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Gyula Thürmer: „Als Kádár gegangen ist, ist Soros gekommen.“

Lesezeit: 27 Minuten

Interview mit Gyula Thürmer, dem Vorsitzenden der Kommunistischen Partei Ungarns (Munkáspárt): „Als Kádár gegangen ist, ist Soros gekommen.“

Gyula Thürmer ist ein enger Mitarbeiter János Kádárs gewesen und wirkte vor allem in der Außenpolitik, nachdem er in Moskau studiert und dort im diplomatischen Dienst des kommunistischen Ungarns gearbeitet hatte. Später wurde er zum Berater von Károly Grósz, der 1988 Kádár an der Spitze der Partei nachfolgte. Beim Regimewechsel stand Thürmer an der Spitze der orthodoxen kommunistischen Fraktion der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei (USAP), der Einheitspartei, die Ungarn zwischen 1956 und 1989 regierte. Unter dem Vorsitz Gyula Thürmers seit 1989 behielt die Munkáspárt erst ihren alten Namen (Magyar Szocialista Munkáspárt (MSzMP) bis 1993, änderte ihn dann in Munkáspárt (Arbeiterpartei) und 2005 in Magyar Kommunista Munkáspárt (Ungarische Kommunistische Arbeiterpartei). Infolge des in Kraft getretenen Verbots des Gebrauchs von Referenzen an totalitaristische Regimes des 20. Jahrhunderts wurde die Partei 2013 schließlich zur Magyar Munkáspárt (Ungarische Arbeiterpartei). In den 1990er Jahren erreichte die Partei noch erhebliche Ergebnisse mit bis zu 4% der Stimmen. Dann erlebte sie 2006 eine Spaltung, die von einem Rückgang in der Wählergunst gefolgt wurde: seit 2006 kam sie nicht mehr über 1%. Als eine Bewegung national-kommunistischer Prägung ist die Munkáspárt die einzige linke Partei, die dazu aufrief, den von der Regierung im Oktober 2016 initiierten Volksentscheid gegen Migrantenquoten zu unterstützen. In diesem Interview für TV Libertés und die Visegrád Post kam Gyula Thürmer auf eine entscheidende Periode der ungarischen Geschichte zurück und lieferte ebenfalls seine Analyse der gegenwärtigen Lage Ungarns, wobei er einen Teil des Wirkens der Regierung Viktor Orbáns unterstützt.

Yann Caspar: Herr Thürmer, wenn ich richtig informiert wurde, haben Sie János Kádár zum letzten Mal im Februar 1989 getroffen. An diesem Moment war er nicht mehr an der Macht und Károly Grósz bzw. Miklós Németh spielten damals eine große Rolle. Sie waren der Hauptberater von Károly Grósz. Könnten Sie kurz über dieses Treffen berichten bzw. – was noch wichtiger ist – uns erklären, in welchem politischen Zusammenhang es stattgefunden hat?

Gyula Thürmer: Hierfür sollen wir uns dreißig Jahre zurückversetzen. Das alles geschieht am Ende der 1980er Jahre. 1985 denkt János Kádár [1912-1989], der schon ein alter Politiker ist, dass Veränderungen notwendig sind, und sucht sich einen Nachfolger. Es ist sehr schwierig, einen Nachfolger in einem System zu finden, das mit einer Person eng verbunden ist, und entsprechend gelingt es Kádár nicht sofort. Schließlich entscheidet er sich 1988 dafür, diese Rolle dem Ministerpräsidenten Károly Grósz anzuvertrauen. Ein Parteitag findet statt, wo Kádár seine Ämter abgibt und zum Vorsitzenden der Partei ernannt wird bzw. Károly Grósz zum Generalsekretär gewählt wird. In dieser Situation schien es, als habe man eine Doppelspitze: János Kádár als Vorsitzender und Károly Grósz als Generalsekretär. Es schien möglich, die Ansichten weiter leben zu lassen, an denen Kádár hing. János Kádár war ganz deutlich ein Anhänger des Sozialismus. Er wollte einen moderneren, etwas anderen Sozialismus, wie er dies übrigens bis dahin praktiziert hatte. Alles, was danach geschehen ist, war ein Abbau des Sozialismus. János Kádár war dann kein Akteur der Macht mehr. Die ganze Macht lag dann schon in den Händen des Generalsekretärs Károly Grósz und des Ministerpräsidenten Miklós Németh. Es ist ab diesem Moment, dass man angefangen hat, das Sozialismus genannte System abzubauen.

Während der Sozialismus ein Einparteisystem gewesen war, musste man rasch ein Gesetz verabschieden, das die Gründung von Parteien ermöglichte. Während im Sozialismus die Wirtschaft vom Planbüro entworfen und geleitet wurde, musste man ermöglichen, dass Unternehmen gegründet werden und die Marktgesetze angewendet werden können. Während wir bisher mit Südkorea auf schlechtem Fuß standen, mussten wir dieses Land dann rasch anerkennen bzw. in Beziehungen mit ihm und Israel treten. Während wir bisher nur sowjetische Flugzeuge gekauft hatten, mussten wir nunmehr amerikanische kaufen, ohne den Preis oder die Konsequenzen dieser Entscheidung zu berücksichtigen. Während die Partei bisher eine führende Rolle in der Armee eingenommen hatte, musste man die Entscheidung treffen, die Partei aus der Armee herauszunehmen, damit sie dort keine politische Rolle mehr spiele. Das ist das, was ich den Abbau des Sozialismus nenne.

Das ist das, woran die ungarische Führung unter Károly Grósz sich machte. Persönlich war Károly Grósz vielleicht nicht davon überzeugt, doch wie die letzten kommunistischen Führer im allgemeinen war er nicht stark genug, um sich dem entgegenzustellen. Man musste sich der Richtung der Ereignisse fügen, und er war nicht der einzige dabei in dieser sozialistischen Welt. János Kádár, der schon damals ein kranker Mann war, spürte, dass etwas nicht stimmte. Dieses Treffen, das Sie gerade erwähnt haben, fand an einem Abend statt. Kádár mochte es, am Abend zu kommen.

Yann Caspar: In der Parteizentrale?

Gyula Thürmer: Ja, in der Zentrale der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei (USAP). Ich war gerade dabei Akten im Sekretariat von Károly Grósz zu studieren, als János Kádár plötzlich gekommen ist. Ich stand vor einer historischen Persönlichkeit und auch wenn wir lange zusammengearbeitet hatten, war es doch eine Beziehung zwischen einem alten Mann und einem jungen Mitarbeiter.

Ich stellte mich militärisch zu seinem Befehl. „Zu Befehl, Genosse Kádár!“ Er bat mich: „Könnten Sie veranlassen, dass der Genosse Grósz mich empfange?“ Es war wirklich erschütternd, denn er war eine solche historische Persönlichkeit, dass er absolut nicht brauchte, darum zu bitten. Und freilich ist er eingetreten und sie haben angefangen zu beraten. Dann hat Grósz mich gerufen und mir gesagt: „Komm, der Genosse Kádár möchte, dass Du auch dabei seist.“ Ich habe bemerkt, dass Kádár erschüttert war. Ich habe ihn zweimal in meinem Leben weinen gesehen; es war damals das zweite Mal. Er spürte, dass das Regime zu Ende ging. Er sagte: „Ich hätte mit den Chinesen sprechen wollen, geht hin, sie bauen den Sozialismus in einer anderen Weise wie wir auf, doch geht und sprecht mit ihnen, nehmt die Ereignisse in die Hand, sonst werden wir Probleme haben.“ Es war der Moment, wo er menschlich seine Präsenz beendet hat. Sein Zustand verschlechterte sich dann und – wie wir wissen – ist er in dem Jahr [im Juli 1989, NdR] gestorben.

