Washington will keine „neue Achse“ für das Atlantische Bündnis. Stattdessen wollen die Amerikaner die Verteidigungsanstrengungen der europäischen Länder, allen voran Deutschlands, maximieren und sie dazu zwingen, die Verantwortung für die Ostflanke zu übernehmen.
Dieser Artikel von Robert Kuraszkiewicz wurde in englischer Sprache auf Sovereignty.pl veröffentlicht. Um die vollständige englische Version auf Sovereignty.pl zu lesen, klicken Sie bitte hier.
Der letzte Gipfel der NATO, der am 11. und 12. Juli in Vilnius stattfand, war in vielerlei Hinsicht ein historischer Gipfel. Sein Verlauf verdient es daher, über die an diesen beiden Tagen getroffenen Entscheidungen hinaus analysiert zu werden. In Vilnius konnten wir die Grundzüge einer neuen globalen Sicherheitsordnung erkennen. Marek Jurek hat eine solche Analyse in seinem Artikel „NATO – der erste Gipfel nach der Zeitenwende“ vorgenommen.
Beginnen wir die Diskussion über die Ergebnisse des Gipfels mit den für Polen vorteilhaften Aspekten. Unser Land hat immer den militärisch-defensiven Charakter des Bündnisses betont. Wir beobachteten mit Sorge dessen Aufweichung und Welken. Unter diesem Gesichtspunkt sind die sehr positiven Entscheidungen hervorzuheben, die sich aus der Änderung des Verteidigungskonzepts der NATO-Länder ergeben haben. Es wurden detaillierte Operationspläne für die drei Einsatzgebiete Nord-Arktis, Ost und Süd ausgearbeitet und die NATO-Einsatzkräfte auf 300.000 Mann aufgestockt. Aus formaler und politischer Sicht sind dies die wichtigsten Entscheidungen und stellen eine sehr gute Nachricht für Polen dar, da sie den Willen des Bündnisses zur Verteidigung seiner Grenzen bekräftigen. Sie drücken auch eine Konzeptänderung aus: Die „Abschreckung durch Bestrafung“ (deterrence by punishment) wird durch die „Abschreckung durch Verleugnung“ (deterrence by denial) ersetzt, d.h. die Verteidigung aller Bündnisgrenzen.
Dies ist eine sehr wichtige und nachhaltige Veränderung. In diesem Sinne sind die Ergebnisse des Gipfels von Vilnius zweifellos historisch, und wir müssen dies anerkennen und würdigen. Mehrere andere, weniger wichtige Entscheidungen, wie die Gründung des Maritimen Zentrums für die Sicherheit kritischer Unterwasser-Infrastruktur (Maritime Centre for the Security of Critical Undersea Infrastructure) und neue Initiativen zur digitalen Sicherheit und zu hybriden Bedrohungen, bestätigen ebenfalls die Bedeutung der Allianz.
All diese Initiativen stärken die defensive Kapazität und die tatsächliche Bedeutung der NATO für ihre Mitglieder. Die NATO entwickelt sich in eine Richtung, die in hohem Maße den polnischen Forderungen entspricht, und bleibt daher die beste Sicherheitsgarantie für Polen. Es ist jedoch zu beachten, dass diese Entscheidungen nun mit Inhalt gefüllt werden müssen und dass dies vor allem eine Erhöhung der Verteidigungsausgaben der europäischen Länder erfordern wird.
Die ukrainische Frage
Die Ukraine ist ein Thema für sich. Die Entscheidung über ihre Einladung zum NATO-Beitritt wurde vertagt. Das liegt daran, dass die USA die strategische Kontrolle darüber, wie der Krieg beendet werden kann, und über die Friedensverhandlungen mit Russland, die irgendwann stattfinden werden, nicht verlieren wollen. Sie wollen auch nicht ihren Einfluss auf die inneren Veränderungen des ukrainischen Staates verlieren, die aus Sicht Washingtons und Berlins notwendig sind. Das Ziel der USA ist nicht, dass die Ukraine alle ihre international anerkannten Gebiete, d.h. innerhalb der Grenzen von 2014, zurückerhält. In diesem Punkt weichen die Ziele der USA und der Ukraine deutlich voneinander ab. Washington erwartet, dass Moskau seine Position ändert, um sich an den Tisch der Friedensverhandlungen zu setzen, und seine Politik wird sich nicht auf die Unterstützung der Ukraine beschränken. Schon allein deshalb, weil die Amerikaner einen Zusammenbruch Russlands befürchten.
Die Verkürzung des Weges der Ukraine in die NATO durch die Aufgabe des Aktionsplans für den Beitritt (MAP) bedeutet nichts Konkretes, da die wichtigsten politischen Entscheidungen mit dem Ende des Krieges zusammenhängen und der Prozess des Beitritts der Ukraine zum Bündnis ohnehin beliebig verändert und verlängert werden kann. Dasselbe gilt für den NATO-Ukraine-Rat. Das sind alles nur Zuckerl, damit die Ukrainer die Schlussfolgerungen des Gipfels besser akzeptieren können. Die Beschlüsse des Gipfels haben im ukrainischen Lager für Nervosität gesorgt, und Präsident Selenskyj hat aus seiner Verärgerung eine Zeit lang keinen Hehl gemacht. Diese Entscheidungen schwächten in der Tat seine politische Position. Man hat ihm seinen Platz und den Grad seiner Abhängigkeit von den in Washington getroffenen Entscheidungen vor Augen geführt.
