Von Olivier Bault.
Polen – In Polen wehrt sich die parlamentarische Demokratie gegen die von der EU geförderten Richterherrschaft. Bloß zwei Monate nach den Parlamentswahlen, die der von der sozial-konservativen Partei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) geführten Koalition der Vereinigten Rechten ermöglichten, ihre absolute Mehrheit im Sejm zu verteidigen, scheint der Konflikt in Polen – wie man es vorhersehen konnte – umso heftiger wieder angefacht worden zu sein. Am 18. Dezember war die Opposition wieder auf die Straße gegangen und meinte dabei, die Unabhängigkeit der Justiz gegen einen Gesetzesentwurf des PiS verteidigen zu wollen, der ihrer Meinung nach das Ende der Demokratie bedeuten solle. Ihrerseits adressierte die Vizepräsidentin der Europäischen Kommission und EU-Kommissarin für Justiz, Verbraucherschutz und Gleichstellung, Věra Jourová, in der Woche vor Weihnachten einen Brief an die polnischen Behörden mit der Bitte, die parlamentarische Debatte über den Gesetzesentwurf zu suspendieren, gegen den die Opposition demonstriert.
Rückkehr zum Ausgangspunkt also, sprich zur Strategie der Straße (mit den Demonstrationen) und des Auslands (Brüssel) für die liberale und linke Opposition. Der Sejm hat in der Tat am 20. Dezember den neuen Gesetzesentwurf bezüglich der Organisation der Gerichte verabschiedet. Die Opposition wird zwar im Januar im Senat dagegen stimmen können, doch wird allerdings der Sejm das letzte Wort haben. Wenn er Rechtskraft erlangt, wird dieser Text ermöglichen, die Richter (durch eine Geldstrafe, eine Versetzung oder eine Suspendierung) sehr hart zu bestrafen, die sich über ihre Kompetenzen hinaus erlauben, die Rechtmäßigkeit des vom PiS reformierten Landesrats für Gerichtsbarkeit (KRS) und der neulich innerhalb des Obersten Gerichts gegründeten Disziplinarkammer in Frage zu stellen. Die Richter werden auch ihre vergangenen und gegenwärtigen Verbindungen mit politischen Parteien bzw. Vereinen sowie die von ihnen auf sozialen Netzwerken benutzten Pseudonymen offenbaren müssen.
Die Präsidentin des Obersten Gerichtshofs (praktisch ein Kassationsgericht), Małgorzata Gesdorf, die im Widerstand gegen die vom PiS durchgeführten Reformen des Justizwesens sehr engagiert ist, hat öffentlich die Richter der Disziplinarkammer gebeten, ihre Tätigkeit zu suspendieren. Seinerseits hat der Vorsitzende des Richterverbands Iustitia angekündigt, dass er bei der Vorladung der Disziplinarkammer nicht erscheinen werde, die sich für seine apriori mit seinem Amt als Richter unvereinbare politische Aktivität interessiert. Darüber hinaus behaupten manche unbedeutende Richter von lokalen Gerichten, die Urteile in Frage stellen zu können, die von ihren Kollegen gesprochen wurden, deren Ernennung dem Staatspräsidenten vom reformierten Landesrat für Gerichtsbarkeit vorgeschlagen wurde, denn ihrer Meinung nach seien diese Ernennungen wegen eines Mangels an Legitimität des Landesrats in ihren Augen nicht rechtsgültig.
Das ist das Verhalten, das demnächst sanktioniert werden kann, wenn der derzeit vor dem Sejm liegende Text schließlich verabschiedet wird, und nicht – wie manche oppositionelle bzw. ausländische Medien behaupten – die bloße Tatsache, daß jemand die PiS-Reformen kritisiere.
Was einem Teil der polnischen Richter ermöglicht, die Rechtmäßigkeit von reformierten oder vom Parlament nach der PiS-Machtübernahme 2015 ins Leben gerufenen Justizbehörden zu negieren, ist ein Urteil, das von drei Richtern (von insgesamt 120) der Kammer für Arbeit und Sozialversicherung des Obersten Gerichts gesprochen wurde. Jene drei Richter haben am 5. Dezember dekretiert, dass der reformierte Landesrat für Gerichtsbarkeit und die neue Disziplinarkammer dem Grundsatz der Unabhängigkeit und Unbefangenheit der Justiz, wie sie ganz allgemein in den europäischen Verträgen erwähnt werden, nicht entsprechen und dass – da europäisches Recht Vorrang vor nationalem Recht habe – diese beiden Institutionen demnach nicht als rechtmäßige Institutionen des Justizwesens betrachtet werden können.
Jene drei Richter stützten ihre Entscheidung auf ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 19. November im Bezug auf Anträge auf Vorabentscheidungen besagter Kammer für Arbeit und Sozialversicherung. Diese Anträge waren gerade im August 2018 eingereicht worden, um den EUGH dazu zu bringen, sich über die Rechtmäßigkeit des Landesrats für Gerichtsbarkeit und der Disziplinarkammer auszusprechen, obwohl die Organisation des Justizwesens zu den EU-Kompetenzen nicht gehört. Nun hat der EUGH in dessen Urteil vom 19. November darauf hingewiesen, dass es den Urhebern der Anträge auf Vorabentscheidungen – in dem Fall der Kammer für Arbeit und Sozialversicherung beim polnischen Obersten Gericht – obliege, zu entscheiden, ob der Landesrat bzw. die Disziplinarkammer den in den europäischen Verträgen erwähnten Anforderungen der Unabhängigkeit und Unbefangenheit genügen. Allerdings ist die Beurteilung der Rechtmäßigkeit dieser beiden Institutionen eine dem Verfassungsgericht vorbehaltene Kompetenz, das im März 2019 die Rechtmäßigkeit des neuen Ernennungsverfahrens der Mitglieder des Landesrats für Gerichtsbarkeit bestätigt hat.
Was heute in Polen stattfindet, illustriert vollkommen die Ausartung der europäischen parlamentarischen Demokratien zu einer Art Richterherrschaft bzw. die Art und Weise, wie diese Entwicklung von den europäischen Institutionen gefördert wird. Nach der Meinung des EUGH könnten somit drei Richter (von insgesamt 120) des Kassationsgerichts eines Mitgliedsstaats dekretieren, dass durch von einem gewählten Parlament verabschiedete und vom Verfassungsgericht bestätigte Gesetze reformierte oder gegründete Justizbehörden angesichts der in den europäischen Verträgen erwähnten allgemeinen Grundsätze nicht rechtmäßig seien. Ist es wirklich die Art und Weise, wie repräsentative Demokratie funktionieren soll?