Yann P. Caspar und Gyula Thürmer auf dem Sitz der Partei in Budapest im Oktober 2019. Bild: Visegrád Post

Yann Caspar: Im Gegensatz zu Kádárs Bitte ist dann die ungarische Führung nicht mit den Chinesen sondern mit den Amerikanern in Kontakt getreten. In einem 2009 erschienenen Buch [Az elsikkasztott ország, Korona Kiadó] haben Sie geschrieben, dass die Zentrale des Regimewechsels die US-Botschaft in Budapest gewesen ist, die sich heute noch am Szabadság tér befindet. Könnten Sie die Rolle erläutern, die die Amerikaner 1989 gespielt haben?

Gyula Thürmer: Sie haben China erwähnt. China war für die damalige ungarische Führung Neuland. Man muss wissen, dass Ungarn seit den 1960er Jahren auf schlechtem Fuß mit China stand, und zwar ausgerechnet weil die Sowjetunion auf schlechtem Fuß mit China stand. Deshalb war bis zum Ende der 1970er Jahre kein ungarischer Politiker je nach China gereist. Allerdings zwangen das Leben und die Wirtschaft Ungarn dazu, Kontakte mit China zu suchen. Die Mehrheit der ungarischen Führung betrachtete China als einen großen Markt, der uns ermöglichen würde, reich zu werden, Handel zu treiben und sämtliche Probleme zu lösen. Kádár war der einzige, der verstand, dass China über eine andere politische Struktur verfügte und dass eine modernere Version des Sozialismus möglich war. Leider wurde dies von der Tagesordnung gestrichen.

Nun also zur Rolle der Amerikaner: in Ungarn wäre der Sozialismus nicht gescheitert, er würde heute noch leben und wir würden uns weiterhin darin wohl fühlen, wenn der Westen nicht eine entscheidende Rolle gespielt hätte. Freilich gab es in Ungarn Leute, für die das nicht genug war, was sie vom Sozialismus bekamen. Sie konnten Hunderttausende Forint haben, eine oder zwei Millionen sogar, aber sie konnten keine Milliardäre sein. Derjenige, der Milliardär sein wollte, wollte das Regime ändern, das ihn daran hinderte, reicher zu werden. Es gab Leute, die im Grunde genommen eine liberale Denkweise hatten und dachten, dass dieses sozialistische Modell nicht gut und nicht mehr zeitgemäß sei; sie wollten in die Richtung dessen gehen, was im Westen erfolgreich gewesen war…

Es ist an diesem Moment, dass man angefangen hat, über europäische Zusammenarbeit zu reden, bzw. auch darüber, dass wir ein Teil des gemeinsamen europäischen Hauses waren. Niemand sprach davon, den Sozialismus durch den Kapitalismus zu ersetzen. Alle sagten, dass wir ein Teil von Europa waren, dass die Marktwirtschaft, die Demokratie und die Freiheit kommen würden bzw. dass man Handel würde treiben können. Und die Leute haben daran geglaubt. Diejenigen, die bisher nicht jedes Jahr nach Österreich oder Deutschland reisen konnten, konnten dies nunmehr tun und sie waren begeistert – wie eine Katze, die sich in den Schwanz beißt –, dass sie ihre Familien besuchen konnten. So war die allgemeine Situation.

Dreißig Jahre nach diesen Ereignissen sagt freilich jeder, dass er am Regimewechsel teilgenommen habe. Es gab eine Opposition – intellektuelle Kreise –, von der ein Teil eher konservativ und ein Teil eher liberal gesinnt war. Aus ersterem stammte József Antall, der das Ungarische Demokratische Forum (MDF) führte. Aus dem zweiten Teil entstand der Bund Freier Demokraten (SZDSZ) bzw. gehörte der Fidesz auch eine Weile dieser Strömung an. Diese Leute hassten einander, verstanden sich wie Hund und Katze, und hätten es niemals zu einem gemeinsamen Dialog geschafft, wenn nicht jemand ihnen geholfen hätte, miteinander zu reden. Dieser Jemand wurde Mark Palmer, der damals US-Botschafter in Ungarn war.

Yann Caspar: Wenn ich mich nicht irre, so haben Sie damals Mark Palmer wissen lassen, dass Sie ins andere Lager nicht wechseln würden. Sie haben Sie es ihm anlässlich eines Treffens gesagt.

Gyula Thürmer: Ich war in einer solchen Situation, dass ich etwas zu verkaufen gehabt hätte. Ich verfügte über Informationen, die selbst die Amerikaner hätten brauchen können. Sie haben übrigens Versuche unternommen, um mich… Es wäre übertrieben, zu sagen, dass sie mich zum Überlaufen bringen wollten; sie wollten eher, dass ich ihnen helfe. Heute könnte ich ein reicher Mann sein und irgendwo in den USA leben. Vielleicht hätten sie mich auch hingerichtet, denn auch das war eine Option. Mark Palmer hatte das alles nicht erwähnt, aber dessen Mitarbeiter gaben mir Signale in diese Richtung. Ich habe kategorisch abgelehnt. Es wäre nicht richtig und auch meiner Erziehung zuwider gewesen. Ich bin in diese Richtung nicht gegangen.

Mark Palmer hat noch eine Rolle gespielt. Er versammelte die damalige Führung, die Ungarische Sozialistische Arbeiterpartei, die Regierung und die Opposition zusammen. Imre Pozsgay traf sich damals durch die Amerikaner zum ersten Mal mit der Opposition an einem Tisch zusammen. Der damalige Ministerpräsident Miklós Németh spielte regelmäßig mit Mark Palmer Tennis. Beim Tennisspielen sprachen sie über…

Yann Caspar: Grósz reiste im April 1989 nach Washington…

Gyula Thürmer: Grósz wurde nach Washington eingeladen. Ich war damals sein Berater und habe ihn davor gewarnt, dorthin zu fliegen. Wenn der ungarische Ministerpräsident – er war damals noch Ministerpräsident – nicht durch das Haupttor eintreten kann, dann soll er auch nicht durch die Hintertür hineinkommen. Sie haben ihn durch die Hintertür hineingelassen und ihm eine große Reise durch das Land organisiert; er besuchte seine Familie, seine Tante. Das war einfach nicht sinnvoll. Ferner zwangen sie ihm, Sachen zu sagen, die er überhaupt nicht dachte. Wenn sie ihn gefragt haben, was Sozialismus war, erklärte er, dass es nicht schlimm sei, wenn der Staatsbesitz geringer sei, wenn die Partei keine führende Rolle mehr habe, usw. Indem er das sagte, verschlechterte er seine Position hier in Ungarn. Die US-Botschaft hat eine Vermittlerrolle zwischen den verschiedenen Akteuren gespielt.

Yann P. Caspar und Gyula Thürmer auf dem Sitz der Partei in Budapest im Oktober 2019 – Im Hintergrund ein Porträt János Kádárs. Bild: Visegrád Post.

