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Der neue deutsch-französische Vertrag: soll sich der Rest der EU betroffen fühlen?

Lesezeit: 6 Minuten

Von Olivier Bault.

Dieser Artikel wurde ursprünglich auf Kurier.plus veröffentlicht.

Europa – Der neue Vertrag über die „deutsch-französische Zusammenarbeit und Integration“, der am 22. Januar in Aachen, der einstigen Hauptstadt des fränkischen Reichs Karls des Großen, in dem beide Nationen ihren Ursprung sehen, unterzeichnet wurde, stellt keinen Durchbruch in ihren Beziehungen dar. Allerdings bezieht er sich auf den Élysée-Vertrag, der am 22. Januar 1963 unterzeichnet worden war, um eine neue Ära der Freundschaft zwischen den ehemaligen Erbfeinden einzuleiten. Obwohl der neue Vertrag von Aachen sich im Wesentlichen auf bilaterale Zusammenarbeit bezieht, sollten einige seiner Klauseln die Aufmerksamkeit anderer EU-Staaten erregen, insbesondere Polen und Ungarn,deren derzeitige Regierungen gleiche Behandlung für alle EU-Mitglieder und eine bessere Achtung ihrer nationalen Souveränität einfordern.

In manchen Aspekten ist der Vertrag von Aachen ein neuer Schritt in Richtung einer deutsch-französischen integrierten Führung in einem Europa der zwei Geschwindigkeiten. Mit dem Austritt Großbritanniens aus der EU werden Frankreich und Deutschland mehr Gewicht in Brüssel haben, insbesondere wenn sie ihre Handlungen aufeinander abstimmen. Der Artikel 2 des neuen deutsch-französischen Vertrags handelt nur davon: er bestimmt, dass beide Länder einander auf allen Ebenen vor jedem wichtigen europäischen Treffen konsultieren sollen und dass sie sich bemühen sollen, gemeinsame Positionen auszuarbeiten und die Reden ihrer Minister im Europäischen Rat abzustimmen. Die Ziele, die beide Länder im Rat verfolgen werden, sind im Artikel 1 festgesetzt: eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, eine tiefere Währungs- und Wirtschaftsunion bzw. mehr Steuer- und Sozialkonvergenz. Der Artikel 8 handelt von ihrer Zusammenarbeit auf UNO-Ebene, wo sie sich verpflichten, gemeinsame EU-Positionen zusammen auszuarbeiten.

Obwohl der neue Vertrag eine engere Zusammenarbeit zwischen den Armeen und Verteidigungsindustrien beider Länder vorsieht, wird die Bedeutung der NATO im Artikel 4 bekräftigt. Dies liegt in Übereinstimmung mit den Interessen und Positionen der Länder der NATO-Ostflanke wie Polen und Ungarn. NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg begrüßte daher den neuen deutsch-französischen Vertrag und hob hervor, dass „die deutsch-französische Zusammenarbeit während Jahrzehnte für die Sicherheit und Stabilität in Europa wesentlich gewesen“ seien.

Die Artikel 18 und 19 handeln von der gemeinsamen Förderung ihrer Politik gegen den Klimawandel und erwähnen insbesondere das Übereinkommen von Paris und das Ziel der Energiewende. Diese Klauseln werden Konsequenzen für Polen haben, dessen Energieversorgung weiterhin hauptsächlich auf Kohle beruht. Sie stellen keine Änderung der bisher von Frankreich und Deutschland vertretenen Positionen dar, sondern betten diese Positionen in einem von beiden Hauptakteuren in der EU unterzeichneten Vertrag ein.

Für manche Beobachter außerhalb Frankreichs und Deutschlands ist der neue von Präsident Emmanuel Macron und Bundeskanzlerin Angela Merkel unterzeichnete Vertrag weitgehend leer und vor allem symbolisch. Andere befürchten jedoch, dass er die derzeitige Kluft innerhalb der EU vertiefen werde und zu einer Konfrontation zwischen einer deutsch-französischen Achse und einer aus Italien und der Visegrád-Gruppe bestehenden Achse führen könne. Die Tatsache, dass die zwei größten EU-Länder sich verpflichten, wie ein einziges Land in Brüssel zu agieren, könnte sehr wohl andere Länder dazu verleiten, entweder sich dem deutsch-französischen Block anzuschließen oder einen Gegenblock zu bilden, um genügend Gewicht zu bekommen, um ihre Positionen verteidigen zu können. Es ist eine allgemeine Regel, dass eine Föderation oder Konföderation nicht allzu lange dauern wird, wenn eines ihrer Mitglieder zu mächtig im Vergleich zu den anderen wird, da es bald anfangen würde, die Befugnisse der Union selbst auszuüben und andere Länder im Namen der Union zu dominieren. Dieser neue deutsch-französische Vertrag, der unterzeichnet wurde, ohne andere EU-Mitglieder zu konsultieren, könnte daher eine schon geteilte Union weiter schwächen.

