Von Ferenc Almássy.
Mitteleuropa – An diesem 15. Februar 2018 wird die Visegád-Gruppe 27 Jahre alt. Nie war ihr Einfluß so bedeutend wie jetzt. Ein Rückblick auf eine europäische Erfolgsgeschichte.
Gegründet am 15. Februar 1991 durch Polen, Ungarn und die Tschechoslowakei – die sich 1993 in zwei Staaten spalten wird: Tschechien und die Slowakei – wurzelt die Visegrád-Gruppe bis ins 14. Jahrhundert: in dieser königlichen Residenzstadt unweit von Budapest trafen 1335 der König von Ungarn Karl I. Robert von Anjou, Johann I. von Böhmen und Kasimir III. von Polen zusammen, um ein zukunftsweisendes Bündnis zu schließen.
Kurz nach dem Fall des Kommunismus knüpfen die Regierenden aus Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn an dieses historische Bündnis in Bezug auf die Geschiche und auf die Interessen der Region zurück, und entscheiden dieses alte Bündnis zu erneuern, um ohne Übergang in die „freie Welt“ zu treten, indem sie einander unterstützen.
Während der fünfzehn darauffolgenden Jahre haben sich die drei und später vier Länder der Visegrád-Gruppe der westlichen Welt angeschlossen, indem diese der NATO (1999 bzw. 2004 für die Slowakei) und der Europäischen Union (2004) beitraten.
Ab diesem Zeitpunkt sahen viele die Visegrád-Gruppe als überholt. Der Anschluß Mitteleuropas an Westeuropa war vollbracht worden und wir waren somit an das „Ende der Geschichte“ angekommen.
Enttäuschung und neue Kluft
Aber nach einem Jahrzehnt der Mitgliedschaft in der Europäischen Union sind viele der arglosen Träume und Hoffnungen in Mitteleuropa davon geflogen. Man versteht, dass eine globalistische und liberal-libertäre Bürokratie die Zügel der EU-Institutionen in der Hand hält und dass alles, was man einem verkauft hat, sehr entfernt von der Wirklichkeit ist. Oft wie zweitrangige Länder behandelt und Regeln unterworfen, die ihnen ungüstig sind, fangen die Vier von Visegrád an, ihre Illusionen aufzugeben.
Mit der Migrantenkrise 2015 entlang der Balkanroute kippt alles auf einmal. Die Visegrád-Gruppe, die seit dem Beitritt der V4 in die EU in der Tat wie eingeschlafen war, ist wieder wach geworden. Unter dem Impuls des starken Mann aus Budapest, dem zum national-konservativen Populisten mutierten, früheren anti-kommunistischen Liberalen, Viktor Orbán, mobilisiert sich die Visegrád-Gruppe um erst mal Ungarn zu helfen, seine Grenze zu schützen. Der Grenzzaun wird errichtet, die Patrouillen der V4 nehmen an dessen Überwachung teil, und die V4 lehnt einstimmig die von Brüssel diktierten Migrantenquoten ab.
Seitdem zeichnet sich eine Frakturlinie immer konkreter entlang des ehemaligen Eisernen Vorhangs. Erfahren und schlau spielt Orbán ständig am Rande dessen, was Brüssel tolerieren kann – während er als Kompensation manchmal Zugeständnisse auf anderen Themen als die Einwanderung macht. Die Formel ist erfolgreich: Viktor Orbán gewinnt systematisch die Oberhand und setzt sich gegenüber den Technokraten durch. Parallel richtet er ein ständiges Klima des Kampfes in Ungarn ein: die Feinde werden genannt (die Einwanderung, Brüssel, George Soros), das Volk wird aufgerufen zusammenzurücken, und die politischen Erfolge – Ablehnung der Migranten, Stärkung der Visegrád-Gruppe, wirtschaftliche Erfolge,… – geben Viktor Orbán eine Aura, wie kein ungarischer Regierungschef vielleicht seit Jahrhunderten eine besaß.