Yann Caspar: Trotzdem kann man nicht sagen, dass die Vertiefung der Beziehungen zwischen Ungarn und den USA ein paar Monate vor dem Regimewechsel begonnen habe. Ungarn tritt 1982 dem Internationalen Währungsfonds bei. Und übrigens wird der Kádárismus von vielen wie folgt verstanden: da Kádár die Lektionen aus den Ereignissen von 1956 verstanden habe, setze er ab der Mitte der 1960er Jahre Reformen in Richtung Marktwirtschaft durch. Nehmen wir einfach als Beispiel den neuen von Lajos Fehér konzipierten Wirtschaftsmechanismus, der ab 1968 in Kraft getreten ist. Meine Frage ist also die folgende: Denken Sie nicht, dass 1989 in Wirklichkeit nicht das wichtigste Datum im Regimewechsel sei? Denken Sie nicht, dass es bloß ein offizielles Datum sei bzw. dass die maßgeblichen Entscheidungen in Richtung Westen viel früher getroffen wurden?

Gyula Thürmer: Wissen Sie, hier in Mitteleuropa ist der Sozialismus in armen Ländern entstanden. Das war nicht wie in Frankreich, Deutschland oder England. Das war nicht das, wovon Karl Marx träumte – dass der Sozialismus in den entwickeltsten kapitalistischen Ländern triumphiere –, was geschehen ist. Der Sozialismus ist in der Armut entstanden, in Ländern, die durch den II. Weltkrieg zerstört und verstümmelt wurden. Freilich hat man sehr rasch versucht, den Menschen ein besseres Leben zu verschaffen. Auf vielen Ebenen hat es geklappt, aber auf vielen anderen eben nicht.

Dann ist man also auf den Gedanken gekommen, dass, wenn das Ziel des Sozialismus es sei, den Menschen ein besseres Leben zu verschaffen und wenn der Westen uns Kredite gewähre, wir dann in diesem Fall Kredite aufnehmen können. Und so hat man angefangen, Kredite beim IWF, bei der Weltbank usw. aufzunehmen. Dieses Geld wurde weder verschluckt noch gestohlen, sondern befindet es sich heute in Ungarn, in den Wohnhäusern und Gebäuden, die damals gebaut wurden. Dieses Geld wurde verwendet. Doch musste man es zurückzahlen. Was die Rückzahlungen betrifft, so haben die westlichen Banken angefangen, den Brotkorb höher zu hängen. Im Falle einer Rückzahlungsunfähigkeit musste man Konzessionen im sozialen Bereich machen, so z.B. bei den Bedingungen für den Renteneintritt, indem man das Rentenalter erhöhe…

Yann Caspar: Wurde das alles schon vor der Wende von 1989 verlangt?

Gyula Thürmer: Sie haben das vor dem Regimewechsel erwähnt. Auch vorher. Zwei Antworten waren möglich: Ob wir den Weg der Konzessionen einschlagen oder nicht.

János Kádár hatte einen bzw. zwei Fehler. Erstens war er kein Wirtschaftsspezialist; er sah nicht die Konsequenzen, die das alles haben könnte. Und zweitens glaubte er den liberalen Wirtschaftswissenschaftlern, die ihn umgaben. Letztere flüsterten ihm ein: „Es ist nicht schlimm, Genosse Kádár, wir nehmen einen Kredit auf, wir zahlen ihn zurück, kein Problem.“ Wir haben uns aufs Glatteis begeben und konnten nicht mehr bremsen. Auch Kádár ist es nicht gelungen, das alles anzuhalten. Er wollte die Methoden der Marktwirtschaft verwenden, um den Sozialismus zu verbessern, wie Lenin dies in den 1920er Jahren getan hatte bzw. wie China dies heute in großem Stil macht, wo Methoden der Marktwirtschaft angewendet werden, während das Land eine Volksrepublik ist. 1989 bedeutete das schon, dass viele den Wechsel des Wirtschaftsmodells als ungenügend betrachteten und einen Systemwechsel anstrebten. Es handelte sich nicht mehr darum, den Sozialismus zu verbessern, sondern ihn wegzuwerfen und durch ein anderes System zu ersetzen. Nehmen Sie diesen Computer. Es ist so, als ob ich ein anderes Betriebssystem installieren möchte. Das Betriebssystem des Sozialismus war die Planwirtschaft, das des Kapitalismus dagegen die Marktwirtschaft. Das ist es was ersetzt wurde.

Yann Caspar: Reden wir nun ein bißchen über den Regimewechsel. In Ungarn war dieser Wechsel kein Prozess, der sich auf einen Volksaufstand oder gar eine Revolte gestützt hätte. Man kann nicht von einer Revolution reden, vielleicht von einer Gegenrevolution – Sie werden es uns sagen. Es war ein Wechsel, der durch Verhandlungen vorangetrieben wurde. Allerdings hatte die Bevölkerung Erwartungen. Sie haben über Wien, über Österreich bzw. über diejenigen gesprochen, die verreisten. Die Bevölkerung strebte einen ähnlichen Lebensstandard wie im Westen an. Ich weiß nicht, ob die Leute sich irrten – das ist eine andere Frage –, aber das ist es, was die Bevölkerung erwartete. Seitdem wurde es nicht vollbracht. Man kann sogar sagen, dass das, was in den 1990er Jahren geschehen ist, viel eher ein riesiger Rückschritt war. Nehmen wir als Beispiel die Tatsache, dass das Prokopfeinkommen im Jahr 1996 auf das Niveau von 1966 gesunken war. Infolge des Regimewechsels hat Ungarn anderthalb Millionen Arbeitsplätze verloren. Was ist passiert? Haben sich die Leute über das Wesen des Regimewechsels geirrt? Oder – und das ist zweifelsohne interessanter und wir werden darüber sprechen – haben diejenigen, die sich am Regimewechsel beteiligt haben, die Leute irregeführt? Was ist passiert?

Gyula Thürmer: 1917 in Russland haben die Arbeiter und Bauern gesiegt. Das ist ebenfalls 1945-48 in Ungarn und in Osteuropa geschehen. Wenn man dies aus dem Standpunkt des Westens betrachtet, so bedeutet dies der Verlust eines signifikanten Teils der Welt. Dabei verlor der Westen Märkte und Ressourcen. Es ist selbstverständlich, dass der Westen – die USA, Deutschland, Frankreich – sich dafür eingesetzt hat, um diesen Teil der Welt eines Tages zurückzubekommen. Sie haben es in diesem Sinne in den 1950er Jahren mit Gewalt versucht, doch hat es nicht geklappt. In den armen Ländern wollen die Menschen selbstverständlich immer eine bessere Lage. Es ist natürlich. Jeder hätte wie die Österreicher leben wollen. Das war 1956 und 1989 so, wie an anderen Momenten auch. Es gibt Versammlungen und Momente, an denen die Menschen die Nachteile eines Systems, ihre Probleme und Sorgen ansprechen, indem sie auf die Straße gehen, um zu demonstrieren. Diese Momente können benutzt werden. 1956 wurden die Menschen von außen aus getrieben: sie sollten nicht nur auf die Straße gehen, um ihre berechtigten Anliegen kundzutun, sondern sollten weiter gehen und das Regime stürzen. 1956 führte zu den Barrikaden und zu blutigen Schießereien. Es wird oft geleugnet, dass am 1. Mai 1957 über 700.000 Menschen auf dem Heldenplatz in Budapest versammelt waren, um ihre Verbundenheit mit dem Sozialismus zu zeigen. Diese als Revolution bzw. Freiheitskampf bezeichneten Ereignisse sind also auch nicht so einfach.

