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Polen und die Ukraine am Scheideweg, während Kiew sich offenbar für Berlin und Brüssel entschieden hat

Sovereignty.pl ist ein englischsprachiges konservatives Portal, wo polnische Kolumnisten und Kommentatoren über die großen Themen schreiben, die die öffentliche Debatte in ihrer Heimat antreiben.

Lesezeit: 6 Minuten

Der Getreidestreit und die antipolnischen Kommentare ukrainischer Politiker haben die Interessenunterschiede zwischen Warschau und Kiew deutlich gemacht. Man muss mit den Ukrainern in der Sprache sprechen, die sie am besten kennen: der Sprache der Stärke, auch wenn das vielleicht nicht viel nütze wird. Kiew scheint nämlich Warschau zugunsten von Berlin und Brüssel aufzugeben.

Dieser Artikel von Maciej Pieczyński wurde auf Englisch auf Sovereignty.pl veröffentlicht. Um die vollständige englische Version auf Sovereignty.pl zu lesen, klicken Sie bitte hier.

 

Polen, Ungarn, Bulgarien, die Slowakei und Rumänien haben mit Zustimmung der Europäischen Kommission ihre Märkte für ukrainisches Getreide geschlossen. Das Verbot gilt bis zum 15. September, die Behörden der fünf Länder befürworten allerdings eine Verlängerung. Warschau kündigte die Fortsetzung der Blockade an, auch wenn Brüssel nicht zustimmte. Genau das ist der Grund für die schwerste Meinungsverschiedenheit in den polnisch-ukrainischen Beziehungen seit dem 24. Februar 2022. Es sind nämlich nicht die historischen Differenzen über den Völkermord in Wolhynien, sondern gerade die Getreidefrage, die Kiew dazu veranlasst hat, auf Warschau einzuprügeln.

Die Sprache der Stärke

Russland hat das Getreideabkommen gebrochen, es zerstört die Hafeninfrastruktur am Schwarzen Meer und verursacht erneut eine weltweite Nahrungsmittelkrise. Und in diesem kritischen Moment beabsichtigt Polen, die ukrainischen Getreideexporte in die EU weiterhin zu blockieren“, donnerte der ukrainische Ministerpräsident Denys Schmyhal und setzte damit Warschaus Vorgehen de facto mit dem Moskaus gleich. Damit wurde Polen, dem die Ukraine die Wahrung ihrer Unabhängigkeit verdankt, mit Russland gleichgesetzt, das versucht, der Ukraine diese Unabhängigkeit zu nehmen. Schmyhal bezeichnete die Absichten der polnischen Regierung als „unfreundliches und populistisches Vorgehen“ und als „Schlag gegen die weltweite Ernährungssicherheit und die ukrainische Wirtschaft“. Er rief die Europäische Kommission zu Hilfe und forderte sie auf, die Blockade aufzuheben. Er rief die Polen auch dazu auf, „nicht dem Populismus zu erliegen“, und schlug „Zusammenarbeit“ statt „Slogans“ und „politischen Opportunismus“ vor. Als der Leiter des Büros für internationale Politik im Kabinett des polnischen Präsidenten, Marcin Przydacz, einräumte, dass die Ukraine mehr schätzen sollte, was Polen für sie tut (was, wenn auch in gemäßigteren Worten, dem ähnelt, was der britische Verteidigungsminister Ben Wallace auf dem NATO-Gipfel in Vilnius gesagt hatte), reagierte der stellvertretende Leiter des Kabinetts des ukrainischen Präsidenten, Andriy Sybiha, scharf und schrieb unter anderem: „Während sich die Ukraine im Krieg befindet, kommt der Versuch, mit ihr über etwas Zusätzliches zu ‚verhandeln‘, einem Verrat gleich, der in unseren Beziehungen keinen Platz haben sollte [. ..]. Es gibt nichts Schlimmeres als eine Situation, in der derjenige, der dich rettet, von dir verlangt, für die Rettung zu bezahlen, während du am ganzen Körper blutest.“ Sybiha erklärte gleichzeitig, dass es schließlich die Ukraine sei, die Polen rette, da sie ihr Leben für Polen gebe, indem sie Europa gegen Russland verteidige, und bezeichnete die Behauptungen des polnischen Ministers als „Manipulation“.

