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Lesezeit: 12 Minuten

Von Modeste Schwartz.

Ungarn – Analyse der Wahlergebnisse infolge des dritten Wahlsiegs in Folge für Viktor Orbán am 8. April 2018.

Warum sich freuen?

Fangen wir mit einer zynischen Feststellung: die Fidesz-Strategen haben ihr Honorar wohl verdient. Sie sind offensichtlich davon ausgegangen (was die Tatsachen am 8. April bestätigt haben), dass die Partei in der Wählerschaft mit der beinahe bedingungslosen Unterstützung ihres harten Kerns rechnen kann, und dass ihre durchaus positive Regierungsbilanz ihr auch die Unterstützung einer weniger politisierten, weniger begeisterten, doch loyalen Schicht garantiert: (die Analyse per Altersklasse zeigt, dass die 30 jährigen mehr für den Fidesz stimmen als die jüngeren Wähler: gewöhnlich sind sie verheiratet, Eltern oder planen es zu werden, sie neigen dazu, ihre konkrete materielle Situation besser zu analysieren). Das Ziel des Wahlkampfs war es also, eine etwaige Erweiterung der Wählerbasis der Opposition zu kompensieren (die schließlich nicht stattfand – doch haben die Herren Soros und Simicska alles dafür getan), indem sie Teile der Öffentlichkeit mobilisierten, deren politische Kultur sehr gering ist. Um dies zu erreichen sind sie die riskante Wette eingegangen, potentiell erfolgreiche Themen (wie eben die ausgezeichnete Bilanz der beiden vergangenen Amtsperioden – vor allem im Vergleich mit der Zeit vor 2010) zu vernachlässigen, um alles in die schwere Artillerie der wiederholten und oft zu vereinfachten kulturellen Argumentation zu investieren (deren Grenzen wir hier festgestellt hatten). Somit, während sie auf „die Dummheit der Ungarn“ zu spekulieren schienen, haben sie in Wahrheit paradoxerweise auf den Verstand ihres harten Kerns und der realistischen Schicht gewettet, die nicht nur die Lehren aus den 20 letzten Jahren zu ziehen, sondern – darüber hinaus – die „Schönheitsfehler“ der Wahlkampfkommunikation des Fidesz zu „verzeihen“ wußten. Im Vergleich mit dem französischen Volk, das die Medien vor nicht mal einem Jahr wirksam dazu brachten, einen Mann an die Macht zu bringen, der die tatsächliche Unterstützung von nur 10% der Franzosen genießt, kommt das ungarische Volk also gestärkt aus dieser Wahlprüfung, im Laufe derer es Verstand und politische Reife bewiesen hat.

Rennen wir auch noch eine weitere offene Tür ein: mit einer seit über 15 Jahren unerreichten Wahlbeteiligung haben die Wahlen vom vorigen Sonntag eine so exemplarische demokratische Übung dargestellt, dass man sich fragen kann, ob die Opposition in Zukunft – wie in Russland – nicht eher darauf wetten wird, die Wahlen zu sabotieren, indem sie zur Enthaltung aufruft und dabei hofft – was die gleichgesinnte westliche Presse immer vollbringt – die Abwesenden „reden zu lassen“. Kindisch und autistisch deuten die ersten Reaktionen der Wahlverlierer vom 8. April in diese Richtung: sie sprechen zwischen den Zeilen von Wahlbetrug, wobei der einzige Zwischenfall, den sie melden können, ein Wahllokal für Studenten betrifft, die weit weg von ihrem amtlichen Wohnsitz leben, und wo eine Warteschlange nach der Schließung der anderen Wahllokale um einige Stunden den Beginn der Auszählung und die Bekanntgabe der ersten Ergebnisse verzögert hat – aber ohne dass ein einziger anwesender Wähler daran gehindert wurde (auch über die Zeit hinaus) seine Stimme abzugeben! Es ist auch auf diese Art der Strategie der verbrannten Erde, dass das Interview schließen läßt, das Márton Gulyás – der halbamtliche Wahlkampfleiter der Geisterkoalition, die Orbán aus dem Amt jagen wollte – am 10. April gegeben hat (wir sprachen schon hier darüber). Konkret betrachtet deutet das russische Vorbild an, dass die Annahme einer solchen Strategie für die „Zivilgesellschaft“ sowas wie die Bereithaltung einer Armee darstellt: da er eine Offensive als unmöglich beurteilt, unterhält der Angreifer nur ein paar Truppen an der Grenze des Angegriffenen und hofft auf bessere Tage, die ihm eine Gelegenheit zur Reaktivierung seiner Armee bringen sollen.