Yann Caspar: János Kádár sprach niemals über Imre Nagy. Man konnte nie mit ihm darüber sprechen. Man konnte weder über Rumänien noch über Imre Nagy sprechen.

Gyula Thürmer: Er sprach nicht darüber. Selbstverständlich war das auch ein schwieriges Thema für ihn, auch menschlich. Ich denke, dass Imre Nagy unnötigerweise die Rolle des Märtyrers übernommen hat. Als Minister war ihm ganz genau bewusst, dass die Amerikaner nicht aktiv werden würden, und dass, wenn die Amerikaner nicht in Ungarn einmarschieren würden, nicht mal der liebe Gott in der Lage sein würde, die Sowjets daran zu hindern, einzugreifen. Die Amerikaner hatten es versprochen, doch sind sie nicht gekommen. Ihre Truppen waren in Deutschland, doch sind sie nicht gekommen. Imre Nagy wusste es. Aufgrund seiner Verantwortung vor dem Land hätte er sich zurückziehen und sagen sollen: „Wenn jemand es kann, möge er meinen Platz einnehmen“. Es ist nicht das, was er getan hat. Er ist geflohen, hat sich zum Ministerpräsidenten erklärt und hat den Märtyrer gespielt. János Kádár, der sich dessen bewusst war, hatte Schwierigkeiten, dies zu leiden.

Um auf Ihre Frage zurückzukommen: die USA und der Westen haben aus 1956 gelernt, daher haben sie nicht akzeptiert, dass es 1989-90 hier Barrikaden gebe. Es ist das gleiche wie bei einer bedeutenden chirurgischen Operation: man wird erst mit etwas Kampfer betäubt und dann spritzt man Ihnen ein Narkosemittel ein, die Krankenschwester singt Ihnen sogar ein Lied vor, und dann entnimmt man Ihnen eine Niere, um sie zu verkaufen. Es ist einigermaßen das, was in Ungarn geschehen ist, und das wurde den Menschen nicht gesagt. Im Frühling 1990 sind wir wählen gegangen und dachten dabei, dass wir ein neues System bekommen würden, das das bewahren würde, was im Sozialismus gut war, und das beinhalten würde, was im Kapitalismus gut ist. Es würde weiterhin Bananen geben, wir würden weiterhin nach Wien fahren können, man würde Nescafé bzw. neue Autos haben usw. Selbstverständlich ist es nicht das, was geschehen ist. Diese Narkose dauert an. Sobald das Volk anfängt, wachzuwerden, verabreicht man ihm eine neue Spritze. Als 1994 die Regierung Antall gestürzt ist, weil es ganz einfach nicht so weitergehen konnte, ist Gyula Horn erschienen, um dem Volk zuzuzwinkern und ihm zu sagen: „Ich gebe Euch ein bißchen was vom Kádár-Regime zurück“. Dabei hat er aber das Land bzw. das, was davon übriggeblieben war, verkauft.

Yann Caspar: Zwischen 1994 und 1998 haben sie ja am meisten privatisiert…

Gyula Thürmer: Ja, das sind diejenigen, die am meisten privatisiert haben: die Stromversorgung, die Stromerzeugung, die strategischen Bereiche, alles. Und das alles, ohne dass die Leute dies wirklich erfahren, indem man die Menschen manipuliert hat. So haben sie erreicht, dass es hier keine Frontlinie und keine Barrikaden gebe. Es hat keine blutigen Kämpfe gegeben.

Yann Caspar: Aber trotzdem sind die Parteien des Regimewechsels nicht aus dem Nichts entstanden. Viele denken übrigens, dass die meisten politischen Strömungen der Zeit nach der Wende schon ab dem Anfang der 1980er Jahre innerhalb der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei zu spüren waren. Wie war der Standpunkt János Kádárs diesbezüglich? In den letzten Jahren seiner Amtszeit vertrat er den Nationalkommunismus. Was bedeutete das?

Gyula Thürmer: Wenn in einem Land von zehn Millionen Einwohnern eine Partei 870.000 Mitglieder hat…

Yann Caspar: Aber die führenden Mitglieder…

Gyula Thürmer: Das bedeutet, dass man alles da drin findet. Es gibt nicht so viele Kommunisten in dieser Region und auch nicht im kleinen Ungarn. Es gab daher viele unterschiedliche Strömungen innerhalb der Partei, wie z.B. die Sozialdemokraten, die sich nach dem Krieg mit den Kommunisten verbündeten. Rezső Nyers war der erste, der im März 1988 sagte, dass man Kádár nicht mehr brauche, und nach vorne wollte, indem man eine „neue Märzfront“ gründe. Dann kamen die Nationalisten Pozsgay und Szűrös bzw. die Pragmatiker wie Miklós Németh. Letztere waren die zahkreichsten. Dann sind die liberalen Intellektuellen gekommen, die es von Anfang an versuchten, uns in Richtung Westen zu bringen. Der Fehler Kádárs war, dass er dies nicht rechtzeitig bemerkt hatte, und dass er auf jeden Fall nichts dagegen tun konnte.

Was die Parteien anbelangt, so stimmt es, dass sie schon dabei waren, gegründet zu werden. Wir kannten schon Gábor Demszky, bevor er bekannt wurde. Die damals angewandte Taktik war damals schon die gleiche wie heute gegen die Fidesz-Regierung. Sie baten die Wange und warteten darauf, dass die Regierung sie schlage, bzw. hofften sie auf eine Ohrfeige. Ich habe gesehen, wie Gábor Demszky am 15. März 1989 auf die Straße ging und Polizisten anpöbelte, bis er eine Ohrfeige bekam. Das wäre überall in der Welt so geschehen aber hier wurde es gleich von Radio Free Europe und der BBC fotografiert und Minuten später wusste über Wien hinaus die ganze Welt davon, dass die Regierung die Mitglieder der Opposition schlagen ließ. So funktionierte es und auch wenn der heutige Ministerpräsident meine volle Achtung genießt, muss man wissen, dass, wenn George Soros ihn nicht entdeckt hätte, um ihm dies und das beizubringen, dann wäre diese kleine Gruppe von Studenten nicht einmal…

Yann Caspar: Wann haben Sie zum ersten Mal von George Soros gehört? Am Anfang der 1980er Jahre?

Gyula Thürmer: Ich habe in vielerlei Hinsicht von George Soros gehört. Das war in 1980er Jahren, als er angefangen hat, hier aktiv zu sein. Er ist nach Ungarn gekommen und wollte sich an kulturellen Aktivitäten beteiligen. Im damaligen System und solange Kádár am Leben war, kam es nicht in Frage. Durch unsere Beziehungen mit den Sowjets – wie Sie es erwähnt haben, arbeitete ich bei der ungarischen Botschaft in Moskau – wussten wir, dass Soros beauftragt wurde, die Ziele der USA und der CIA bezüglich Regimewechsels voranzutreiben. Wir betrachteten ihn also als unseren Feind. Aber die ungarischen Liberalen betrachteten ihn nicht als Feind. Als Kádár gegangen ist, ist Soros gekommen. Er hat die ungarischen Intellektuellen in fünf Minuten gekauft und hat alle in seinen Bann gezogen. Das Traurigste war, dass es sich um Leute handelte, die hier aufgewachsen waren und ihr Diplom in Ungarn erhalten hatten.