Sybihas Kommentar war nicht die einzige Reaktion auf Przydacz’ Äußerungen. Der polnische Botschafter in der Ukraine, Bartosz Cichocki, wurde als Reaktion auf diese leichte, ja sogar zaghafte Kritik des Kabinettsmitglieds von Präsident Andrzej Duda ins ukrainische Außenministerium einbestellt. Cichocki war der einzige Botschafter gewesen, der Kiew in den ersten Tagen des Krieges nicht verlassen hatte, und hatte damit nicht nur persönlichen Mut, sondern auch eine freundliche Haltung gegenüber dem Gastland bewiesen. Indem sie ihn einberief, zeigte die Ukraine, dass sie den Konflikt nicht abschwächen, sondern ihn vielmehr verschärfen wollte. Glücklicherweise konnte Warschau schließlich etwas mehr Selbstbewusstsein zeigen, indem es im Gegenzug den ukrainischen Botschafter ins Außenministerium einbestellte. Erst jetzt zeigte sich Kiew versöhnlicher. „Wir schätzen die historische Unterstützung Polens, das mit uns zu einem echten Schutzschild Europas geworden ist […]. Wir werden nicht zulassen, dass irgendein politischer Moment die Beziehungen zwischen dem ukrainischen und dem polnischen Volk trübt“, sagte Präsident Wolodymyr Selenskyj. Diesmal wurde dies ohne Sarkasmus (im Gegensatz zu der Reaktion auf die Vorwürfe von Ben Wallace) und ohne den Vorwurf des Populismus gesagt. Es zeigt, dass die Sprache, die die Ukraine am besten versteht, die Sprache der Stärke ist, und dass sie diejenigen respektiert, die mit ihr in dieser Sprache sprechen. Umgekehrt nutzt sie die Schwächen sowohl eines Gegners als auch eines Partners aus. Das hat nichts mit Gefühlen zu tun und sollte den polnischen Politikern eine Lehre sein, die allzu oft passiv darauf warten, dass ihre Amtskollegen in Kiew von sich aus beschließen, eine positive Geste gegenüber Warschau zu machen. Natürlich sollte die Botschaft des ukrainischen Präsidenten nicht zu übertriebenem Optimismus verleiten. Die polnische Regierung sollte sich nicht auf ihren Lorbeeren ausruhen und meinen, dies sei genug. Selenskyj hat die Emotionen nur für einen Moment abgekühlt. Doch der Konflikt wird sich weiter verschärfen, denn die Interessen Warschaus und Kiews in der Agrarfrage sind schlichtweg gegensätzlich. In diesem Bereich ist die Ukraine für Polen ein Konkurrent, der eine tödliche Gefahr für das Land darstellt. Und das gilt auch in die andere Richtung.

Es muss jedoch betont werden, dass Kiew in seiner Kritik an Warschau die irreführende Behauptung einer angeblichen Blockade seiner Exporte verwendet. In Wirklichkeit verhindert Polen lediglich, dass sein Markt mit ukrainischem Getreide überschwemmt wird, während es gleichzeitig den Transit von ukrainischem Getreide durch sein Hoheitsgebiet zulässt.

(…)

Eine rationale Stimme

Eine der wenigen pro-polnischen Stimmen, die am Ufer des Dnepr zu diesem Thema ertönten, ist ebenfalls erwähnenswert. Wie der Politologe Witaly Bala bemerkte, werde ein Teil des ukrainischen Getreides, das Polen passiert, auf den polnischen Markt geschmuggelt, und es sei wenig überraschend, dass Warschau nicht die Absicht habe, dies zu tolerieren. „Man muss aufhören zu stehlen, nicht nur in der Ukraine, sondern auch außerhalb ihrer Grenzen […]. Für die polnischen Landwirte ist das Auftauchen geschmuggelten ukrainischen Getreides kein Zeichen von Freundschaft oder Partnerschaft“, so Bala. Eine weitere rationale Stimme zu diesem Thema erschien auf der Website der Nachrichtenagentur Unian. Alona Kyryschenko und Nadija Burbela überzeugen ihre Leser davon, dass die fünf EU-Länder, die die Einfuhr von ukrainischem Getreide verboten haben, dies nicht getan haben, um der Ukraine zu schaden, sondern um ihre Märkte zu verteidigen. Die beiden Autoren warnen auch davor, dass sich Kiew auf ähnliche Beschränkungen einstellen muss, wenn es der Europäischen Union beitritt, deren Mitglieder oft Kompromisse und Zugeständnisse an andere Länder machen müssen. Paradoxerweise sind es aber gerade die Länder, die die Ukraine heute am meisten unterstützen, die nach dem Krieg zu ihren gefährlichsten wirtschaftlichen Rivalen werden.

