Interview mit Grégor Puppinck, Direktor des Europäischen Zentrums für Recht und Gerechtigkeit (ECLJ): „Wenn Polen eine liberale Regierung wählt, wird das Land eine kulturelle Revolution nach irischem Vorbild erleben. Das bedeutet einen kulturellen Umsturz und einen Exzess in Richtung Liberalismus und Individualismus.“
Im kommenden November werden die Polen wählen, um einen neuen Sejm (Parlament) und damit eine neue Regierung zu wählen. Die von der PiS geführte Mitte-Rechts-Koalition, die auf nationaler Ebene von den europaorientierten Liberalen links und den Patrioten und Nationalisten der Konfederacja rechts unter Druck gesetzt wird, ist nicht sicher, die kommenden Wahlen nach zwei aufeinanderfolgenden Amtszeiten zu gewinnen.
Grégor Puppinck ist Direktor des Europäischen Zentrums für Recht und Gerechtigkeit (ECLJ). Er ist Mitglied der OSZE-Expertengruppe für Religions- und Überzeugungsfreiheit und Sachverständiger des Europarates sowie Mitglied des Expertenausschusses für die Reform des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. In diesem akademischen Jahr ist Herr Puppinck Lehrbeauftragter an der Universität Collegium Intermarium in Warschau. Sebastien Meuwissen befragte ihn für die Visegrád Post zu den rechtlichen Vorwürfen, die Polen auf europäischer Ebene gemacht werden.
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Sébastien Meuwissen: Können Sie uns ein paar Worte über den Hintergrund Ihres Besuchs in Warschau sagen?
Grégor Puppinck: Ich bin hier in Polen auf Einladung des Collegium Intermarium, einer recht neuen privaten Universität, die in Warschau gegründet wurde und Professoren und Lehrer aus der ganzen Welt zusammenbringt, die man als konservativ bezeichnen kann. Das ist eine sehr schöne Initiative. Ich komme, um einige Vorlesungen zu halten und an mehreren Konferenzen teilzunehmen.
Sébastien Meuwissen: Lasst uns zunächst über Rechtsstaatlichkeit sprechen – ein Begriff, der in letzter Zeit sehr in Mode gekommen ist. Ist dies nur ein abstrakter Begriff aus den Verträgen? Warum überschreitet die EU ständig ihre Kompetenzen gegenüber den Mitgliedstaaten?
Grégor Puppinck: Es liegt in der Logik der EU, dass sie ihre Kompetenzen überschreitet. Denn die EU ist in erster Linie ein Prozess der Vereinigung der europäischen Länder. Es ist die Logik der Institutionen, ihre Kompetenzen zu erweitern. Dies kann ihnen nicht vorgeworfen werden, da sie zu diesem Zweck gegründet wurden. Das hat der EUGH getan. Das ist es, was die Kommission tut. Jede Gelegenheit ist ihnen recht, um ihren Einfluss zu vergrößern. Das ist die Logik dieser Institutionen. Diese Vision ist Teil einer progressiven Sicht der Geschichte. Nach dem progressiven Ansatz hat das Prinzip der Widerspruchsfreiheit keinen wirklichen Wert. Weil der Fortschritt durch dialektische Selbstüberwindung voranschreitet. Sich selbst zu widersprechen ist daher immer nur ein Weg, um voranzukommen und Fortschritte zu machen. Und so ist die Verletzung einer Vertragsauslegung zur Ausweitung der Zuständigkeit nur eine Möglichkeit, eine neue Rechtswirklichkeit zu schaffen. Es ist also völlig normal. Dies ist der Zweck des Mechanismus.
Sébastien Meuwissen: Und der Rechtsstaat in all dem?
Grégor Puppinck: Der Rechtsstaat kommt historisch gesehen nach dem souveränen Staat. Es ist eine Konzeption des Staates, die nicht mehr eine souveräne Konzeption ist. Es ist die Konzeption des Staates, der sich der Legalität unterwirft, was an sich nicht schlecht ist. Nur ist der Staat normalerweise eine politische Realität, bevor er eine rechtliche Realität ist. Die Frage, die sich stellt, ist, wo sich die Politik im Rechtsstaat befindet, da die Politik normalerweise über das Gesetz herrscht. Der Rechtsstaat ist meiner Meinung nach ein Staatsideal, in dem die Politik der Legalität untergeordnet ist. Dies ist jedoch ein Problem, das nicht gelöst werden kann, da die Legalität wohl eine Politik haben muss. Man kann die Politik nicht der Legalität unterwerfen, ohne dass die Legalität selbst eine Politik hat. Damit die Legalität die Politik beherrschen kann, ohne selbst eine Politik zu haben, muss sie etwas anderes haben, das der Politik überlegen ist. Was ist der Politik überlegen? Normalerweise ist es die Gerechtigkeit.
Aber Gerechtigkeit ist nicht genug, um eine Politik zu machen. Gerechtigkeit reicht nicht aus, um eine Gesellschaft zu organisieren, denn Gerechtigkeit ist Fairness in den Beziehungen. Das ist nicht genug. Es müssen auch substanzielle Prinzipien vorhanden sein. Das Ideal des Rechtsstaates ist daher das Ideal eines Kontrollmechanismus für den politischen Willen, der auf Fairness in den Beziehungen beruht, aber auch mit substantiellen Prinzipien, den Menschenrechten, ausgestattet ist. Es wird angenommen, dass diese wahr und universell sind. Wir sehen jedoch, dass die Politik auf der Grundlage der gewählten Demokratie in der Hierarchie der sozialen Organisation sehr weit unten angesiedelt ist.
