Von Nicolas de Lamberterie
„Lovas ist tot“
„Lovas ist tot“. Das sind diese drei schrecklichen Wörter mit surrealistischer Erscheinung, die mich am Dienstag, den 12. Juni 2018 in der Früh geweckt haben. Wie konnte ich glauben, dass dies möglich sei, wobei ich zwei Wochen vor seinem Tod István Lovas – einen wohlbekannten ungarischen Autor und Journalist – noch gesehen hatte, wie er immer war: voller Energie trank, lachte und sprach er trotz seiner 72 Jahre wie ein junger Mann! Und doch…
Am Abend davor war er beim Sajtóklub (Presseklub) nicht dabei. Diese Wochensendung vom Montag Abend wird auf dem regierungsnahen Kanal Echo TV ausgestrahlt und versammelt vier ungarische Journalisten bzw. Publizisten, die das aktuelle Geschehen in Ungarn und in der Welt kommentieren. Die Sendung wurde auf seine Initiative am Anfang der 2000er Jahre ins Leben gerufen, erlebte mehrere Unterbrechungen und Wiederaufnahmen, um heute in die ungarische Fernsehlandschaft zurückzukommen.
Pista (Kosename für István), als historische Stütze dieser Sendung, war oft die unabhängigste und die dissonanteste Stimme in der Show. Er war kompromisslos und fürchtete sich nicht davor, etwas unbequem zu sein, einschließlich mit dem eigenen politischen Lager, dem er nahe stand.
Er führte den Zuschauern seine Analysen und Informationen über die Welt zu, dank seiner Kompetenz in internationalen Fragen, dank den zehn Sprachen, die er lesen konnte, und dank seiner multipolaren Sicht der Welt, in einer Opposition, die gegen den unipolaren Atlantismus genauso entschlossen war wie einst gegen den Kommunismus, was ihn im kommunistischen Ungarn ins Gefängnis gebracht hatte.
Pista ist nicht da…
Montag Abend. Sajtóklub. Pista ist nicht da… Ich dachte, dass dies eine Folge vom Skandal um einen heftigen Meinungsaustausch war, den er ein paar Tage zuvor mit dem ungarischen liberalen LMP-Abgeordneten Péter Ungár gehabt hatte, nachdem die LMP sich zugunsten einer Fortführung der EU-Sanktionen gegen Russland ausgesprochen hatte.
Fühlte er sich müde infolge dieses Skandals? Hatte er aus eigener Initiative entschieden, sich ein paar Tage lang vergessen zu lassen? Hatte er die Anweisung erhalten, nicht zum Aufnahmestudio zu kommen? Diese Fragen gingen mir durch den Kopf. Ich dachte, ich würde ihn am Dienstag anrufen, doch ich wußte nicht, dass er schon aus dem Leben geschieden war. Ich wußte nicht, dass „Lovas tot war“.
„Lovas ist tot“. Auch wenn ich immer wieder daran denke, ist die Assoziierung dieser drei Wörter immer noch surrealistisch in meinem Kopf. Ich habe noch den Eindruck, dass ich bald mit ihm reden werde, dass wir Nachrichten aus der Welt austauschen werden, bevor er aufhängen wird, indem er mir erklärt, dass er Hunderte von Mails von Dutzenden Presseagenturen aus der ganzen Welt erhalten hat, die er bearbeiten muss. Oder dass ich ihn bald im Fernsehen sehen werde, um zu hören, wie er unermüdlich die Atlantisten anprangert, von Öffnung Richtung Osten spricht, irgendeine Anekdote über Singapur erörtert, das Land, das er so gerne erwähnte und wo er oft hinreiste. Oder dass wir bald eine Flasche Rotwein bzw. einen köstlichen Schinken bei ihm in Bicske teilen würden.
Das letzte Mal, wo ich das Glück hatte, István Lovas zu sehen, hatte dieser einige – teilweise lustige, teilweise tragische – Anekdoten aus seinem bewegten Leben erzählt. Über seine Gefängnisjahre im Ungarn der 60er Jahre, darüber wie er es geschafft hatte, in den 70er Jahren das Land zu verlassen, über seine Tätigkeit als Journalist bei Radio Free Europe in den 80er Jahren, über seine Doktorarbeit, die er bei Sciences Po in Paris unter der Leitung der berühmten Historikerin Hélène Carrère d’Encausse verfasst hatte.