Yann Caspar: In Ihrem Buch erwähnen Sie ausführlich Bálint Magyar. Könnten Sie ein bißchen was darüber sagen…

Gyula Thürmer: János Magyar eigentlich…

Yann Caspar: János Magyar, der viele Palatschinken mit Marmelade zu essen pflegte…

Gyula Thürmer: Damals trug er noch diesen Namen. Wir trafen einander im Mihály-Fazekas-Gymnasium. Er war ein sehr intelligenter und begabter Bursche. Wir waren in der gleichen Klasse im Gymnasium. Seine Entwicklung ist sehr interessant und für Ungarn charakteristisch. Als die kulturelle Revolution 1966-68 in China begann, war er der erste, der sich in die chinesische Botschaft begab, um sein „kleines Rotes Buch“ zu bekommen. Dieser große Maoist ist später zum Nationalisten geworden – lange Zeit war es so, dass diejenigen, die nach Siebenbürgen gingen, mit nationalen Gefühlen zurückkamen – und schloss sich dann dem Bund Freier Demokraten (SZDSZ) an und verkehrte mit Demszky und János Kis…

Yann Caspar: Und wurde zum Unterrichtsminister in der Regierung Horn…

Gyula Thürmer: Und er bekam das Unterrichtsministerium. So, auch das gehört zur Geschichte unseres kleinen Mitteleuropas…

Yann Caspar: Unsere Leser werden sehr wohl verstehen, dass jemand um das Jahr 1968 ein Maoist sein konnte, bevor er kurze Zeit zum Nationalisten und später zum vollkommenen Liberalen wurde. Meiner Meinung nach beweist János Magyar bzw. Bálint Magyar dies durchaus, auch in den Augen der westlichen Leser.

Gyula Thürmer: Genau.

Yann Caspar: Nun haben wir die Regierung Horn erwähnt. Kommen wir also auf Ihre Erfahrung mit dem Mehrparteiensystem nach 1990. Sie haben oft die Gründung der Ungarischen Sozialistischen Partei 1989 als Verrat bzw. als Betrug bezeichnet. Seit 1989 hat die Ungarische Sozialistische Partei mehrmals gemeinsam mit einer streng liberalen Partei, dem Bund Freier Demokraten (SZDSZ), regiert und es sind diese Regierungen, die am meisten privatisiert haben, das ist eine Tatsache. Es ist auch eine Tatsache, dass der Bund Freier Demokraten aus dem politischen Leben Ungarns verschwunden ist doch bekam er Nachfolger, die vor allem von den Liberalen aus der Hauptstadt angeführt werden – globalistische Intellektuelle, die nach Westen schauen. Unter einer anderen Form ist die MSZP-SZDSZ-Achse heute auf der politischen Bühne in Ungarn weiterhin am Leben. Seit beinahe zehn Jahren sind es allerdings nicht mehr sie, die regieren, sondern Viktor Orbán, der das politische Leben in Ungarn beherrscht. Meines Erachtens waren Sie der erste Politiker, der verstanden hat, dass der Regimewechsel Opfer fordern würde. Viele denken, dass Viktor Orbán dies etwas später ebenfalls verstanden hat. Es schien übrigens, dass er auch Politik betreibt, indem er die schweren Fehler des Regimewechsels benutzt. Vielleicht ist es der Grund, warum er heute über eine breite Unterstützung der Wähler verfügt. 2010 hat Viktor Orbán einen zweiten Regimewechsel versprochen, der seiner Meinung nach die Fehler des ersten korrigieren könnte. Was ist Ihre Meinung diesbezüglich?

Gyula Thürmer: Hören Sie, die Redewendung Regimewechsel besteht aus zwei Elementen. Das bedeutet, dass es vor 1989 ein System gab, den Sozialismus, in welchem Geld nicht das wichtigste war bzw. die Interessen der Gesellschaft im Vordergrund lagen. Anstelle dieses Systems ist ein anderes getreten, dessen Antrieb der Kampf um Kapital und Profit ist. Das ist der Regimewechsel.

Diejenigen, die heute von einem Regimewechsel sprechen, wollen überhaupt keine Rückkehr zur vorigen Situation. Es wäre eine Rückkehr zum Sozialismus und das will niemand außer ich. Es handelt sich da um etwas Anderes. Damit die Wende 1989 sich nicht durch Gewalt vollziehe, musste man Konzessionen machen, und eine davon war, die Partei nicht zu zerstören. János Kádár wurde nicht erhängt, Gyula Horn wurde nicht verhaftet sondern wurde Parteichef und Ministerpräsident.

Yann Caspar: Rezső Nyers saß bis 2010 im Parlament…

Gyula Thürmer: Sie sind in das andere System übergegangen…

Yann Caspar: Indem sie ihre Vergangenheit „retuschierten“…

Gyula Thürmer: Ja. Sie konnten auch ins Parlament und haben übrigens etwas mehr als 9% erhalten. Sie sind ohne Zwischenfall ins andere System übergegangen. Sie waren sehr klug. Nehmen wir z.B. Gyurcsány [Ministerpräsident von 2004 bis 2009, NdR], der als Sekretär des Kommunistischen Jugendbunds angefangen hat. Sie haben den Augenblick benutzt, wenn der Kapitalismus schon da war und es neue Gesetze gab und während alle anderen noch ein bißchen verloren waren, um Millionen und Millionen zu gewinnen.

Beim Übergang in das neue kapitalistische System hat die Ungarische Sozialistische Partei die Situation benutzt, um viel Geld und Kapital in Beschlag zu nehmen. Diejenigen, die heute von einem Regimewechsel sprechen, sagen in Wirklichkeit, dass man dieses Vermögen von diesen Leuten zurücknehmen solle. Fragen wir Gyurcsány, woher seine Milliarden kommen und, wenn wir es dann können, nehmen wir sie ihm zurück. Ich denke nicht, dass es möglich sei, dies mit juristischen Mitteln zu tun. Es ist nicht möglich. Es gibt noch keine Revolution in Sicht.

Viktor Orbán hat verstanden, dass Ungarn einen sehr hohen Preis hat zahlen müssen, um einen sicheren kapitalistischen Weg einschlagen zu können. Immerhin haben die ungarische Landwirtschaft der EU übergeben. Wenn Sie heute in ein Geschäft gehen, bemerken Sie, dass man dort deutsche Milch und weitere ausländische Produkte verkauft…

Yann Caspar: Und sie sind schlechter als diejenigen, die man im Westen verkauft…

Gyula Thürmer: Ja, und andererseits bricht die ungarische Landwirtschaft zusammen. Das alles im Moment, wo die Nachfrage nach Lebensmitteln im Osten und in China steigt und wir dorthin verschiedene Produkte exportieren könnten, was wir eben nicht mehr können, weil man uns diese Leistungsfähigkeit weggenommen hat. Wir haben unsere Märkte, unser Bankensystem, unsere Fabriken und noch viel mehr abgegeben.