Der neue Vertrag stoß ebenfalls in Frankreich und Deutschland auf Kritik. Auf deutscher Seite – wie dies bei allen Anstrengungen in Richtung mehr europäische Integration ist – erweckt dieser Vertrag über die deutsch-französische Zusammenarbeit und Integration Befürchtungen, dass Deutschland unter Umständen das chronische Haushaltsdefizit anderer Länder finanzieren müsse. Diese Befürchtung wurde u.a. vom Vorsitzenden der rechten Alternative für Deutschland (AfD), Alexander Gauland, ausgesprochen, der sagte: „Wir als Populisten bestehen darauf, dass sich jeder zuerst um seinen eigenen Laden kümmert. Aber wir wollen nicht, dass Macron ihn mit deutschem Geld renoviert.“ Und, wie Die Welt notierte, während sie die Tatsache betonte, dass dieser neue Vertrag hinter Macrons föderalistischen Ambitionen für Europa zurückbleibt, greift die Antwort Frankreichs auf die Proteste der Gelbwesten auf mehr Schulden zurück und zeigt, wie wohlbegründet die deutschen Befürchtungen sind. Auf französischer Seite wurde von der Vorsitzenden des Rassemblement National (RN), Marine Le Pen bzw. auch vom Vorsitzenden von Debout la France (DLF), Nicolas Dupont-Aignan, gesagt, dass der in Aachen unterzeichnete Vertrag bedeuten würde, dass Frankreich seinen Sitz im UNO-Sicherheitsrat mit Deutschland teilen und auf Teile ihrer Souveränität über die einst umkämpften Grenzländer Elsaß und Lothringen verzichten solle. Dies resultiert davon, dass beide Länder vorhaben, ihre Positionen im Sicherheitsrat abzustimmen – von dem Frankreich ein ständiges Mitglied ist – bzw. grenzüberschreitende Zweisprachigkeit und Zusammenarbeit unter der Aufsicht der jeweiligen regionalen Behörden fördern wollen. Obwohl keine bestimmte Region erwähnt wurde, scheint dies aus französischer Sicht vor allem auf das Elsaß und Lothringen abzuzielen. Manche hinterfragen auch die Verfassungsmäßigkeit des Begriffs einer „souveränen“ Europäischen Union, der im neuen Vertrag beinhaltet wird. Außerdem werden Emmanuel Macron und seine Partei, La République en Marche (LREM) dafür kritisiert, dass sie ihr föderalistisches Projekt durch die deutsch-französische „Zusammenarbeit und Integration“ ohne öffentliche Debatte und trotz der Tatsache vorantreiben, dass eine Mehrheit der Franzosen gegen dieses europäische Föderalismus sind, der 2005 beim Referendum über die „EU-Verfassung“ von den Wählern förmlich abgelehnt wurde.

Die in Deutschland und Frankreich ausgesprochenen Befürchtungen und Kritiken zeigen, dass diejenigen, die in diesem neuen bilateralen Vertrag die Bemühung beider Länder sehen, gemeinsam die Europäische Union zu dominieren, durchaus Recht haben könnten. Das Projekt eines neuen Vertrags wurde im Juni 2018 in einer gemeinsamen vom französischen Präsidenten und der bundesdeutschen Kanzlerin in Meseberg unterzeichneten Erklärung angekündigt. In dieser Erklärung erwähnten beide führende Politiker ebenfalls die Notwendigkeit eines EU-Sicherheitsrats und einer Mehrheitsklausel für die in Brüssel getroffenen Entscheidungen in immer mehr Bereichen, einschließlich der Außen- und der Sicherheitspolitik. Die Meseberger Erklärung erwähnt auch die Notwendigkeit einer gemeinsamen EU-Asylpolitik mit einem europäischen Asylamt, das für die Asylverfahren an den Außengrenzen zuständig sei, bzw. eines umfassenderen Mandats für die Europäische Agentur für die Grenz- und Küstenwache (Frontex), die zu einer echten europäischen Grenztruppe werden solle, mit der Aufgabe, die Außengrenzen zu überwachen. Ansonsten hatten sich Macron und Merkel in ihrer Erklärung von Juni 2018 darauf verpflichtet, den Gedanken einer Harmonisierung der Körperschaftsteuer auf EU-Ebene zu fördern. Sie bekräftigfen ebenfalls ihren Willen, die Währungsunion zu vertiefen bzw. einen gemeinsamen Haushalt für die Eurozone ins Leben zu rufen. Sie versprachen, sich für eine kleinere Europäische Kommission mit weniger Kommissaren als Mitgliedstaaten bzw. für die Einführung von supranationalen Listen ab 2024 für die Europawahlen einzusetzen.