Sébastien Meuwissen: Es scheint, dass die wiederholten Angriffe der EU-Institutionen auf Warschau mehr mit dem eher konservativen Profil der polnischen Regierung zu tun haben, als mit echten Befürchtungen hinsichtlich der Rechtsstaatlichkeit in diesem Land.
Grégor Puppinck: Absolut.
Sébastien Meuwissen : Wie sehen Sie die Bemühungen der polnischen Regierung im Zusammenhang mit den Angriffen der Europäischen Kommission auf die Justizreformen in Polen?
Grégor Puppinck: Ich denke, dass die polnische Regierung Zeit gewinnen will. Aus meiner Sicht als Beobachter des EGMR gab es ein ziemlich wichtiges Ereignis, nämlich die Weigerung der polnischen Regierung, die vom Europäischen Gerichtshof geforderten einstweiligen Maßnahmen in Bezug auf die Justizreformen umzusetzen. Sowohl Polen als auch Ungarn wollen also keinen Bruch mit dem Rest Europas und haben auch nicht die industrielle und finanzielle Kraft, sich zu trennen und versuchen daher, noch einige Jahre im System zu bleiben.
Ich weiß nicht, wie die Vision Polens aussieht, aber vielleicht fragt sich die polnische Regierung, wie viele Jahre sie noch Brüssel und die europäischen Gelder braucht. Polen erhielt und erhält europäische Gelder, die zur Modernisierung des Landes beigetragen haben. Vielleicht wird die Regierung eines Tages sagen, dass sie [die Polen, AdÜ] groß genug sind und sie sie nicht mehr brauchen. Die wichtigste Frage für die polnische Regierung ist also die der Zeit. Wie lange werden sie Brüssel noch brauchen?
Sébastien Meuwissen: Wie kann ein EU-Mitgliedstaat den Vorrang seines Rechts im Zusammenhang mit dem sich beschleunigenden Prozess der Euro-Föderalisierung garantieren?
Grégor Puppinck: Ein Mitgliedstaat kann den Vorrang seines Rechts nicht garantieren. Außer bei Fragen, die noch in seine Zuständigkeit fallen. Das System wurde genau dafür entworfen, die Mitgliedstaaten zu überlagern und zu dominieren. Sie haben das nationale Recht, das seinen Vorrang in eher zweitrangigen Bereichen behält. In finanziellen, wirtschaftlichen oder industriellen Fragen ist der Vereinheitlichungsprozess jedoch in Gang gekommen. Dies ist im Übrigen nicht grundsätzlich schlecht. Schauen Sie sich die Steckdosen hinter Ihnen an. Es ist nicht grundsätzlich schlecht, dass es in diesem Bereich eine Form der Vereinheitlichung zwischen den europäischen Völkern gibt.
Sébastien Meuwissen: Was wird Polen vorgeworfen?
Grégor Puppinck: Polen hat aus drei Gründen Probleme: Einwanderung, Abtreibung und Homosexualität. Warschau weigert sich, sich in diesen drei Punkten anzugleichen. Das ist die Quelle des Konflikts.
Sébastien Meuwissen: Die Parlamentswahlen in Polen stehen bevor. Sie werden im Herbst stattfinden. Wird die regierende Partei „Recht und Gerechtigkeit“ den „Dreier“ schaffen? Welchen Einfluss werden der Krieg in der Ukraine und die Inflation auf den Wahlkampf in den kommenden Monaten haben?
Grégor Puppinck: Leider wird der Frühling wahrscheinlich kriegerisch werden. Es wird zu einer stärkeren [russischen] Offensive kommen. Dies könnte Auswirkungen auf die polnische Regierung haben. Ein schärferes militärisches Umfeld tendiert dazu, die Regierung zu stärken, da das Volk dann keinen politischen Wechsel will. Was man sagen kann, ist, dass die polnische Regierung sich während der gesamten Kriegsperiode sehr gut verhalten hat. Das polnische Volk war bewundernswert für seine Gastfreundschaft und Unterstützung der Ukrainer und zeigte eine große Großzügigkeit gegenüber den Flüchtlingen. Wenn man dies realistisch betrachtet, ist es eher günstig für die Regierung.
Der Krieg in der Ukraine hat übrigens den Druck, der von Straßburg und Brüssel auf Polen ausgeübt wird, nicht verringert. Es gibt hier in Polen ein Bestreben, die Wahlen zu beeinflussen, so wie es im letzten Jahr in Ungarn der Fall war. Eines ist sicher, die Aufrechterhaltung einer konservativen Regierung in Polen ist entscheidend für die Zukunft des Landes und seiner Kultur.
Sebastien Meuwissen: Was meinen Sie damit?
Grégor Puppinck: Wenn Polen eine liberale Regierung wählt, wird das Land eine kulturelle Revolution nach irischem Vorbild erleben. Das bedeutet einen kulturellen Umsturz und einen Exzess in Richtung Liberalismus und Individualismus. Es wäre ein harter Absturz, der mit einem Geburtenrückgang einhergehen würde. Eine schmerzhafte Erfahrung für das Land.
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Interview wurde in Zusammenarbeit mit dem Institut Ordo Iuris, einer der größten konservativen Denkfabriken in Europa, geführt. Das Institut Ordo Iuris hat sich in den letzten zehn Jahren auf die Verteidigung des Lebens, der Familie und der Freiheit spezialisiert. Wenn Sie monatliche Updates über die Arbeit, Veröffentlichungen und Initiativen des Instituts erhalten möchten, können Sie sich kostenlos für den wöchentlichen Newsletter in deutscher Sprache anmelden.