Allerdings hat der Fidesz unter diesen plebiszitären Bedingungen 500.000 Wähler zu den 2.100.000 hinzugefügt, die 2014 für ihn gestimmt hatten, während die anderen Parteien sich nicht vom Fleck bewegten – so dass es auch unehrlich ist, das ungarische Wahlrecht (mit einem einzigen Wahlgang – in Europa übrigens nicht unselten) zu beanstanden, das die Parlamentsmehrheit des Fidesz zwar größer machte, aber nicht erst schaffte. Mit soviel Stimmen bliebe Viktor Orbán in allen demokratischen Staaten der Welt an der Macht und die gestrige „Protestdemonstration“ in Budapest war nicht mehr und nicht weniger als eine antidemokratische Demonstration; sie hat übrigens nur ein paar zehntausend Menschen versammelt (für eine Bevölkerung von 10 Millionen Ungarn), sprich die 10.000 Aktivisten und Sympathisanten mit denen die Globalisten insgesamt bei jedem Anlaß in Budapest rechnen können (wie dies eines der schlimmsten Produkte der Anti-Orbán-Propaganda des französischen Fernsehens zugegeben hat), sowie ca. 3.000 Hilfstruppen von der Jobbik. Ite missa est!

Weisen wir von vorn herein auf den Hauptvorteil dieser Supermehrheit hin: im Falle einer größeren internationalen Krise (einschließlich wenn die EU tiefgreifend restrukturiert werden und/oder implodieren sollte) im Laufe dieser neuen Amszeit wird Viktor Orbán – mehr als jeder andere Politiker in der Region – den Rücken frei haben, wenn er im Namen Ungarns sprechen und verhandeln wird.

Die Opposition demonstriert ihre Ablehnung der Wahlergebnisse am 14. April 2018 auf dem Platz vor dem Parlament in Budapest. Bild: Visegrád Post

Warum sollte man besorgt sein?

Zusätzlich zum erwarteten Wahlsieg stellt die göttliche Überraschung der Zweidrittelmehrheit ein in den EU-Mitgliedsstaaten praktisch unerreichtes politisches Kapital in den Händen vom Fidesz dar. Bleibt zu erfahren, ob er wissen wird, den möglichst besten Gebrauch davon zu machen. Die Analyse der Amtszeit- und Wahlkampfbilanzen dieser nunmehr vollends professionalisierten Partei regt einen zwar zum Optimismus an, allerdings kann es nützlich sein, einige der Fallen Revue passieren zu lassen, die sie bis 2022 auf ihrem Weg finden wird.

Es ist erstens zu wünschen, dass die Parteifunktionäre – die Orbán übrigens teilweise erneuern bzw. u.a. verjüngern zu wollen scheint – sich dessen wohl bewußt werden, dass die Fidesz-Basis sich genauso verändert hat wie sie breiter geworden ist. Die Anonymität der Wahl macht freilich jede präzise Messung des Phänomens unmöglich, aber die zahlreichen individuellen Zeugenaussagen lassen keinen Zweifel daran, dass:

1) Viele Wähler der „historischen Jobbik“ (vor dem „liberal-konservativen“ und europhilen Linienwechsel des Wendehalses Gábor Vona, der jetzt in Pension geschickt worden ist, wie wir dies vorgesehen hatten) sind nunmehr Fidesz-Wähler; nachdem er während des Wahlkampfes sehr diskret geblieben war, scheint die Nr. 2 der Jobbik, László Toroczkai, offensichtlich die Zügel in die Hand nehmen zu wollen, um die suizidale Wende rückgängig zu machen, die Gábor Vona die Initiative genommen hatte, vor ca. zwei Jahren einzuleiten. Davon ausgehend, dass er das schafft, wird die Rückholung der enttäuschten Wähler schwierig sein. Und falls diese wiederum gelingen sollte, wird sie mit sich bringen, diejenigen zu verlieren, die die Partei nun aufgrund ihres neulichen „Linksrucks“ gewonnen hatte.