Die Teilnahme des koreanischen Präsidenten und der Premierminister Japans, Australiens und Neuseelands am NATO-Gipfel unterstreicht, wie die USA dem Bündnis eine globale Dimension verleihen wollen. Das Konzept für den Ablauf des Gipfels wurde im Vorfeld mit den wichtigsten NATO-Ländern konsultiert und mit Deutschland abgestimmt. Es ist klar, dass ein Entscheidungsarrangement geschaffen wurde, das auf einer umfassenden deutsch-amerikanischen Zusammenarbeit beruht. Die Zusicherungen der G7 zeigen, dass dieses nicht ganz formale Gebilde der Ort ist und in naher Zukunft auch weiterhin sein wird, an dem die wichtigsten politischen Entscheidungen für den Westen getroffen werden. Dabei handelt es sich nicht um echte Sicherheitsgarantien, sondern um eine politische Erklärung, die Ukraine in den kommenden Jahren finanziell und militärisch zu unterstützen.
Eine Lektion in Sachen Realismus
Der Gipfel von Vilnius muss von den Polen als eine große Lektion in politischem Realismus betrachtet werden. Warschau spielte bei den wichtigsten Entscheidungen keine große Rolle, auch wenn man anerkennen muss, dass die Ergebnisse des Gipfels in Bezug auf die Änderung der Verteidigungsdoktrin unseren Interessen entsprechen. Dies gilt umso mehr, als die Ostsee mit der Aufnahme Finnlands und Schwedens zu einem Binnenmeer der Atlantischen Allianz wird. Trotzdem hat der Gipfel von Vilnius Polen seinen Platz in der Reihe gezeigt. Mit dem Krieg erlangte Polen weder eine besondere politische Position noch entwickelte es besondere Beziehungen zu den Vereinigten Staaten.
Die amerikanische Herangehensweise an Polens Beteiligung am nuklearen Teilungsprogramm ist das beste Beispiel dafür. Als Ministerpräsident Mateusz Morawiecki in einem Moment der Verzweiflung öffentlich über diese Erwartung Polens sprach, ließ das Weiße Haus verlauten, dass es von diesbezüglichen Gesprächen nichts wisse. Bereits vor dem Gipfeltreffen hatte Präsident Andrzej Duda erklärt, dass Polen keine eigennützigen Forderungen habe und dass es sein Ziel sei, die Ukraine in die NATO zu bringen. Im Verlauf des Gipfels stellte sich heraus, dass Warschau nicht in der Lage war, die Politik der Mächte in diesem Bereich zu beeinflussen, und dass es zudem alle Erwartungen an Kiew aufgegeben hatte. Trotz aller offiziellen Kapriolen lässt sich Polens Politik als dem Strom folgend beschreiben. Wir haben Glück, denn der Lauf der Ereignisse ist insgesamt günstig für Polen, aber in den internen Beziehungen des Bündnisses wurde die Position Warschaus – trotz seiner geografischen Lage, seines Engagements und der damit verbundenen Risiken – nicht gestärkt.
Es wird keine „neue NATO“ geben, die auf einer Achse Kiew-Warschau-Washington und noch weniger auf einer Achse Warschau-Washington beruht. Für Washington ist Europa, und erst recht unser Teil Europas, nicht mehr der wichtigste Punkt auf der Landkarte. Die globale Konfrontation findet auf der pazifischen und nicht auf der atlantischen Achse statt. Die Amerikaner sind daher nicht mehr in der Lage, weiterhin als Garant für die Sicherheit in Europa zu fungieren, und sie brauchen einen Partner, der mehr Verantwortung für die Sicherheit des Alten Kontinents übernimmt. Der Verlauf des Gipfels macht deutlich, dass dieser Partner der Amerikaner die Deutschen sind.
Marek Jurek widmet ihnen zu Recht einen breiten Raum in seiner Analyse. Deutschland hat seine wirtschaftliche Stärke auf der Zusammenarbeit mit Russland aufgebaut und sah darin eine Alternative zu transatlantischen Verpflichtungen. Die entscheidende Frage ist, inwieweit der Krieg in der Ukraine dieses Arrangement verändert hat und ob wir Gefahr laufen, nach dem Ende des Krieges zum Status quo ante zurückzukehren. Ich persönlich glaube, dass die deutsche Kehrtwende ein dauerhafter Prozess ist, der jedoch nicht aus einer Politik der Solidarität gegenüber den ost- und mitteleuropäischen Ländern resultiert. Durch seine fehlgeleitete Politik hat Putin Russland aus Europa hinausgedrängt und selbst die Grundlagen der deutsch-russischen Zusammenarbeit zerstört. Deutschland wird nicht zu seiner Abhängigkeit von russischem Gas zurückkehren und die von Russland angebotenen fossilen Brennstoffe werden in der Wirtschaft der Zukunft nicht benötigt.
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Der Autor ist Mitglied des Programmrats von Nowa Konfederacja und Autor des Buches Świat w cieniu wojny (Die Welt im Schatten des Krieges).
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Vollständige Fassung (auf Englisch) auf Sovereignty.pl
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Übersetzung: Visegrád Post