Orbán hat verstanden, dass dies nicht gut war. Was man zurücknehmen kann, muss man zurücknehmen, denn dies gehört dem ungarischen Kapital. Sie haben sich stark genug gefühlt, um es auch zu tun. So wurden manche Werke verstaatlicht und Unternehmen, die früher mal an Ausländer verkauft worden waren, sind zurückgekauft worden. Und dann hat Orbán den Banken und Versicherungsgesellschaften gesagt, dass ihr Überschuss – der im Laufe der letzten drei Jahrzehnte beträchtlich ist – nunmehr der Steuer unterworfen wird, um ihn der Bevölkerung zu geben. Dies tat er nicht aus Gutherzigkeit den Menschen gegenüber, sondern damit sie nicht demonstrieren und einen echten Regimewechsel nicht verlangen. Mit dieser Methode des Staatskapitalismus hat es Orbán geschafft, dass der Kapitalismus sich in Ungarn stabilisiert hat.

Was die Parteien von 1989 anbelangt, so hat der Regimewechsel in Wirklichkeit zwei große Gruppen in den Sattel geholfen. Es hat immer eine liberale und eine konservative Strömung gegeben. Im konservativen Lager befand sich das Ungarische Demokratische Forum (MDF), aus dem der erste Ministerpräsident, József Antall, stammte. Im liberalen Lager befanden sich der Bund Freier Demokraten und auch der Fidesz, der damals noch dazugehörte. Unter den Konservativen fand man auch noch die Christdemokraten (KDNP) und die Kleinlandwirte (FKgP). Die Sozialisten gehörten zu keinem Lager und bildeten somit ein drittes. Doch ist 1994 die Regierung Antall gestürzt. Es war klar, dass, wenn es so weiterginge, man beim Regimewechsel hätte zurückrudern können – es war damals noch möglich. Deswegen ist Gyula Horn wieder in Erscheinung getreten. Der Ungarischen Sozialistischen Partei wurde dann nicht nur erlaubt, im Parlament vertreten zu sein, sondern erlaubte man ihr zu regieren. Hierfür haben sie den Preis zahlen müssen, den wir heute immer noch zahlen. Sie haben sich mit den Liberalen verbündet.

Yann Caspar: Das Bokros-Paket [in Bezug auf die von Lajos Bokros getroffenen Maßnahmen, der 1995-1996 Wirtschaftsminister war, NdR], nicht wahr…

Gyula Thürmer: Es hat sich eine Symbiose zwischen der Sozialistischen Partei und dem Bund Freier Demokraten vollzogen. Eine Symbiose bedeutet, dass jemand sich auf einem Körper einrichtet und dessen gesamte Energie aussaugt. Der Bund Freier Demokraten, der immer kleiner als die Sozialisten gewesen war, hat sich also auf der Sozialistischen Partei eingerichtet und ihr allmählich alles herausgenommen, was noch als links bezeichnet werden konnte. So entstanden das konservative und das liberale Lager.

Yann Caspar: Es ist auch das, was 2002 zwischen der Sozialistischen Partei und dem Bund Freier Demokraten geschehen ist…

Gyula Thürmer: Ja, mit dem leichten Unterschied, dass das konservative Lager vereint war, da der Fidesz all seine Partner geschluckt hatte. Die Sozialistische Partei hatte auch alle liberalen bzw. linken Bewegungen geschluckt – außer uns freilich. Doch da die Probleme kamen und die sozialistische Regierung, Medgyessy [Ministerpräsident von 2002 bis 2004] bzw. Gyurcsány sich der Sache nicht gewachsen gezeigt haben, haben sie angefangen auseinanderzubrechen.

Im Laufe der letzten zehn Jahre sind Parteien ins Leben gerufen worden, die eine Nuance der Liberalen vertreten, sei es eine Nuance im Sinne der Generation wie Momentun bzw. der Umwelt wie die Grünen (LMP). Sie kommen alle aus dem gleichen Kreis und es wird nunmehr sehr wahrscheinlich so aussehen, dass jemand sie wird verschwinden lassen, um sie unter einer Banner zu vereinen.

Das Logo der Munkáspárt. Bild: Visegrád Post

Yann Caspar: Was haben Sie gedacht und empfunden bzw. wie haben Sie reagiert, als Viktor Orbán seine Rede von 1989 gehalten hat?

Gyula Thürmer: Als diese Rede 1989 gehalten wurde, arbeitete ich an der Seite des Generalsekretärs der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei, und das, was Viktor Orbán vorhatte, war deutlich, den Sozialismus zu stürzen. Er wollte den Sozialismus stürzen, in dem ich aufgewachsen war, den mein Vater aufgebaut hatte und von dem ich dachte, dass es eine gute Gesellschaft sei. Es war also natürlich, dass ich diese Ansichten nicht unterstützte. Es ist eine andere Frage, nun festzustellen, dass er zwanzig Jahre später eine andere Politik in Ungarn initiiert und anfängt, klarer als seine liberalen Vorgänger nachzudenken, bzw. nun zu sagen, dass seine Politik vernünftig ist. Wir werden uns ihm nicht anschließen, aber wenn er etwas Gutes für das Volk, für die Menschen tut, dann muss man ihn unterstützen. Der Viktor Orbán von 1989 ist für uns unannehmbar aber den vom 2010 und nachher können wir in vielen Bereichen unterstützen.

Yann Caspar: In welchen genau?

Gyula Thürmer: Wenn er den Menschen was gibt, die Gehälter erhöht, die Wohnkosten senkt, dann sagen wir, dass es gut ist. Wer soll das nicht gutheißen? Doch fügen wir hinzu, dass es nicht soviel ist, wie man geben sollte. Wenn wir an der Macht wären, so würden wir mehr geben. Wir unterstützen ihn in mehreren Bereichen der Außenpolitik. Für uns ist es ausschlaggebend, dass Ungarn gute Beziehungen mit Russland habe. Die Geschichte hat uns gelehrt, dass, wenn wir uns im Krieg gegen Russland befinden, wir diejenigen sind, die am wenigsten durchhalten, die verlieren und sterben. Wenn wir für ausländische Interessen in den Krieg ziehen, dann werden die Konsequenzen einmal mehr schlecht für uns sein. Wir unterstützen seine Öffnungspolitik in Richtung Osten. Wir müssen Beziehungen mit China, Laos und Vietnam haben. und wir sind einigermaßen die Vorreiter in diesem Bereich. Der ungarische Präsident kommt gerade aus Laos zurück. Ich war vor sechs oder sieben Jahren dort, als noch kein Ungar dort gewesen war. Wir hoffen, dass dies auch mit Nordkorea stattfinden wird, wo ich hingereist bin, während kein einziger ungarischer Politiker je dort war.

Yann Caspar: Waren Sie dort vor kurzem?

Gyula Thürmer: Zuletzt im vorigen Jahr.

Yann Caspar: Orbán öffnet nach Osten. Kádár hatten nach Westen geöffnet. Könnte man nicht in dieser Hinsicht sagen, dass die jeweilige Außenpolitik dieser beiden Regierungschefs sich ähnlich sei?