2) Berücksichtigt man, dass die Wählerbasis der Jobbik 2014 etwas über einer Million Wähler stand, auch wenn man davon ausginge, dass sie nur 25% davon an den Fidesz verloren hat, kommt man zum Schluß, dass der Fidesz, außer die enttäuschten Jobbik-Wähler, „nur“ 250.000 neue Wähler überzeugen konnte – was angesichts seines riesigen Wahlkampfaufwands in den letzten Monaten, um die ungarische Gesellschaft bis in die entlegensten Dörfer zu repolitisieren, ein ziemlich bescheidenes Ergebnis darstellt. In Wirklichkeit ist es viel vernünftiger davon auszugehen, dass der Fidesz tatsächlich neue Wähler überzeugt hat (was die rekordartige Wahlbeteiligung erklärt), während er die „historische Jobbik“ abgesaugt hat – aber diese wahscheinliche Erklärung zwingt uns einzuräumen, dass er auch Wähler verloren hat: schätzungsweise zwischen 50.000 und 200.000, sprich bis zu 10% seiner vorigen Wählerbasis – das heißt mehr als das, womit man aufgrund des bloßen „Machtverschleißes“ rechnen könnte.

3) Wer sind diese Fahnenflüchtigen? Trotz der verdächtigen Proteste der fidesznahen Presse, die darauf bedacht ist, die Anklage der Opposition zu kontern, der zufolge „der Fidesz das Land gespaltet hätte“, handelt es sich wahrscheinlich vor allem um ein urbanes, ausgebildetes und dem Westen höriges Publikum: diese „intellektuell antitotalitäre“ Basis, die eben die Speerspitze des Fidesz in den 1990er Jahren bildete. So der Rechtsliberale Gábor Sebes, Fidesz-Mitglied, der, während er vorgibt, sich über den Wahlsieg zu freuen, Viktor Orbán den Kuss des Judas in der Form eines Facebook-Eintrags gibt, der die gesamte „Anti-Korruptions-Argumentation“ der liberalen Linke auflistend übernimmt, und den Fidesz daran erinnert, wie sehr „die gerechte Konkurrenz einen zentralen Wert in Amerika besitzt“. Wetten wir, dass Viktor Orbán (der immer noch darauf weartet, dass Donald Trump ihm die Höflichkeit von vor anderthalb Jahr erwidere und ihn ebenfalls gratuliere) diesen Rat angemessen würdigen wird. Die Opposition hat zwar Unrecht, die Schuld dafür dem Fidesz spezifisch zuzuschieben, aber der Spalt zwischen Budapest und der Provinz ist reell – und dies übrigens nicht erst seit 1990 oder gar 1948 bzw. 1918.

4) Fügen wir nun das hinzu, worüber die ungarische rechte Presse sich hütet zu reden: die marginalen Transfers, die seit 2010 mathematisch von der Wählerbasis der heute aussterbenden doch bis in die Mitte der 2000er Jahre die politische Landschaft dominierenden Ungarischen Sozialistischen Partei (MSZP) haben stattfinden müssen. Diese Transfers sind durchaus logisch, da der Fidesz trotz seiner betonten antikommunistischen Rhetorik seit 2010 (u.a. im Bereich der Infrastruktur, der Pensionen und der Privatisierungen) viele liberale Erneuerungen der 1990er Jahre wieder aufgegeben hat, was für diejenigen, die der MSZP nicht der marxistischen Ideologie sondern der Klasseninteressen wegen treu geblieben waren, durchaus eine Genugtuung gewesen ist. Mitten im eisigen Schweigen der Presse beider Lager hat man der allmählichen Spaltung der ungarischen Linke beigewohnt: diejenigen, die mehr dem relativen Wohlstand unter der Regierung von János Kádár nachhingen als der kommunistischen Ideologie selber, und somit von der antikommunistischen Rhetorik des Fidesz absehen konnten, haben sich ihm angeschlosen; die anderen haben sich damit abgefunden, automatisch für eine MSZP stimmen zu sollen, die zu einer liberal-libertären Partei westlicher Prägung geworden ist, und weder ihre Klasseninteressen, noch die Kultur ihrer Klasse (die nicht besonders „no borders“ oder LGBT ist) mehr vertritt. Der einzige Oppositionskandidat, der seinen glücklicheren Rivalen Viktor Orbán gratulierte, ist übrigens Gyula Thürmer, Chef der winzigen Arbeiterpartei, der letzten politischen Arbeitervertretung in Ungarn und der einzigen Oppositionspartei, die nicht im Solde des Auslands zu stehen scheint.

