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Kurze Geschichte der Ukraine: Der jahrhundertelange Kampf eines Volkes um seine Identität und Freiheit

Lesezeit: 5 Minuten

Die Ukraine sei keine von Russland getrennte Nation, sondern eine künstliche Schöpfung aus jüngster Zeit, und die ukrainische Sprache sei lediglich ein Dialekt des Russischen. Dies ist zumindest die These, die von Wladimir Putin und vielen Russen vertreten wird. Im Jahr 1650 veröffentlichte der französische Kartograph Guillaume Levasseur de Beauplan ein Werk mit dem Titel: „Description d’Ukranie qui sont plusieurs Provinces du Royaume de Pologne contenues depuis les confins de la Moscovie, jusqu’aux limites de la Transilvanie. Ensemble leurs Mœurs, façons de vivres, et de faire la Guerre“ (Beschreibung von Ukranien, das sind mehrere Provinzen des Königreichs Polen, die von den Grenzen von Moskau bis zu den Grenzen von Transilvanien reichen. Zusammen mit ihren Sitten und Gebräuchen, ihrer Ernährungsweise und ihrer Kriegsführung).

Erst in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts wurde die Ukraine zu einem Protektorat des Moskauer Russlands, bevor sie im 18. Jahrhundert schrittweise in das russische Reich integriert wurde, was mit zunehmenden Russifizierungsbemühungen einherging.

Bereits 1720 verbot ein Ukas von Peter dem Großen praktisch alle Veröffentlichungen in ukrainischer Sprache.

Um sich selbst ein Bild zu machen, und ohne auf einen so alten Autor wie Sieur de Beauplan zurückzugreifen, dessen Informationen heute etwas veraltet sind, warum nicht in eine Geschichte der Ukraine eintauchen, die vor mehr als einem Jahrhundert von einem ukrainischen Historiker mit etabliertem Ruf veröffentlicht wurde? Ist das nicht eine effektive Möglichkeit, uns den aktuellen Polemiken zu entziehen, ohne uns ausländischen, russischen oder polnischen Autoren zuzuwenden, deren Länder zu ihrer Zeit die nationale und religiöse Identität dieses Landes bekämpft haben? Und da uns oft die Zeit fehlt, was wäre besser geeignet als eine verkürzte Geschichte dieses Landes? Kurze Geschichte der Ukraine ist der Titel eines 224 Seiten umfassenden Werkes des Historikers Mychajlo Hruschewskyj, das erstmals 1920 in französischer Sprache (Abrégé de l’histoire de l’Ukraine) veröffentlicht wurde und nun von dem kleinen Verlag Meinovia (meinovia.com) im Taschenbuchformat und in deutscher Sprache herausgegeben wurde.

Damals wie heute, als Hruschewskyj diese Kurze Geschichte der Ukraine herausbrachte, kämpfte das Land gerade um seine Unabhängigkeit. Der Autor war nicht nur Zeuge, sondern auch selbst an den Ereignissen beteiligt, denn nachdem er die erste Zusammenfassung der ukrainischen Geschichte in einem 1898 veröffentlichten zehnbändigen Werk verfasst hatte, und ein angesehener Akademiker und Autor zahlreicher Schriften in ukrainischer und russischer Sprache war, war er auch Präsident der Zentralen Rada, einer repräsentativen Versammlung, die 1917 in Kiew gegründet wurde, um die Führung der kurzlebigen Ukrainischen Volksrepublik zu übernehmen, die zunächst nach Autonomie strebte, bevor sie 1918 die Unabhängigkeit erklärte.

Diese Kurze Geschichte der Ukraine bietet uns somit einen Blick aus ukrainischer Sicht auf die Geschichte dieses Landes, welche im Ausland meist unbekannt ist. Es ist daher im Vergleich zu der in unseren Breitengraden besser bekannten russischen Geschichtsschreibung eine alternative Quelle für das Erbe des Kiewer Russlands, wie es der Historiker Hruschewskyj in seinem Werk nennt, bzw. Kiewer Rus, wie es heute genannt wird. Das ehemalige Moskowien, das zum Russischen Reich/Russland wurde, eignete sich nämlich die Bezeichnungen „Russland“ bzw. „Russen“ an, mit denen ursprünglich alle Ostslawen und ihre Staaten gemeint wurden, und rechtfertigte und nährte damit die heute noch lebendigen Ansprüche dieses Reiches auf die Gebiete „aller Russen“ – die sog. „russische Welt“. Die Verwendung dieser Begriffe sowie der Begriffe Ruthenen oder auch Kleinrussen, um die Ukrainer von den Weißrussen bzw. Weißruthenen und den Großrussen (den heutigen Russen) zu unterscheiden, wird vom Autor erläutert, der auch beschreibt, wie sich schließlich die Bezeichnung Ukraine/Ukrainer durchsetzte, die Sieur de Beauplan im 17. Jahrhundert bereits kannte.