Die Ukraine verunglimpft ihren „Verbündeten“ und setzt Desinformation ein, um ihre eigenen wirtschaftlichen Interessen zu fördern. Sie will den polnischen und allgemein den europäischen Markt erobern, indem sie über die Leiche der polnischen Landwirtschaft geht. Dazu bedient sie sich auch moralischer Erpressung. Denn in allen Erklärungen Kiews schwingt mehr oder weniger laut die bekannte Rede mit, dass die Ukraine ganz Europa – und sogar die ganze Welt – gegen die russische Invasion und neuerdings auch gegen die Nahrungsmittelkrise verteidigt. Die Ukraine versucht, ihre westlichen Partner davon zu überzeugen, dass sie ihr zu ihrem eigenen Wohl in allem nachgeben müssen, während sie in Wirklichkeit nur ihre Unabhängigkeit, ihre territoriale Integrität und ihre eigenen Interessen, einschließlich der wirtschaftlichen, verteidigt. Natürlich wäre es für Polen eine enorme Bedrohung, wenn die Ukraine von Russland geschluckt würde, aber diese Aussicht sollte logischerweise dafür sorgen, dass die politischen Entscheidungsträger in Kiew weniger schlafen als die in Warschau. Polen genießt nämlich dank seiner NATO-Mitgliedschaft Sicherheitsgarantien. Die Ukraine hingegen kann von einer Mitgliedschaft im Atlantischen Bündnis derzeit nur träumen und ist weiterhin dem Wohlwollen ihrer westlichen Verbündeten ausgeliefert. Die Ukraine braucht also Polen mehr als Polen die Ukraine, und Polen könnte diese Situation besser nutzen.

Ein Spiel für eine neue Öffnung?

Denys Schmyhals Botschaft, die den Ton für weitere Angriffe angab, konzentrierte sich auf die Kritik an Polen, das doch so stark pro-ukrainisch eingestellt ist, während vier andere EU-Mitgliedstaaten, darunter auch das als pro-russisch beschuldigte Ungarn, für dieselbe Blockade sind. Erstens ist klar, dass die ukrainischen Landwirte früher oder später beim Eintritt in die europäischen Märkte gegen die polnische Konkurrenz antreten müssen, und es wurde offenbar beschlossen, bereits jetzt damit zu beginnen. Zweitens hat Warschau so oft seine selbstlose Unterstützung für seinen Nachbarn betont und so oft seine Naivität und Unsicherheit demonstriert, dass es als leichter Gegner erscheinen musste. Drittens hat Polen der Ukraine so intensiv geholfen, dass seine Ressourcen für eine mögliche weitere Unterstützung praktisch erschöpft sind. Selbst wenn Warschau also beleidigt ist, wird Kiew nicht viel verlieren (das ist zumindest das, was die Ukrainer denken könnten).

Darüber hinaus könnte jeder Versuch Polens, die Ukraine zu disziplinieren, auf Einwände mächtigerer Akteure im Westen stoßen. Und hier kommen wir zum Kern des Problems. Vieles deutet darauf hin, dass Selenskyj beschlossen hat, sich von Warschau abzuwenden und auf Berlin, Paris und Brüssel zu setzen, d.h. dem von seinem Vorgänger Petro Poroschenko vorgezeichneten Weg zu folgen. In Polen behauptet ein Teil der Kommentatoren, dass die anti-polnische Rhetorik ausschließlich Schmyhal vorbehalten sei. Dieser wolle sich im Rahmen eines internen politischen Kampfes von der „pro-polnischen“ Rhetorik Selenskyjs abheben. Nichtsdestotrotz sprechen der Ministerpräsident und der Präsident der Ukraine in der Getreidefrage die gleiche Sprache. Beide bitten die Europäische Kommission um Hilfe in ihrem Streit mit Polen. Selenskyj erklärte öffentlich, dass ihm die Aufhebung der „Blockade“ Warschaus von Ursula von der Leyen selbst zugesagt worden sei. Schlimmer noch, er sagte dies während des Besuchs seines polnischen Amtskollegen Andrzej Duda in Kiew. Der deutsche Landwirtschaftsminister Cem Özdemir erklärte, dass das polnische Importverbot „unhaltbar“ sei. Er versicherte, dass Deutschland, Frankreich und „mehrere andere Länder“ in dieser Frage mit einer Stimme sprechen würden. Es ist daher sehr wahrscheinlich, dass Kiew mit den mächtigsten Akteuren der EU eine Koalition gegen Polen bilden wird. Ihr gemeinsames Interesse ist offensichtlich: Die Ukraine will den polnischen Markt mit ihrem Getreide überschwemmen und einen Konkurrenten besiegen, während der Westen die PiS von der Macht vertreiben will, was durch eine Niederlage der PiS im Getreidestreit begünstigt werden könnte. Oder vielleicht ist Selenskyj seiner Freundschaft mit Andrzej Duda überdrüssig geworden und hat, wie Zbigniew Parafianowicz von der polnischen Zeitung Dziennik Gazeta Prawna vorschlägt, beschlossen, auf eine neue politische Öffnung in Polen zu setzen.

Vollständige Fassung (auf Englisch) auf Sovereignty.pl

Übersetzung: Visegrád Post