Polen/Weißrussland – Das Szenario dieses Falles, der seit gestern in der internationalen Presse für viel Wirbel sorgt, ist eines James-Bond-Films würdig. Eine in Polen registrierte Boeing 737 der irischen Fluggesellschaft Ryanair befand sich auf einem Flug von Athen in die litauische Hauptstadt Vilnius über Weißrussland, als sie wenige Minuten vor Erreichen der litauischen Grenze von einer MiG-29 der weißrussischen Luftwaffe, die eigens vom Luftwaffenstützpunkt Baranovitschy aufgestiegen war, abgefangen und zum internationalen Flughafen Minsk umgeleitet wurde, um dort wegen einer angeblichen Bombendrohung gründlich durchsucht zu werden. An Bord des Flugzeugs wurde der weißrussische Oppositionelle Roman Protassewitsch – ehemaliger Redakteur von Nexta, dem wichtigsten weißrussischen Oppositionsmedium, der in Polen politisches Asyl genießt, und den die weißrussischen Behörden beschuldigen, Massenunruhen organisiert zu haben [ein Delikt, das mit 15 Jahren Gefängnis bestraft wird] – sofort vom KGB (weißrussischer Geheimdienst) verhaftet. Acht Stunden später – es wurde keine Bombe oder ein ähnlicher Gegenstand gefunden – konnten die anderen Passagiere, die dies wünschten, ihren Flug nach Vilnius fortsetzen.
Während die wichtigsten westlichen Kanzleien schnell auf diese „inakzeptable Aktion“ (Europäische Kommission) reagierten, die Griechenland als „staatliche Luftpiraterie“ bezeichnete, sind die Reaktionen in Polen, dem Nachbarstaat Weißrusslands und Speerspitze der westlichen Unterstützung für die weißrussische Opposition, besonders stark.
Morawiecki: „Ein noch nie dagewesener Akt des Staatsterrorismus“
Der polnische Premierminister Mateusz Morawiecki, der den Fall mit seinen europäischen Amtskollegen und dem Präsidenten des Europäischen Rates Charles Michel heute besprechen wird, sagte gestern Abend:
„Ich verurteile aufs Schärfste die Inhaftierung von Roman Protassewitsch durch die weißrussischen Behörden nach der Entführung eines Ryanair-Flugzeugs […] Die Entführung eines zivilen Flugzeugs ist ein beispielloser Akt des Staatsterrorismus, der nicht ungestraft bleiben darf
[…] Wir fordern die sofortige Freilassung von [Roman] Protassewitsch durch die weißrussischen Behörden, sowie von Borys, Poczobut und anderen polnischen und belarussischen Aktivisten, die [von den Minsker Behörden] illegal festgehalten werden. Wir fordern auch ein Ende des harten Vorgehens gegen unabhängige Medien und die [Zivil-]Gesellschaft.“ In der Zwischenzeit hat der stellvertretende polnische Außenminister Marcin Przydacz den weißrussischen Geschäftsträger in Warschau, Aleksander Tschesnowski, vorgeladen, um gegen die Entführung eines de facto polnischen Flugzeugs zu protestieren – eine Aktion, die „die Merkmale eines staatsterroristischen Akts trägt [und] den Flugverkehr [sowie] das Leben der Passagiere und der Besatzung bedroht […] Die internationale Gemeinschaft kann nicht zulassen, dass solche Aktionen ohne eine entschiedene Antwort stattfinden.“
Duda: „Die internationale Gemeinschaft darf nicht gleichgültig bleiben“
Der Europaabgeordnete Patryk Jaki (PiS) glaubt, dass dieses Ereignis eine Folge der Aufhebung der US-Sanktionen gegen das Gaspipeline-Projekt Nord Stream 2 sei und dass der russische Präsident Wladimir Putin dahinter stecke: „Es ist offensichtlich, dass Putin hinter den Ereignissen in Weißrussland steckt. Warum gerade jetzt? Er hat gesehen, wie sich die USA und die EU gegenüber Nord Stream 2 verhalten, und hat beschlossen, dass er das kann.“ Angesichts der Schwere dieses beispiellosen Falles äußerte sich auch der polnische Präsident Andrzej Duda zu diesem Thema:
„Die Ereignisse in Weißrussland im Zusammenhang mit der erzwungenen Landung eines Verkehrsflugzeugs sind ein weiteres Beispiel für die Verletzung der grundlegenden Prinzipien des Völkerrechts. Die internationale Gemeinschaft darf nicht gleichgültig bleiben. Es ist notwendig, gegenüber den weißrussischen Behörden entschlossen zu handeln.“
Ähnliche Reaktionen in Prag und Pressburg, zwei weiteren Hauptstädten der Visegrád-Gruppe: Der tschechische Außenminister Jakub Kulhánek hat den weißrussischen Botschafter in Tschechien einbestellt:
„Wir befürchten, dass das weißrussische Regime das Gesetz über den internationalen Luftverkehr missbraucht hat, um seine Gegner zu verfolgen. Wir fordern eine Untersuchung des Falles und die sofortige Freilassung von Roman Protassevitsch und allen Passagieren des Ryanair-Fluges nach Vilnius,“
meldete er auf Twitter. Sein slowakischer Amtskollege Ivan Korčok verurteilte „die Zwangslandung eines zivilen Fluges […] unter dem politischen Vorwand einer terroristischen Bedrohung“ und forderte „die sofortige Freilassung des Flugzeugs und aller Passagiere“. Die ungarische Regierung ihrerseits hat nicht offiziell reagiert.