Von Antoine de Longevialle.
Ungarn – „Seit sieben Jahren arbeite ich daran, eine auf unsere nationalen Interessen statt auf die Mentalität und die Logik eines unwilligen Verbündeten basierende Außenpolitik aufzubauen. Wir kommen gut voran, aber es gibt ein Teil des Puzzles, das noch nicht an seinem Platz steht, und das ist Brüssel.“
Das ist das, was Viktor Orbán bei einem Sommertreffen mit Studenten 2017 erklärte, und wahrscheinlich würde es in den Ohren Jean-Claude Junckers nicht allzu gut klingen.
Wenn wir in irgendeiner Weise über die Politik des eigenen Landes reden, kommen wir immer auf die Frage der nationalen Interessen zurück. Was ist ein nationales Interesse? Wir glauben es realistischerweise so, wie es Derek S. Reveron und Nikolas K. Gvosdev in einem Artikel über Nationale Interessen und große Strategie (2017) ausdrückten. In ihren Augen wären nationale Interessen „ein Konzept, der es sicherheitspolitischen Entscheidungsträgern erlaubt, auszudrücken, was für das Land wichtig ist und wie eine Nation ihre Prioritäten setzt. Nationale Interessen sind das, was die Integrität des Staates schützt und den wirtschaftlichen Wohlstand fördert“.
Obwohl Ungarn als EU-Mitglied einige Teile seiner Souveränität allmählich aufgegeben hat, behält es das Recht in vielen Bereichen zu entscheiden, was es als das Beste für seine Bürger betrachtet. Wie weit kann allerdings Ungarn gehen, ohne gegen die EU-Interessen zu gehen, ist einer der Hauptgründe für den Graben und den Mangel an Verständnis zwischen der Kommission und Budapest. Und es ist besonders wahr, wenn es sich um Energie handelt.
Wie Polen und zehn weitere Staaten ist Ungarn Mitglied der Drei-Meere-Initiative. Während die Kommission nicht offiziell gegen diese neue regionale Zusammenarbeit ist, ist Ungarn einer der Hauptakteure davon, was von Brüssel aus als ein Destabilisationsfaktor gesehen wird. Nach dem Fall der Sowjetunion warf sich Ungarn in eine westorientierte Politik, vorwiegend um seine Marktwirtschaft anzupassen. Allerdings, seit seiner Wahl 2010 scheint Orbán versöhnlicher gegenüber Russland zu sein, was dazu führt die Kommission zu irritieren. Ungarn, das schon vier von Russland gebaute Atomreaktoren besitzt, die ein Drittel seines Energieverbrauchs abdecken, hat 2014 einen Vertrag mit der russischen Firma Rosatom für den Bau von zwei Atomkraftwerken für eine Gesamtsumme von 12,5 Milliarden Euro geschlossen (finanziert durch einen russischen Kredit in Höhe von 10 Milliarden Euro).
Trotz des grünen Lichts aus Brüssel nach drei Jahren Diskussionen betrachtet die Europäische Kommission dieses hauptsächlich durch Russland finanzierte Projekt weiterhin mit Argwohn. In ihrer 2017er Übersicht über Ungarn erwähnte die Internationale Energieagentur, dass Ungarns Bruttoinlandsverbrauch zu 31% aus Gas stammte, und dass dieser Gas zu 95% aus Russland kam. Öl, das zu 27% von dessen Endverbrauch zählte, war zu 76,2% ebenfalls ein Produkt aus der Russischen Föderation. Diese Daten betrachtend kann man sehen, dass die Energiesicherheit Ungarns sehr stark von Russland abhängt. Sein nationales Interesse ist es also, sich energiepolitisch nicht allzu sehr von Moskau zu distanzieren. In einer Zeit großer Spannungen zwischen der EU und Russland weicht Ungarn von seiner Strategie einer guten Beziehung mit Moskau nicht ab. Obwohl Ungarn für die Sanktionen gegen Russland gestimmt hat, hat es stets versucht, für ihre Aufhebung zu werben, was Spannungen mit der Kommission und sogar mit Polen erzeugt, die damit überhaupt nicht einverstanden sind. Zum Beispiel wollte Budapest immer mehr Zusammenarbeit zwischen der NATO und Russland im Bezug auf den Syrienkonflikt, aber es hat nie eine positive Antwort aus Washington erhalten. Während einer Pressekonferenz in Budapest mit Wladimir Putin, appellierte Viktor Orbán an die „Normalisierung der Beziehungen zwischen der EU und Russland und betonte, dass die Zusammenarbeit mit Moskau eine unabdingbare Bedingung sei, um die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Wirtschaft zu erhalten“. Er lobte ebenfalls Russland für „seinen Beitrag um den Syrienkonflikt zu lösen bzw. die Einwanderung nach Europa einzuschränken“.
Wir haben gesehen, dass Brüssel und Budapest in der Energiepolitik zutiefst einander mißverstehen. Was Ungarn als eine Angelegenheit von nationalem Interesse ansieht, wird von der Kommission als gegen die Interessen der EU betrachtet. Auf beiden Seiten sollte man sich um ein besseres Verständnis für einander bemühen, um auch dabei den gegenseitigen Respekt zu stärken.