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Ryszard Terlecki: „Die Opposition versucht mit undemokratischen Mitteln an die Macht zurückzugelangen.“

Lesezeit: 7 Minuten

Gespräch mit Ryszard Terlecki, Vizemarschall des polnischen Sejm: „Die Opposition versucht mit undemokratischen Mitteln an die Macht zurückzugelangen.“

Polen – Im Rahmen unserer Gesprächserie mit Persönlichkeiten der polnischen Politik hat Olivier Bault den Vizemarschall des polnischen Sejm (Vizepräsident des Unterhauses) und Vorsitzenden der Fraktion der seit 2015 regierenden PiS interviewt. Herr Terlecki erklärt den Bezug Polens zu dessen Unabhängigkeit und daher zu den europäischen föderalistischen Plänen, erwähnt die Bedeutung des Christentums als Grundlage der europäischen Zivilisation und erklärt ebenfalls die eindeutige Gefahr für die polnische Unabhängigkeit und die polnische Demokratie, die die von der Opposition eingeleitete antidemokratische Strategie für deren Rückkehr an die Macht verursacht.

Diese Gesprächserie – mit dem Europaabgeordneten und Vorkämpfer der europäischen Integration Polens, Jacek Saryusz-Wolski; und mit dem stellvertretender Ministerpräsidenten, Minister für Wissenschaft und Bildung bzw. ehemaligen Justizminister in der Regierung von Donald Tusk, Jarosław Gowin – wurde während unseres Aufenthalts in Polen anlässlich des hundertsten Jahrestags der wiedererlangten Unabhängigkeit realisiert und dank unserer Partner des konservativen Wochenmagazins Do Rzeczy ermöglicht.


Olivier Bault : Herr Vizemarschall, danke, dass sie uns erneut empfangen.

Vor einem Jahr hatten wir über den polnischen Patriotismus und über diesen Unabhängigkeitsmarsch gesprochen, der von Nationalisten organisiert wird und in ganz Europa und sogar in der Welt berühmt ist. Heuer möchten wir mit Ihnen anlässlich des hundertsten Jahrestags der Unabhängigkeit über die Geschichte Polens sprechen.

Polen feiert 100 Jahre Unabhängigkeit, aber in Wirklichkeit – abgesehen von der Zwischenkriegszeit – sind es 28 Jahre, dass Polen unabhängig ist, oder?

Ryszard Terlecki: Zuerst soll man vom hundertsten Jahrestag der wiedererlangten Unabhängigkeit sprechen, denn der polnische Staat hat schon eine tausendjährige Geschichte. Diese Unabhängigkeit verloren wir am Ende des 18. Jahrhunderts. Obwohl die Polen mehrmals durch Aufstände versucht hatten, diese wiederzuerlangen, ist es der Erste Weltkrieg, der die notwendigen Bedingungen hierfür schaffte.

Man muss also durchaus präzisieren, dass es sich um eine wiedererlangte Unabhängigkeit handelt. Aber es ist wahr, dass diese Unabhängigkeit nicht lange gedauert hat. Es gab dann den Zweiten Weltkrieg mit der deutsch-sowjetischen, dann der deutschen und erneut der sowjetischen Besatzung. Letztere dauerte beinahe ein halbes Jahrhundert. Erst 1989 ist Polen wieder zu einem freien souveränen Staat geworden.

Olivier Bault: Kann man in diesem Fall sagen, dass der Erste Weltkrieg im kollektiven Bewusstsein der Polen ein positives Ereignis sei?

Ryszard Terlecki: Krieg ist niemals ein positives Ereignis, doch die internationale Konjunktur, die aus diesem Krieg entstanden ist, hat Polen ermöglicht, ihre Unabhängigkeit wiederzuerlangen. Die drei Mächte, die sich Polen geteilt hatten, sprich Deutschland, Österreich und Russland, haben den Krieg verloren.

Genauer gesagt: Deutschland und Österreich haben den Krieg verloren, und Russland hat für einen Moment nach der bolschewistischen Revolution aufgehört zu existieren. Sie sank in die Revolution und dadurch entstand ein Zeitfenster, um den Traum von Generationen von Polen zu verwirklichen, deren Versuche bis dahin erfolglos gewesen waren.

Polen machte ihre Neuerscheinung als souveräner Staat auf der Karte Europas. Dies betraf ebenfalls andere Länder aus unserer Region.

Olivier Bault: Kann diese Unabhängigkeit bewahrt werden? Ich denke an die EU, an deren Druck, an ihre Verfahren gegen Polen…

Ryszard Terlecki: Es ist eine ganz andere Situation als die sowjetische Fremdherrschaft.

