ in Bezug auf die europäische Souveränität, die Energieunabhängigkeit und die Schaffung einer eigenen europäischen Verteidigung als Ergänzung zur NATO sind nur nette Worte, die einen weiteren bedeutenden Versuch verschleiern, wie man die EU-Mitgliedstaaten jeglicher Reste von nationaler Souveränität beraubt.
Erinnern wir uns an ein aktuelles Beispiel: Die explodierenden Energiepreise sind die Folgen der „europäischen Lösung“. Haben wir einen Grund, Scholz zu glauben, wenn er jetzt dafür plädiert, dass jetzt der richtige Zeitpunkt ist, um ein stärkeres geopolitisches Europa zu schaffen? Sicherlich nicht.
Wenn es ihm wirklich um die Zukunft und den Wohlstand Europas ginge, hätte der deutsche Bundeskanzler in Prag eine ernsthafte Rede darüber gehalten, wie man zu einer friedlichen Beilegung der Beziehungen zwischen der Ukraine und Russland beitragen kann. Wenn es ihm wirklich um den sozialen Frieden und die wirtschaftliche Stabilität ginge, hätte er Vorschläge zur Beruhigung der Energiemärkte gemacht. Wenn es ihm wirklich um den künftigen Wohlstand der Europäischen Union gegangen wäre, hätte er die Regulierungen und „immer weitergehenden“ Harmonisierungen angreifen müssen, mit denen Brüssel seit Jahrzehnten unsere Industrien zerstört.
Olaf Scholz wählte in Prag eine „deutsche Lösung“. Er kündigte an, die Schwachen zu schwächen und die Starken stärker zu machen. Das dürfen wir nicht akzeptieren!
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Einige Auszüge aus Olaf Scholz’s Rede:
„Auch bei bisherigen Erweiterungsrunden sind Reformen in den Beitrittsländern übrigens Hand in Hand gegangen mit institutionellen Reformen innerhalb der Europäischen Union. So wird es auch dieses Mal sein.
Wir können dieser Debatte nicht aus dem Weg gehen ‑ jedenfalls dann nicht, wenn wir es ernst meinen mit der Beitrittsperspektive. Und wir müssen unsere Beitrittsversprechen ernst meinen. Denn nur so erreichen wir Stabilität auf unserem Kontinent. Also lassen Sie uns über Reformen reden.
Im Rat der EU, auf der Ebene der Ministerinnen und Minister, ist schnelles und pragmatisches Handeln gefragt. Das muss auch in Zukunft gesichert sein. Dort, wo heute Einstimmigkeit erforderlich ist, wächst aber mit jedem weiteren Mitgliedstaat auch das Risiko, dass ein einzelnes Land mit seinem Veto alle anderen am Vorankommen hindert. Wer anderes glaubt, der verleugnet die europäische Realität.
Ich habe deshalb vorgeschlagen, in der gemeinsamen Außenpolitik, aber auch in anderen Bereichen wie der Steuerpolitik, schrittweise zu Mehrheitsentscheidungen überzugehen ‑ wohl wissend, dass dies auch Auswirkungen für Deutschland hätte. Wir müssen uns darüber im Klaren sein: Ein Festhalten am Prinzip der Einstimmigkeit funktioniert nur, solange der Handlungsdruck gering ist. Spätestens angesichts der Zeitenwende aber ist das nicht mehr der Fall. […]
Lassen Sie uns gemeinsam nach Kompromissen suchen! Ich könnte mir zum Beispiel vorstellen, zunächst in den Bereichen mit Mehrheitsentscheidungen zu beginnen, in denen es ganz besonders darauf ankommt, dass wir mit einer Stimme sprechen ‑ in der Sanktionspolitik zum Beispiel, oder in Fragen der Menschenrechte.
Europäische Souveränität. […] Im Kern bedeutet europäische Souveränität doch, dass wir auf allen Feldern eigenständiger werden, dass wir mehr Verantwortung übernehmen für unsere eigene Sicherheit, dass wir noch enger zusammenarbeiten und zusammenstehen, um unsere Werte und Interessen weltweit durchzusetzen. […]
Wir müssen die Reihen schließen, alte Konflikte überwinden und neue Lösungen finden. – Das klingt nach einer Selbstverständlichkeit, doch dahinter verbirgt sich viel Arbeit. […]
Die Bürgerinnen und Bürger erwarten eine EU, die liefert. Das Ergebnis der Zukunftskonferenz zeigt das ganz klar. Die Bürgerinnen und Bürger erwarten von der EU ganz handfeste Dinge, zum Beispiel mehr Tempo beim Klimaschutz, gesunde Lebensmittel, nachhaltige Lieferketten oder eben den besseren Schutz von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern. […]
Wann, wenn nicht jetzt? […] Wer, wenn nicht wir?“