Das Buch von Mykhailo Hruschewskyj schildert uns die gesamte Geschichte der Ukraine bis 1920, sprich ab dem 9. Jahrhundert, als das Königreich Kiew entstand, das sich dann nach Norden ausbreitete, nachdem es das Christentum des Byzantinischen Reiches angenommen hatte, jenes oströmischen Reiches, aus dem die Kiewer Fürsten ihre Legitimität ableiten wollten. Es folgten die Zersplitterung und der Verfall des Königreichs im 11. bzw. im 12. Jahrhundert und schließlich das Verschwinden des alten Kiewer Russlands, das jedoch eine Zivilisation, eine Ostkirche und ein „russisches Recht“ hinterließ, die in den folgenden Jahrhunderten das gemeinsame Erbe aller Ostslawen sein sollten.

Das Buch hilft uns zu verstehen, wie Russen und Ukrainer heute um das Erbe der alten Kiewer Rus streiten können, so wie auch Franzosen und Deutsche im Recht sind, wenn sie für sich selbst die Abstammung vom Karolingerreich beanspruchen.

Denn obwohl er sich stark für die kulturelle, sprachliche und auch politische Wiedergeburt seines Landes engagierte, versuchte Hruschewskyj in seinem Buch nicht, die Geschichte neu zu schreiben. Er erzählt die Dinge zwar aus ukrainischer Sicht, aber er tut dies als ehrlicher und klarer Historiker, was der Verfasser dieser Zeilen, der mit der Geschichte Polens besser vertraut ist als mit der Russlands, in den Abschnitten über die polnische Herrschaft überprüfen konnte, die im Lichte dieses Buches nicht weniger einschränkend erscheint als ihr russisches Gegenstück.

Im 12. bzw. 13. Jahrhundert verlagerte sich der Schwerpunkt der Zivilisation der südwestlichen Ostslawen, der Ukrainer, die das Erbe des Kiewer Königreichs antraten, – unter dem Druck der Nomadenvölker und insbesondere der Mongoleneinfälle des 13. Jahrhunderts, die Moskowien und die anderen Fürstentümer, aus denen später Russland hervorging, für beinahe drei Jahrhunderte der Goldenen Horde unterwarfen –, zeitweise nach Westen in Richtung Galizien und Wolhynien. Auch die Ostukraine wurde von den Mongolen unterworfen, während die westukrainischen Staaten mit dem Drängen der polnischen und magyarischen Königreiche nach Osten zu kämpfen hatten. Später waren es jedoch das Großherzogtum Litauen und das Königreich Polen, zwei Staaten, die sich Ende des 14.Jahrhunderts vereinigten und die Westukraine übernahmen, bevor sie ihre Herrschaft weiter nach Osten ausdehnten und die ukrainischen (ruthenischen) Ländereien unter ihrem Joch vereinten.

Dass die Ukraine ihre eigene Identität trotz der Herrschaft polnischer Magnaten und anderer Herrscher und der Bemühungen, die Orthodoxen dem katholischen Papst zu unterwerfen, bewahrte, wird am besten durch den erfolglosen Versuch Polens veranschaulicht, nach den Kosakenaufständen in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts, die polnisch-litauische Republik der zwei Nationen in eine Republik der drei Nationen umzuwandeln, in der die Kosaken die gleichen Rechte wie der polnisch-litauische Adel erlangt hätten und die ruthenischen Länder, aus denen sie stammten, innerhalb der neuen Union den gleichen Rang wie das Königreich Polen und das Großfürstentum Litauen eingenommen hätten.

Für einen solchen Vorschlag war es allerdings zu spät, und die ukrainischen Kosaken wandten sich an das Moskauer Russland, wo sie für einige Jahrzehnte eine gewisse Unabhängigkeit unter russischem Protektorat, mit dem Hetmanat, erlangten, bevor sie dann gewaltsam im Reich des Zaren „aller Russen“ aufgingen. Aber auch diesmal konnten die eigene Identität der Ukraine, der Widerstand ihres Volkes gegen die Assimilation und sein Streben nach Unabhängigkeit niemals vollständig ausgelöscht werden. Es ist jedoch nicht so, dass man es nicht versucht hätte. In diesem über hundert Jahre alten Geschichtsbuch heißt es: „Anlässlich einer Beschwerde der Kiewer Zensurbehörden über die systematische Zunahme von Veröffentlichungen in ‚kleinrussischem Dialekt‘ schickte

Innenminister Walujew im Sommer 1863 sein berühmtes Rundschreiben an die Zensurausschüsse, in dem er die Haltung der Moskauer Regierung gegenüber der ukrainischen Literatur und der Nationalbewegung darlegte. ‚Es hat nie eine eigenständige kleinrussische Sprache gegeben’, schrieb er, ‚sie existiert nicht und kann nicht existieren’.