Pista ist nicht da… Er ist auf dem Schlachtfeld gefallen
Ich wußte damals noch nicht, dass es das letzte Mal sein würde. Ich hätte ihm noch so viele Fragen stellen, so viel mehr über diesen Mann wissen wollen, über seine Erlebnisse in der ganzen Welt im Laufe der letzten fünfzig Jahre.
Pista war ein Arbeitstier und arbeitete bis zu 18 Stunden am Tag, jeden Tag. Trotz seines Alters und der Anerkennung war Pista nicht jemand, der sich ausruht. Er durchwühlte unermüdlich die Nachrichten aus der ganzen Welt und belieferte zahlreiche Presseorgane bzw. seinen Blog. Er war ein Heer für sich allein.
Genauso so, wie man behauptet, dass der ideale Tod für einen Soldat auf dem Schlachtfeld oder der eines Künstlers auf der Bühne sei, ist Pista in seinem Arbeitszimmer gestorben und wurde mit dem Kopf auf der Tastatur aufgefunden.
Sein Freund Zsolt Bayer, Moderator des Sajtóklubs, erklärte nach seinem Tod: „Er hat nicht gut gelebt. Wer sich in einem ständigen Kampf befindet, lebt nicht gut. Er war allein, er war einsam, er war kämpferisch […] Der Kämpfer ist immer einsam und allein. […] Und was fantastisch ist: er war immerhin ein guter Geselle“.
Ein guter Geselle, das war er. Zahlreiche Bezeugungen von durchaus jüngeren Kollegen nach seinem Tod haben das Interesse betont, das er für die Jugend im allgemeinen und für die jüngeren Generationen von Journalisten im besonderen zeigte. In einem Alter, wo zahlreich sind diejenigen – besonders in der individualistischen westlichen Welt –, die sich nur noch damit beschäftigen, den Wohlstand ihrer alten Tage zu verwalten, war Pista ganz das Gegenteil. Er war einer von denen, die den jungen Generationen helfen, ohne je irgendwas dagegen zu erwarten. So unterstützte er von Anfang an die Seite der Visegrád Post, die er regelmäßig las und für die er gelegentlich Beiträge schrieb. Und deren Chefredakteur Ferenc Almássy konnte ebenfalls auf seine Freundschaft und seine Unterstützung zählen.
Pistol Pista!
Ich hatte István Lovas den Spitznamen „Pistol Pista“ gegeben, in Referenz auf den Tennisspieler Pete Sampras, den man „Pistol Pete“ genannt hatte.
Das Arbeitstier Pistol Pista war ebenfalls wegen seines Freimuts bekannt: mal gegen die Amerikaner, mal gegen irgendeinen ungarischen Amtsträger, der seiner Meinung nach seine Arbeit nicht ordentlich leistete.
Im Bereich Freimut wird man sich auch daran erinnern, dass er ein Jahr lang Hausverbot im Europäischen Parlament erhielt (wo er jahrelang in Brüssel als Pressekorrespondent arbeitete) nachdem er einen Brandbrief an die niederländische liberale Abgeordnete Sophie in ’t Veld geschickt hatte. Pistol Pista erklärte dann, dass er Lust hatte, gegen diese Entscheidung zu berufen, da er eigentlich betrachtete, dass er doch eine lebenslange Verbannung aus dieser Institution verdient habe.
István Lovas war nicht nur „Pistol Pista“, aber das war er auch, und ich wollte es nicht versäumen, diesen Aspekt des Monuments István Lovas den nicht ungarischsprachigen Lesern näher zu bringen.
Eine unermessliche Leere und ein Erbe
István Lovas wird eine unermessliche Leere hinterlassen. Wie sein Freund Zsolt Bayer es sagte: wer soll einen solchen Mut, ein solches Arbeitsvermögen, solche Sprach- und Faktenkenntnisse ersetzen? Sogar eine Mannschaft von 5 oder 10 Personen hätte Mühe, ihn zu ersetzen.
Frigyes Fogel, ein unabhängiger Filmproduzent, hatte damit angefangen, einen Film über István Lovas zu produzieren. Lovas hatte dann dem Produzent gesagt: „Es gab noch nie einen Film über mein Leben, somit würde nichts von mir übrigbleiben, wenn ich mal tot bin. Daher wäre ich sehr glücklich, wenn wir es schaffen sollten, diesen Film zu machen“. Leider wurde nur ein erstes Gespräch aufgenommen. Die weiteren hätten nach den Wahlen vom April 2018 realisiert werden sollen. Sie werden es nie werden. Frigyes Fogel hat somit das erste Gespräch als solches veröffentlicht.