Gyula Thürmer: Ungarn befindet sich in der Mitte von Europa. Im Laufe seiner tausendjährigen Geschichte wurde es immer von zwei großen Reichen umkreist: entweder von Byzanz und dem Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation, von Russland und dem Deutschen Reich oder von der Sowjetunion und der NATO. Zwischen den beiden hat Ungarn seinen Platz behalten müssen. Heute sind es einerseits die Europäische Union und die NATO und andererseits Russland und dessen Verbündete. Ich denke, dass die einzige kluge Politik für Ungarn darin besteht, sich auf eine Seite zu schlagen, denn wir denken, dass das gut ist. Aber wir müssen auch manche Werte mit dem anderen Lager teilen und Brücken bauen. Das ist es, was Gyula Andrássy im 19. Jahrhundert bzw. Gábor Bethlen im Mittelalter taten. Das hat auch Kádár getan und nun tut es ebenfalls die Regierung Orbán in ihrer Weise.

Yann Caspar: Ich habe es schon zuvor erwähnt. Kádár sprach nicht gern über Rumänien. Die Ereignisse von 1989 in Rumänien sind ziemlich anders als diejenigen in Ungarn im gleichen Jahr. Ich hätte also zwei Fragen. Sie sind Diplomat gewesen und Sie sind in dieser Region, in der Sowjetunion und im Westen – nehme ich an – in den 1980er Jahren viel gereist. Inwiefern war Ungarn besonders, wenn man es mit Polen oder Rumänien vergleicht? Man nannte Ungarn „die lustigste Baracke im sozialistischen Lager“. Übrigens hat das, was derzeit bei unseren rumänischen Nachbarn vonstattengeht, zweifelsohne noch mehr mit der Wende von 1989 zu tun. Wie ist Ihre Meinung diesbezüglich und warum wollte Kádár nicht über Rumänien reden?

Gyula Thürmer: Das sind viele Fragen auf einmal. Worin unterschied sich Ungarn? Bei uns fand der Regimewechsel durch Streit, durch Verhandlungen und durch ein Abkommen innerhalb von einem bis drei Monaten statt. Die Wahlen von 1990 haben es dann offizialisiert und am nächsten Tag war der Kapitalismus hier in Ungarn. Das ist bei den Tschechen in etwa auch so geschehen, wo die Sachen immer sanft wie Samt vonstattengehen. Bei den Polen ging es auch ziemlich rasch, aber weil der Versuch Jaruzelskis, den Sozialismus zu verteidigen, fehlgeschlagen ist.

In den Ländern, wo der Sozialismus nicht so wie bei uns an die Macht gekommen war, wo es nicht die sowjetischen Panzer waren, die ihn an die Macht verhalfen, sondern wo die Menschen mehr oder weniger selbst für den Sozialismus gekämpft haben, so ist die Wende auch anders verlaufen. Stichwort Jugoslawien. Warum hat man Jugoslawien zerschlagen, einen blutigen Krieg führen und Milošević in Den Haag schicken müssen? Eben weil dieses Land selbst für dessen Unabhängigkeit gekämpft hatte. Es hatte gegen die Deutschen gekämpft. Bei ihnen waren Sozialismus, Freiheit und Unabhängigkeit miteinander verbunden. Der jugoslawische Sozialismus war anders. Dort gab es kein Staats- sondern Gemeinschaftseigentum. Vieles war dort anders und deshalb konnte diese soziale Ordnung nicht so rasch zerstört werden.

Bei den Rumänen war die Situation auch noch anders. Im Nachhinein kann man wohl Ceauşescu hassen, und nur die wenigesten mochten ihn auch damals, doch hatte er verstanden, dass, wenn wir etwas dem Westen schulden, er uns dann erpressen wird. Rumänien hat seine Schulden dem Westen gegenüber zurückgezahlt, auch wenn es sehr teuer war. Deshalb musste Ceauşescu hingerichtet werden. János Kádár wurde nicht hingerichtet, wie übrigens niemand hier. Das ist ein wesentlicher Unterschied. Freilich waren Kuba und Vietnam auch anders, denn dort ist der Sozialismus auch mit der Freiheit und der Unabhängigkeit verbunden.

Rumänien ist eines der Elemente der Konsequenzen von Trianon. Ich denke, dass Linksgesinnte auch ruhig sagen können, dass Trianon ein verbrecherischer Friedensvertrag ist. Ich besuchte selbst das Große Trianon und auch wenn ich nicht zu weinen anfing, so hielt ich einen Augenblick inne, und es schmerzt mir weiterhin, dass es dort keine Gedenktafel gibt, die dort an das Schicksal – und darüber hinaus durch Unrecht und Unehrlichkeit bzw. durch die Gewalt der großen Mächte – des ungarischen Volkes, der ungarischen Nation erinnere. Leider haben die ungarische Führung bzw. Miklós Horthy während des II. Weltkriegs nicht das verstanden, was die Rumänen damals verstanden hatten und haben sich nicht bzw. nicht rechtzeitig aus dem Krieg zurückgezogen, was zur Konsequenz hatte, dass Trianon bestätigt wurde. Alles ist dann wie in den 1920er Jahren verblieben.

Kádár und dessen Leute, die zutiefst Internationalisten waren, dachten, dass der Sozialismus eine Lösung dafür bringen würde. Als die Frage es nicht war, Ungar, Franzose, Deutscher oder Rumäne zu sein, sondern Arbeiter oder Kapitalist, dann ließen diese Differenzen nach, obschon sie nicht verschwanden. Es gab Augenblicke, wo sie nachließen doch hat es in Wirklichkeit nicht geklappt, insbesondere nachdem die rumänische Führung diesen Fehler begangen hat, mit der Praxis der 1950er Jahre zu brechen, indem sie die innenpolitischen Probleme dadurch lösen wollten, dass sie die ungarnfeindlichen Gefühle schürten. Unter Ceauşescu war es wirklich…

Yann Caspar: Der Nationalkommunismus hatte eine völkische Dimension…

Gyula Thürmer: Genau.

Yann Caspar: Aber auch Kádár hatte sich für den Nationalkommunismus ausgesprochen, wo ist der Unterschied? Was war die Definition davon?

Gyula Thürmer: Kádár hat nicht wirklich diese Redewendung verwendet. Er befürwortete nationale Besonderheiten. Wenn Hitler den Begriff Nationalsozialismus nicht verwendet hätte, dann könnten wir ihn ruhig verwenden, doch da er es eben getan hat, sind wir keine Nationalsozialisten. Doch möchten wir den Sozialismus innerhalb der nationalen Verhältnisse aufbauen. Kádár befürwortete das, denn, wie soll man sagen? Als man in den 1950er Jahren zum Schneider ging und gefragt wurde, welches Kleidungsstück man wollte, so antwortete man, dass man Kleider wollte, wie man sie in der Sowjetunion gesehen hatte. Jeder ließ sich Kleider schneidern und baute eine Gesellschaft, wie man sie in der Sowjetunion gesehen hatte. Dann hat man festgestellt, dass es ungarische Kleider, traditionell ungarische Kleider gibt, die die Leute mehr mögen, weil sie sie bequemer finden. Lassen wir das tun. Kádár hat diesen Weg eingeschlagen. Die Rumänen noch mehr, doch sie – sind weit gegangen. Kádár ist nicht so weit gegangen. Die Chinesen waren freilich diejenigen, die am weitesten gegangen sind, indem sie erklärten, dass der von der Sowjetunion eingeschlagene Weg nicht der richtige sei.