Damals waren wir kein souveräner Staat. Während der Jahre der Nachkriegszeit, unter der Stalinzeit, waren wir praktisch ein besetztes Land. In der Folge waren wir ein Land mit einigen Befugnissen der Souveränität, doch den Sowjets für manche Angelegenheiten vollkommen unterworfen, wie z.B. die Außenpolitik, die Armee, die Landesverteidigung und auch die Schwerindustrie, sprich den wichtigsten Sektor der Wirtschaft. Ansonsten, was wesentlich ist, war es die Kommunistische Partei, die in Polen regierte, und es war in Moskau, dass entschieden wurde, wer die Partei und daher den Staat leitete.

Olivier Bault: Man kann also sagen, dass, wenn die Unabhängigkeit heute manchmal beschränkt ist, so ist es durch den Willen der polnischen Nation?

Ryszard Terlecki: Wir haben in der Tat nicht das Gefühl, wie in der Sowjetzeit eine Halbkolonie zu sein. Die Polen haben per Volksentscheid beschlossen, ein Teil der EU zu sein, und diesen Willen gibt es heute noch. Die große Mehrheit der Polen – etwa 80% gemäß den Umfragen – befürworten die EU-Mitgliedschaft.

Olivier Bault: Auch wenn manche das Gegenteil behaupten, betrachtet der PiS die EU-Mitgliedschaft und sogar die Existenz der EU als für Polen lebenswichtig, oder?

Ryszard Terlecki: Ja, das ist, was wir denken, und unsere Politik resultiert aus dieser Betrachtung.

Olivier Bault: Ist das die Konsequenz der langen Jahre des Kampfes um die Unabhängigkeit von einem zwischen Deutschland und Russland eingeklemmten Polens? Wird also die EU als eine Garantie für den Frieden und daher für die Sicherheit empfunden?

Ryszard Terlecki: Für uns stellt vor allem die NATO die Garantie für die Sicherheit.

Aber wir erinnern uns an die in den 1950er Jahren in Westeuropa gegründeten Europäischen Gemeinschaften, als Polen sich unter der sowjetischen Fremdherrschaft befand. Jahrzehntelang beobachteten die Polen dies mit Neid. Sie wünschten, der EG und dann der EU beizutreten. Es war für uns ein Weg in Richtung Souveränität, insofern es eine freie Entscheidung der polnischen Nation war.

Olivier Bault: In Europa wie in Polen gibt es zwei große Lager, die gegeneinander kämpfen.

Schematisch betrachtet kann man von einem liberal-libertären, eher föderalistischen – manche würden sagen antinationalen – Lager bzw. von einem eher in unterschiedlichen Stufen souveränistischen Lager sprechen. Letzteres wird von den großen Medien populistisch genannt, und die derzeitige polnische Regierung wird ebenfalls in diese Kategorie eingestuft.

Die europäischen Rechten setzen ebenfalls große Hoffnungen darin, dass der PiS in Polen regiert. Genauso wie Polen 1920 die bolschewistische Expansion gestoppt hat, kann man hoffen, dass sie den soften und verdeckten Totalitarismus der Linken in Europa stoppen oder ihren Beitrag dazu leisten wird.

Ryszard Terlecki: Es stimmt, dass wir die Existenz der EU befürworten und darin bleiben möchten, aber wir sehen die EU wie eine Vereinigung von souveränen Staaten.

Wir werden keinen europäischen Einheitsstaat akzeptieren, der u.a. unser Land fremdverwalten würde. Außerdem sind wir für die Bewahrung der Werte und Ideale, die am Ursprung der Gründung der Europäischen Gemeinschaft standen, dieses großen Projekts der europäischen Christdemokraten, die die Zusammenarbeit und die Gemeinschaft von Völkern auf der Basis von Werten entwickeln wollten, die die europäische Zivilisation aufgebaut haben.

Der derzeitige Gedanke, einen Einheitsstaat zu bauen, den man zusätzlich mit Migranten aus anderen Kontinenten vermischen würde, indem man das über Bord werfen würde, was die Grundlage der europäischen Kultur und Zivilisation darstellt, ist für uns inakzeptabel.

Wir wollen die EU als eine Organisation, die die Zusammenarbeit fördert, vor allem im Bereich der Wirtschaft aber auch des Militärs, der Kultur usw. – aber indem wir unsere Identität bewahren. Weil wir so lange Jahre von unserer Unabhängigkeit beraubt wurden und weil wir unter dem sowjetischen Druck gelitten haben, hängen wir wesentlich mehr an die Unabhängigkeit und an die Souveränität als Westeuropa, und auf jeden Fall als Deutschland, wo man davon träumt, Geschichte und Identität in einem größeren Projekt aufzulösen, um sich von der Verantwortung über das während des Zweiten Weltkriegs entstandene Leid entledigen zu können.

Olivier Bault: Auf einer spirituelleren Ebene war, ist und wird Polen weiterhin eine Hochburg des katholischen Christentums in Europa sein?

Ryszard Terlecki: Dies scheint uns die Bedingung für das Überleben Europas zu sein.

Es ist für uns unabdingbar, unsere Werte, unsere Religion, unseren Glauben so wie unsere kulturelle und historische Identität zu bewahren, wenn wir uns als Zivilisation entwickeln und fortbestehen wollen. Selbstverständlich werden wir gegen jeden Gedanken opponieren, dir dieser Forderung entgegenstehen sollte.