Obwohl diese spezifischen Ziele im am 22. Januar in Aachen unterzeichneten deutsch-französischen Vertrag nicht beinhaltet werden, wird jedoch nunmehr erwartet, dass Frankreich und Deutschland gemäß diesem Vertrag handeln werden und diese Ziele verfolgen, die früher in Brüssel festgelegt wurden.

Zum Thema Grenzüberwachung sprach der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán im September 2018 seine kategorische Opposition aus: „Angela Merkel hat gesagt, dass der Plan sei, dass dieser Teil der Grenzüberwachung von den Grenzstaaten an Brüssel übertragen werden solle, was bedeutet, dass sie uns die Schlüssel des Tores wegnehmen wollen.“ Solange Salvinis Lega Nord Mitglied der in Rom regierenden Koalition ist, darf man erwarten, dass Italien eine ähnliche Linie vertrete, genauso wie die anderen Mitglieder der V4. Mit einer ungleichen und ideologischen Angehensweise im Bereich Budgetdisziplin seitens der Europäischen Union konfrontiert – die das für 2019 im italienischen Haushaltsplan mit 2,4% des BIP festgelegte Defizit ablehnte, aber im Dezember die Erhöhung des im französischen Haushalt geplanten Defizits von 2,8% auf 3,2% mit der Begründung bewilligte, dass man Macron helfen solle, weil er „eine starke Stütze der Union“ bleibe –, könnte ein erbostes Italien auch wenig Begeisterung für eine immer enger werdende Währungsunion zeigen, die bedeuten würde, dass immer Kontrolle an Brüssel übertragen werde. Von Polen und Ungarn aus betrachtet würde dieser Gedanke einer engeren Union zwischen den Ländern der Eurozone zu einem Europa der zwei Geschwindigkeiten führen, mit einer Kernunion, von der sie ausgeschlossen wären. Die italienischen rechten Politiker und ein Teil der italienischen Presse sagen vom neuen deutsch-französischen Vertrag, dass dieser gegen Italien und gegen die „Populisten“ gerichtet sei; ähnliche Bemerkungen wurden von deutschen und französischen Mainstreammedien geäußert, für die die Anführer von Fidesz und PiS in diese Kategorie fallen. Die Allianz zwischen Macron und Merkel wird daher als eine Antwort auf die Schritte des italienischen Innenministers Matteo Salvini, Anführer der rechten Lega Nord, bewertet, seine Beziehungen mit Viktor Orbán bzw. neulich mit Jarosław Kaczyński zu intensivieren. Eine solche Interpretation der Konfrontation für den neuen deutsch-französischen Vertrag wurde ebenfalls von den meisten polnischen und ungarischen liberalen Medien zum Ausdruck gebracht.

Dieser neue von Emmanuel Macron und Angela Merkel unterzeichnete Vertrag der „Zusammenarbeit und Integration“ soll noch von den Parlamenten beider Länder ratifiziert werden, was aufgrund ihrer derzeitigen Zusammenstellung nicht allzu schwierig sein sollte. In Aachen warnte der Präsident des Europäischen Rates Donald Tusk, dass eine tiefere Zusammenarbeit zwischen bestimmten EU-Staaten keine Alternative auf die EU insgesamt sein dürfe, doch bezog er sich ebenfalls auf den neulich ermordeten Bürgermeister von Danzig als einen Anhänger Europas, der Quoten von Asylwerbern befürwortet hatte, wogegen alle V4-Regierungen sich ausgesprochen haben. Tusk sagte, dass es östlich von Deutschland viele Leute gebe, die sich danach sehnen, in einem vereinten Europa zu leben, und dessen Worte können als einen Aufruf an die deutsch-französische Allianz in Brüssel verstanden werden, dass sie sich gegen das von Viktor Orbán und Jarosław Kaczyński gewünschte Europa richten solle.

Es wird viel davon abhängen, inwiefern das gemeinsame Auftreten Deutschlands und Frankreichs in Brüssel zu einer allgemeinen Regel gemäß dem in Aachen unterzeichneten Vertrag werde, bzw. ob es die Haltung der Konfrontation von Präsident Macron oder die pragmatische Herangehensweise von Bundeskanzlerin Merkel befolgen wird, deren Land ein größeres Handelsvolumen mit den Vier von Visegrád hat als Frankreich.