Und auch Polen – infolge des Wahlsiegs der PiS im Herbst 2015, wo die Migrantenfrage eine zentrale Rolle gespielt hatte – begibt sich auf den Weg des von Viktor Orbán gepredigten Illiberalismus. Die Orbán-Methode wird von der polnischen grauen Eminenz Jarosław Kaczyński abgenommen. Und zum ersten Mal seit der Zwischenkriegszeit wird Polen wieder zur treibenden Kraft in der Region, sowohl wirtschaftlich als auch politisch.
Das ungarisch-polnische Duo wurde also zum Initiator der Reaktivierung und der beispiellosen Stärkung der Visegrád-Gruppe. In der Slowakei paßt sich der Sozialdemokrat und Populist Fico in den meisten Bereichen an, insbesondere bezüglich der Einwanderung. In Tschechien bestätigen die Wahl Andrej Babiš’ als Ministerpräsident und die Wiederwahl Miloš Zemans als Staatspräsident die Wende des Landes „zugunsten Mitteleuropas“.
Die Visegrád-Gruppe ist so stark wie nie zuvor
Was heute stattfindet, ist nichts weniger als die Mutation der Visegrád-Gruppe von einer informellen Entente zu einem politischen, wirtschaftlichen, finanziellen, militärischen und sogar kulturellen Bündnis. Von gemeinsamen Übungen der Streitkräfte der V4-Länder bis zur Zunahme von gemeinsamen kulturellen Ereignissen führen die Regierenden der V4 gemeinsam eine noch nie dagewesene Politik der regionalen Kohäsion. Sie möchten dadurch ebenfalls zeigen, auf welches Modell sie warteten und weiterhin hoffen –niemand solle ihnen jedoch Doppelzüngigkeit unterstellen – von einer Union europäischer Länder: die Freiheit jedes Mitglieds in einem nicht dominierenden Rahmen, wobei die Interessen und die Souveränität jedes Mitglieds beachtet werde.
Ende Januar haben sich die Regierungschefs der V4 in Budapest versammelt, u.a. um über die Gründung einer regionalen Entwicklungsbank zu sprechen. Auf die Möglichkeit einer Trockenlegung der EU-Beihilfen aus politischen Gründe vorgreifend, nimmt die Visegrád-Gruppe die Zügel selber in die Hand und setzt somit den Anfang einer neuen Etappe zur Selbsthilfe und zur Unabhängigkeit.
„Wir haben Schlüsselbegriffe, die uns verbinden: Gott, Vaterland, Familie, Sicherheit, Arbeit, Ehre, Menschenverstand, Souveränität, Freiheit“. Mit diesen Worte legte Viktor Orbán im Namen der V4 die Leitlinie der Visegrád-Gruppe als Dissidentengruppe innerhalb der EU fest. Es handelt sich um ein europäischer Block, der die liberal-libertäre, zuwanderungsfördernde, laizistische und globalistische Vision ablehnt. Ein anderes Europa ist möglich, und die V4 hat durchaus vor, es zu verwirklichen.
Übrigens verbirgt die V4 ihre Ambitionen nicht: wie Andrej Babiš es sagte, soll die EU reformiert werden, damit sie sich zu etwas entwickelt, das mehr aussieht wie die V4. Der tschechische Ministerpräsident möchte „die Europäische Kommission entpolitisieren“ und zu kollegialen Entscheidungen der europäischen Regierungschefs gelangen. Selbstverständlich scheint es im derzeitigen Zustand wenig realistisch. Aber die Fakten liegen vor: heute muß Juncker mit der V4 verhandeln. Die Visegrád-Gruppe hat es geschafft, sich als ein wichtiger politischer Akteur in Europa durchzusetzen, der Ideen mit sich führt, mit denen man umgehen muß.