Soll das heißen, dass István Lovas nur eine unermessliche Leere hinterlassen wird, und dass, wie er dem Produzent Frigyes Fogel sagte, nichts von ihm übrig bleiben wird? Für diesmal sollten wir es versuchen, dass Pista sich geirrt habe.
Pista Lovas ist vor allem ein Erbe und eine riesige Erinnerung. Es sind mehrere Generationen von Ungarn, die sich aus unterschiedlichen Gründen an ihn erinnern. Ich habe schon gesagt, inwiefern die jungen Journalisten Lovas schätzten, der immer bereit war, seinen jungen Kollegen zu helfen.
Infolge der Meldung seines Todes hat die ungarische Presse zahlreiche Nachrufe veröffentlicht. Alle anerkannten Autoren haben ihm Tribut gezollt, manchmal mit zahlreicher politisch motivierter Kritik, aber dem Mann wurde einstimmig gehuldigt. In aller Augen verkörperte er einen kämpferischen, integren, rechten und beispielhaften Journalismus. Wie viele daran erinnerten, wurde er zum Anreger der Berufung für eine ganze Generation ungarischer Journalisten, auch für diejenigen, die andere Ansichten vertreten.
Die 35- bis 40-jährigen bzw. älteren ungarischen Patrioten erinnern sich an die schweren Jahre nach dem Wahlsieg der liberalen Linke 2002, einschließlich wenn die Sendung Sajtóklub urplötzlich unterbrochen wurde und deren Moderatoren – darunter Lovas – einem harten Druck ausgesetzt wurden. Die Sendung wurde schließlich auf vertraulicheren Fernsehkanälen wieder aufgenommen und Lovas versäumte es nie, jede Sendung mit den Worten zu beginnen: „Es bleiben nur noch X Wochen bis zu den nächsten Parlamentswahlen“.
Und diejenigen – aus allen Generationen zusammen –, für die die Freiheit Ungarns wichtig ist, die im Rahmen von EU und NATO so sehr eingeschränkt ist, werden sich immer an den unermüdlichen Mut István Lovas’ erinnern, die atlantistische Kriegshetze anzuprangern.
István Lovas war unveränderlich und unermüdlich immer ein Gegner des Westens gewesen, den er wohl und oft besser kannte, als seine unter der kommunistischen Diktatur im Lande verbliebenen Landsleute. Westenkritisch, illiberal, unorthodox, Anhänger einer Verständigung mit China und Russland: das alles war er immer schon gewesen, lange bevor es zu einer der neuen Linien des Fidesz wurde, worüber Lovas sich sehr gefreut hatte.
István Lovas war auch der Mann, der trotz seines Freimuts und seiner deutlichen Standpunkte grundlegend ein Mann der Öffnung und des Dialogs war. Obwohl er ein kämpferischer Kommunistenfeind war, der mehrere Jahre in den Kerkern des Regimes verbracht hatte, hatte er große Achtung für Herrn Gyula Thürmer, den Vorsitzenden der Ungarischen Kommunistischen Arbeiterpartei, denn im Gegensatz zu den meisten früheren Kommunisten, die sich sehr rasch in den liberalen Kapitalismus neuorientiert haben (indem sie große Teile des Reichtums des Landes verscherbelten bzw. an sich rissen) ist Thürmer seinen Überzeugungen treu geblieben.
Adieu Pistol Pista!
Pista, ich werde Dich vermissen, Ungarn wird Dich vermissen, und alle, die noch so leichtsinnig sind, um an ein freies Ungarn, an eine ausgewogenere Welt zu glauben, werden Dich vermissen. Die Ungarn haben die Gewohnheit zu glauben, dass diejenigen, die Ihnen lieb sind, vom Jenseits aus auf sie aufpassen. Ähnlich wie die Legende, die besagt, dass die Milchstraße die Heere des Csaba darstellt, die jederzeit bereit sind, herunter zu eilen, um den Szeklern – den siebenbürgischen Ungarn in den Grenzgebieten der Karpaten – zu Hilfe kommen.
Du warst ein Heer für Dich allein. Pass auf uns auf, von dort aus, wo Du jetzt bist. Adieu Pistol Pista, Adieu Herr István Lovas!
Aus dem Französischen übersetzt von Visegrád Post.