Doch das war nicht der Hintergrund des Konflikts zwischen Rumänien und Ungarn, sondern dass das Regime Kádár das Schicksal der anderthalb Millionen Ungarn nicht hatte verbessern können, die in Siebenbürgen leben. Er hat Siebenbürgen nicht zurückholen können und konnte absolut nichts tun. Deswegen wurden diese Probleme verschwiegen. Das führte dazu, die nationalistische Stimmung zu schüren. In Ungarn kamen Pozsgay und Szűrös bzw. das Ungarische Demokratische Forum und die nationalistische Stimmung fing an, aufzuwachen, was aber, wie wir dies leider feststellen mussten, nicht sehr viel gebracht hat.

Die neue führende Elite, die nach 1989 an die Macht gekommen ist, hat Siebenbürgen auch nicht zurückholen können. Und ebenso wenig wie ihre Vorgänger konnte sie das Leben der dort lebenden Ungarn verbessern. Sie hat sich große Gelegenheiten entgehen lassen, wie z.B. den Balkankrieg, den EU-Beitritt bzw. den NATO-Beitritt Rumäniens oder auch die Regimewechsel. Die ungarische Führung hätte leicht etwas gegen die Unterstützung Ungarns für den EU-Beitritt verlangen können. Das ist aber nicht das, was geschehen ist, und nun ist die Politik anders.

Yann Caspar: Ungarn gehört jetzt nicht mehr dem Ostblock sondern der Europäischen Union. Sie ist 2004 der EU und 1999 der NATO vor beinahe zwanzig Jahren beigetreten. Was ist Ihre Meinung diesbezüglich? Was ist geschehen? Wie sehen Sie das, was noch kommt?

Gyula Thürmer: Wir haben uns zuerst der NATO angeschlossen, die uns nicht sofort angenommen hatte. In Ungarn fand der Regimewechsel im Jahr 1989 statt doch wurden wir erst neun Jahre später in der NATO aufgenommen. Zwei Sachen sind im Vorfeld geschehen. Sie haben der ungarischen Führung neun Jahre gegeben, um all diejenigen auszusäubern, die etwas mit der Sowjetunion zu tun gehabt hatten. Man hat das Offizierskorps ersetzen, Generäle entlassen, neue Männer rekrutieren und neue Offiziere ausbilden müssen, und erst dann war es gut. Übrigens hätte Ungarn das gar nicht gebraucht. Warum auch, da es keine Sowjetunion mehr gab? Aber in Jugoslawien haben sie es nicht geschafft, die Wende ohne Krieg zu erledigen und es ist auch kein Zufall, wenn Ungarn im Frühling 1999 der NATO beigetreten ist, denn zwei Wochen später sollte die Aggression beginnen.

Yann Caspar: Sie haben sich mit Milošević getroffen?

Gyula Thürmer: Ja, es war am 6. April, wenn ich mich richtig erinnere. Ich bin mitten im Krieg dorthin gefahren. Ich habe Milošević getroffen. Wir haben es immerhin geschafft, ein positives Ergebnis zu erreichen. Mit einer großen Landkarte an der Wand zog Milošević den Vorhang etwas beiseite: „Sie sehen, die NATO und Ungarn wollen Bodentruppen einsetzen, um in Jugoslawien einzumarschieren, und viele serbischen Soldaten werden in der Wojwodina und in der Gegend sterben, aber auch viele ungarischen Soldaten.“ Freilich ist es nicht aus diesem Grund, dass die NATO keine Bodentruppen eingesetzt hat, doch auch das hat eine Rolle gespielt.

Und über eine Sache bin ich stolz. Nachdem ich Milošević getroffen habe, bin ich in die Wojwodina gefahren. Die Brücken waren bombardiert worden und eine große Kundgebung fand auf der einzigen Brücke statt, die noch stand. Mehrere zehntausend Menschen waren da. Ich habe eine Rede auf Serbisch und Ungarisch gehalten, indem ich erklärt habe, dass auch in Ungarn nicht jeder den Krieg wolle. Ich denke, dass dies ein wichtiges Element für die serbisch-ungarischen Beziehungen wurde. Die Leute haben dann gewusst, dass wir keinen Krieg gegen sie führen wollten, genauso wenig wie heute selbstverständlich.

Der Sitz der Munkáspárt im 4. Bezirk von Budapest. Bild: Visegrád Post

Yann Caspar: Was denken Sie über die Europäische Union?

Gyula Thürmer: Unser Beitritt zur EU war auch bloß eine unerlässliche Voraussetzung, da die NATO die militärische und die EU die politische und wirtschaftliche Säule des Systems sind, das heute in Ungarn herrscht. Ein System, das zur Marktwirtschaft und zur bourgeoisen Demokratie übergeht, kann ohne diese externen Säulen nicht bestehen. Die Frage ist die des Preises dafür. Ich denke, dass Ungarn einen ziemlich hohen Preis dafür bezahlt hat. Nicht während der Verhandlungen sondern schon früher, da die ungarische Landwirtschaft schon vor dem Beitritt Ungarns zerstört wurde. Sie haben die ungarische Automobilindustrie, die Firma Ikarus, und die ungarische verarbeitende Industrie vor dem Beitritt zerstört bzw. gekauft. Die meisten Gesetze waren an die EU-Normen vor unserem Beitritt angepasst worden. Wir haben zuvor angefangen zu leben, als ob wir schon EU-Mitglied seien.

Viktor Orbán erkennt dies alles heute an. Der Westen hat unsere Märkte gekauft und wir haben ihnen schon viel gegeben. Seitdem ist viel Zeit vergangen und der osteuropäische Kapitalismus, darunter der ungarische Kapitalismus, ist stärker geworden, und das ist ein Punkt, worüber wir unterschiedlicher Meinung sind. Die ungarische Führung will nicht aus der EU austreten, sie will drinnen bleiben und mehr bekommen. Es gibt ein ungarisches Kinderlied, in dem es heißt, dass derjenige, „der nicht gleich mitmarschiert, am Abend keinen Strudel bekommt“. Orbán und dessen Partei möchten diesen Strudel bekommen, während sie doch nicht mit den anderen mitmarschien bzw. in manchen Bereichen anders marschieren.

Ich bitte Sie, Ungarn hat schon acht Milliarden Euro wegen der Handelssperre gegen Russland verloren. Was zum Teufel braucht man diese Handelssperre? Umso mehr als Russland dadurch nicht unterdrückt wurde, sondern weiterhin mit Lebensmitteln versorgt wird – nicht von den Ungarn aber von anderen. Es gibt viel Negatives. Und schließlich sind wir damit konfrontiert, dass die EU nicht nur wirtschaftlichen Druck auf Ungarn ausübt, sondern auch möchte, dass wir so leben wie sie. Aber wir wollen ja nicht so leben wie sie. Ich mag Paris, Berlin und die westeuropäischen Städte sehr, aber das Leben, die Kultur und die Traditionen sind dort anders. Lasst uns so leben, wie wir wollen. Aber das wollen sie nicht. Auch Demokratie kann unterschiedlich aufgefasst werden. Hier ist die Geschichte anders und wir verstehen die Spielregeln auch anders. Ich denke, dass man die Unabhängigkeit der Nationen, ihre Kultur und ihre Identität schützen soll. Die EU darf nicht in die Richtung einer supranationalen Organisation gehen, sondern in diejenige eines Bündnisses zwischen den Nationen.