Olivier Bault: Wie in jeder Demokratie sind Sie der Vertreter eines Lagers unter anderen, auch wenn er viele Leute in Polen versammelt. Es gibt auch linkere, libertärere Überzeugungen, die an die Unabhängigkeit weniger hängen.

Was jedoch Polen auszeichnet, ist diese Opposition, die Brüssel um Hilfe in den poleninternen Kämpfen bittet. Am Ende des 18. Jahrhunderts ist es diese Art von Verhalten, die zum Verlust der Unabhängigkeit Polens geführt hatte. Riskieren wir nicht, dass diese polnische Besonderheit heute das gleiche verursache?

Ryszard Terlecki: Wir haben die Wahlen auf unterschiedlichen Ebenen gewonnen: die Präsidentschaftswahlen, die Parlamentswahlen und die Regionalwahlen.

Die Opposition scheint diese Tatsache nicht zu akzeptieren. Sie scheint der Meinung zu sein, dass ein Unfall der Geschichte uns provisorisch an die Macht in Polen gebracht hat. Und sie versucht freilich diese Situation zu ändern, was an und für sich in einem demokratischen Land eine normale Sache ist.

Das Problem ist, dass statt zu versuchen, die Wahlen gegen uns zu gewinnen und ein anderes Programm vorzustellen, um die Wähler zu überzeugen, die Opposition durch nicht demokratische Mitteln versuche, die Macht wiederzuerlangen.

Sie versucht, Unruhen auf der Straße zu stiften. So haben wir die Besetzung des Sejms [Parlament] und politische Destabilisierungsversuche erlebt. Und sie versucht auch, die Kräfte in Europa zur Hilfe zu rufen, die sich nicht darüber freuen, dass Polen ihre eigene Politik nach Jahren liberaler und linker Regierungen führe.

Olivier Bault: Man sieht auch heute diejenigen, die in Brüssel rufen, dass die PiS-Regierung das Demonstrationsrecht einschränke, selber dieses Recht in Frage stellen. So mit diesem berühmten Unabhängigkeitsmarsch, der Zehntausende von Polen aus unterschiedlichen Horizonten anzieht, und den der Warschauer PO-Stadtpräsident hat verbieten wollen.

Ryszard Terlecki: Diesbezüglich gibt es einen Streit auf der Ebene der Sprache. Sie haben selber von einem Marsch der Nationalisten gesprochen. Es handelt sich jedoch nicht um einen Marsch der Nationalisten, auch wenn nationalistische Gruppen daran teilnehmen.

Es ist ein großer Marsch der Polen, die in dieser Weise ihre Liebe zu ihrem Vaterland ausdrücken und den Jahrestag der wiedererlangten Unabhängigkeit feiern, und daher findet dieser Marsch immer am 11. November statt. Die Opposition wie auch die Linken und liberal-libertären Kräfte im Westen versuchen diesen partout als einen rechtsradikalen Marsch darzustellen. Westliche Zeitungen haben sogar von einem faschistischen Marsch berichtet.

Olivier Bault: Und sogar von einem Neonazi-Marsch…

Ryszard Terlecki: In der Tat und man kann freilich sagen, dass dies von Vollidioten geschrieben wurde, doch da ist nicht das Problem.

Sie wissen sehr wohl, dass die Marschteilnehmer keine Faschisten, keine Populisten und keine Nationalisten sind. Doch so stellen Sie die Sachen in der Öffentlichkeit dar, um unsere Regierung zu diskreditieren und die liberal-libertäre Opposition zu unterstützen.

Es führt nicht zum erwarteten Ziel, denn die Opposition hat es nicht geschafft, uns durch Straßengewalt zu beseitigen. Die Involvierung von ausländischen Politikern hat auch keine ausserordentliche Wirkung gehabt, auch wenn wir freilich derzeit einige Probleme haben, wie z.B. mit dem Gerichtshof der Europäischen Union, der es versucht, unser Recht einzuschränken, das Justizwesen in Polen zu reformieren.

Olivier Bault: Denken sie – 100 Jahre nach der wiedererlangten Unabhängigkeit –, dass diese Spaltungen überwunden werden können?

Ryszard Terlecki: Wir denken, dass es möglich ist, dass wir mit der Zeit die Mehrheit von denen überzeugen werden können, die heute gegen uns sind. Freilich werden wir nicht alle überzeugen.

Es ist selbstverständlich, dass die Linksradikalen oder die Leute, die die Kirche oder den Glauben bekämpfen, oder auch diejenigen, die einen europäischen Staat mit Hauptstadt in Brüssel oder Berlin errichten wollen, uns niemals akzeptieren werden. Jedoch hoffen wir, dass die Regeln der Demokratie in Europa respektiert und die Ergebnisse der Wahlen weiterhin von allen akzeptiert werden.