Sein Schicksal in die Hand nehmen
Um stärker zu werden hat die V4 verstanden, dass sie nicht vom Westen erwarten sollte, was sie braucht. Man nehme es zur Kenntnis: Zusammenarbeit zwischen China und Ost- und Mitteleuropa, dessen Herz die V4 ist, im Rahmen des Formats 16+1 oder im Rahmen der Entwicklung der Neuen Seidenstraße (mit Projekten zum Bau von Kanälen, Autobahnen und Hochgeschwindigkeitsbahnverbindungen), aber auch der Drei-Meere-Initiative mit dem Ziel, insbesondere die Energie- und Verkehrsinfrastruktur zwischen Adria, Ostsee und Schwarzem Meer zu entwickeln.
Parallel dazu, da die V4 es geschafft hat, ihren Standpunkt bezüglich der Masseneinwanderung zu halten und zu verteidigen, führt sie seit 2015 gemeinsame Hilfsaktionen für die Balkanländer durch, darunter Bulgarien, Mazedonien und Serbien, während sie die EU-Erweiterung an die westlichen Balkanstaaten unterstützt. In kaum zweieinhalb Jahren hat sich die V4 als ein einflußreicher politischer Akteur im Balkan etabliert, und zwar als der einzige, der wirklich hoffen kann, den Frieden in der Region zu bewahren, und der auf gleicher Augenhöhe mit seinen balkanischen Partnern arbeitet.
Die vier Länder der Visegrád-Gruppe fördern ebenfalls die Entwicklung ihrer Handelsbeziehungen. Ungarn hat soeben angekündigt, dass es künftig seine Waffen möglichst in Tschechien kaufen wird. Ein weiteres wichtiges Element ist auch die Annäherung Rumäniens an die Visegrád-Gruppe – was zum Anlaß für lächerliche Propagandakampagnen seitens einiger rumänischen Medien, die der Visegrád-Gruppe vorwarfen, eine russische Mache zu sein, bzw. Ungarn (9,9 Mio. Einwohner) zu versuchen, sich Siebenbürgen (7,3 Mio. Einwohner… davon nur 1,2 Mio. Ungarn) wieder zurückzuholen. Vergessen sollte man freilich auch nicht die Annäherung zwischen der V4 und Österreich, das gerade eine konservative Regierung gewählt hat, die u.a. gute Beziehungen mit Viktor Orbán aber auch mit Bayern pflegt, dessen führender Politiker und Vorsitzender der CSU, Horst Seehofer, gerade Bundesinnenminister geworden ist und unverschleiert ein Verbündeter Viktor Orbáns ist…
Eins ist sicher: die Visegrád-Gruppe stört genauso wie sie begeistert. Einerseits sehen sie manche als ein Werkzeug zur Emanzipierung von jahrhundertelang unterdrückten Völkern, die heute eine historische Gelegenheit erblicken, ihren Einfluß, ihre Unabhängigkeit und ihre Freiheit zurückzuerlangen.
Andererseits sehen andere die Visegrád-Gruppe als eine populistische und reaktionäre Krise, als eine schädliche Bremse für den Fortschritt (LGBT-Projekt, Einwanderung, Abschaffung der Nationen und Religionen). Sie irritiert und beunruhigt umsosehr, als die Wurzeln der Union dieser kleinen Länder ziemlich solide erscheinen.
Es ist zwar selbstverständlich nicht ausgeschlossen, dass das Projekt noch scheitere! Niemand kann die Zukunft vorhersagen. Aber die politische und wirtschaftliche Dynamik bzw. die Geschichte scheinen zu zeigen, dass die Zeit für Mitteleuropa gekommen ist, und dass dessen Kohäsion und politisches Zusammenhängen ihm erlauben wird, nicht nur die Systemkrise zu überwinden, in welche der Westen versinkt, sondern auch einen europäischen Aufbruch im Respekt der Kulturen, der Identitäten und der Freiheiten unserer Völker einzuleiten.
Wünschen wir also gemeinsam der Visegrád-Gruppe einen schönen Geburtstag und ein langes Leben!