Der Leser wird sich zweifellos an den Aufschrei erinnern, der durch die Schließung der polnischen Grenzen und die ungarische Entscheidung ausgelöst wurde, der Regierung eine Reihe außerordentlicher provisorischer Befugnisse zu erteilen, um die Pandemie bestmöglich zu bewältigen. Selbst die europäischen Institutionen zeigten sich wie üblich „besorgt“ und befürchteten eine „Aushöhlung“ der Rechtsstaatlichkeit.
Und trotzdem haben nur wenige Wochen später die meisten europäischen Staaten ganz ähnliche Maßnahmen ergriffen, ohne dass doch jene Regierungen oder Medien, die so schnell bei der Hand waren, Ungarn oder Polen zu kritisieren, ihre „Verurteilungen“ zurückgenommen hätten. Der Trend hat sich sogar umgekehrt: Während die Visegrád-Länder derzeit versuchen, den Lockdown so weit wie möglich zu lockern, verschärfen die westlichen Regierungen zunehmend den Ton.
Die französische Regierung von Jean Castex versucht sogar, sich dauerhaft außerordentliche Vollmachten zu verschaffen, damit sie nicht mehr auf eine regelmäßige parlamentarische Bestätigung angewiesen ist, insbesondere bei der Einschränkung der Freiheitsrechte des Einzelnen „im Interesse aller“; und die Drohung, dass Bürger, die sich weigern, sich „freiwillig“ impfen zu lassen, dauerhaft von einem großen Teil der Annehmlichkeiten des täglichen Lebens und ihrer Grundrechte ausgeschlossen werden, hängt schwer über ganz Europa.
Wäre es in dieser kritischen Situation, in der nicht nur die Bürger, sondern oft genug auch die politischen Parteien selbst zunehmend geteilter Meinung über den weiteren Weg sind, nicht das Mindeste, wenn man die meist voreingenommenen Meinungsumfragen beiseitelassen und endlich öffentlich und objektiv die Meinung der Bürger einholen würde?
Schließlich gefällt sich Europa doch sonst so oft in seiner Rolle als „letzter Hüter“ von Demokratie und Menschenrechten.
Doch wird man einen solchen Schritt vergeblich suchen; schlimmer noch: Selbst die zahlreichen Demonstrationen – oft mit Zehntausenden von Bürgern – gegen einen Lockdown, der den wirtschaftlichen Wohlstand und das demokratische Gleichgewicht des Westens nachhaltig zerstört, bleiben ohne jegliche politische Antwort, wenn sie nicht sogar verboten, aufgelöst oder von der Presse als „rechtsextreme“ Kundgebungen verunglimpft werden.
Ausgerechnet in Ungarn – jenem „illiberalen“ Staat, der von den selbst nur mit fragwürdiger demokratischer Legitimität ausgestatteten europäischen Institutionen mit zahlreichen Sanktionen bedroht wird – entschied man sich nun dafür, gerade eine solche Konsultation zu organisieren. So haben die Ungarn seit Mitte Februar die Möglichkeit, so unterschiedliche Fragen zu beantworten wie: Sollte der Lockdown schrittweise oder erst am Ende der Pandemie abgebaut werden? Sollten geimpfte oder immunisierte Personen Anspruch auf Befreiung von Einschränkungsmaßnahmen bekommen? Sollten Ausländer, die Ungarn besuchen wollen, verpflichtet werden, Impf- oder Immunitätsbescheinigungen mit sich zu führen? Welche Geschäfte sollten zu welchem Zeitpunkt der Pandemie wieder öffnen dürfen? usw.
Natürlich handelt es sich hierbei nur um eine Volksbefragung, nicht um ein bindendes Referendum. Und wir alle konnten in den letzten Monaten sehen, wie sich die Stimmung in der Bevölkerung angesichts oft sehr selektiver Statistiken und eindeutig parteiischer Medien innerhalb weniger Tage drastisch ändern kann. Doch dies sind nun einmal eben die Schwächen eines jeden demokratischen Systems: Im Gegensatz zu einer Technokratie entscheiden die Bürger als Gesamtheit, was zu tun sei – und nicht ein Gremium von einigen wenigen „Experten“.
Freilich, nur wenige von uns sind Virologen oder Ärzte. Aber nur wenige von uns sind auch Militärstrategen, internationale Diplomaten, Steuerexperten oder Doktoren der Rechtswissenschaften, und dennoch treffen wir in regelmäßigen Abständen durch unsere demokratische Entscheidung für bestimmte Kandidaten und politische Parteien sehr präzise Entscheidungen über unsere Verteidigungspolitik, unsere Außenpolitik, unsere Steuerpolitik, unsere Rechtspolitik usw.
Das Volk im Namen seiner „wissenschaftlichen Inkompetenz“ von der Ausübung seines freien demokratischen Entscheidungsrechts in einer so grundlegenden Frage wie der nach der Aufrechterhaltung eines wirtschaftlich selbstmörderischen Lockdowns und der dauerhaften Spaltung der Gesellschaft in Geimpfte und Nichtgeimpfte auszuschließen, käme einer Infragestellung der gesamten demokratischen Idee gleich und würde unsere Staaten in Technokratien oder Oligarchien verwandeln, in denen die politische Rolle der Bürger sich auf die Akklamation der jeweiligen Regierung beschränken würde, notdürftig verbrämt durch den Almosen kommunaler Selbstverwaltung.
Die Tatsache, dass ausgerechnet eine sogenannte „illiberale“ Demokratie den „liberalen“ Demokratien den Weg zeigt, sollte uns vielleicht zum Nachdenken über die gefährlichen Entwicklungen anregen, die sich in Westeuropa seit einiger Zeit vollziehen.