5) Setzt man dieses diskrete Anschließen von Sozialisten mit dem der „historischen Jobbik“ » in dem Zusammenhang einer Rückkehr zu einen starken Gegensatz zwischen Budapest und der Provinz zusammen, so versteht man, dass der Fidesz heute eine Partei von alten Rechtsliberalen ist, die von einer Basis gewählt wird, deren politisierteste Schicht nunmehr aus Antiliberalen (von rechts, aber auch von links) besteht.

Viktor Orbán scheint diese Entwicklung rechtzeitig vorgesehen und begleitet zu haben, indem er seinen Begriff der „illiberalen Demokratie“ ins Leben rief. Kann man das gleiche von seiner Partei sagen? Das ist alles andere als sicher. Unter dem Schutz der Rhetorik eines Zivilisations-Wahlkampfes, die die Interessenkonflikte zwischen dem Westen und dem Osten des Kontinents verwischte, haben die Fidesz-Eliten sich bisher den Luxus leisten können, die Streitfragen zu vermeiden. Sie werden es nicht ewig tun können. Was die Fidesz-Presse betrifft, die zwischen den Linien schwankt, so bezeichnet sie den Feind immer öfter als „liberal“, benutzt aber gewöhnlich dieses Wort – nach amerikanischem Vorbild – als ein Synonym von „links“ und täuscht vor, nicht zu ahnen, dass es innerhalb der Partei und des Regimes einen rechtsliberalen Flügel gibt, der dem Fidesz nur treu bleibt, um an der Macht zu bleiben. Längerfristig könnte der Fidesz sich mit dem Machtverschleiß eines Tages in der gleichen Lage befinden, wie heute die Jobbik (mit einer anderen Reihenfolge für die Erscheinung der entgegengesetzten Linien) – und sich der Gefahr einer Lähmung durch gegenseitige Neutralisierung aussetzen.

Was auch dazu beiträgt, die Reichweite dieses Wahlsieges im Grunde zu relativieren, ist dass Viktor Orbán gegenüber einer Opposition mit einem intellektuell und moralisch abgrundtiefen Niveau zwar gesiegt hat, aber ohne zu kämpfen. Ehrlich gesagt, selbst wenn er im Laufe der acht vergangenen Jahre es nicht geschafft hätte, die Ungarn vor der Raffgier der Industrie- und Bankenmonopole zu schützen, selbst ohne die Gehaltserhöhungen, selbst ohne die Förderung für die Familien, und selbst wenn mindestens die Hälfte der „Verbrechen“, die ihm die westliche Propaganda vorwirft, nicht bloße Verleumdung wäre, kann man sich fragen, wie ein Politiker mit der Reichweite und dem Verstand eines Viktor Orbán gegenüber einer Opposition verlieren könnte, die allein durch sektiereriche Trägheit und eine beständige Unterstützung aus dem Ausland halbwegs künstlich überleben kann. Diese kleine vom Sohn eines ungarischstämmigen amerikanischen Pastors für eine vom Westen finanzierte Publikation gedrehte Serie von Interviews mit den Anführern der sog. Opposition erübrigt beinahe jeden Kommentar: trotz ihrer extremen Zersplitterung (die Beteiligten vertreten allein eine halbe Dutzend Bewegungen, Parteien und NGOs) drücken sich diese „Oppositionellen“ einförmig, vorformatiert und dermaßen inhaltlos aus, dass es praktisch unnötig ist, sie zu widersprechen: die Wörter „autoritär“ und „illiberal“ werden endlos wiederholt, ohne je definiert zu werden, und die allgegenwärtige Anklage der Veruntreuung öffentlicher Gelder (besessenerweise mit dem Thema der europäischen Fonds assoziiert – wobei jeder, der einmal im Leben einen Subventionsantrag ausgefüllt hat, ganz genau weiß, dass sie einer strengeren Kontrolle unterzogen sind, als die nationalen Fonds) wirken wie ein Grundrauschen, ohne sich je auf irgend ein konkretes Beispiel zu stützen (und aus gutem Grunde: unter dieser vagen Form noch toleriert würde diese beweislose Verleumdung dann rasch im Rahmen des Strafrechts zu lösen sein); was die sozialen Erscheinungen angeht, die erwähnt werden, um ein apokalyptisches Bild vom heutigen Ungarn zu zeichnen (wie die Auswanderung der Ärzte – die übrigens in der letzten Zeit nachgelassen hat), so betreffen sie alle anderen postkommunistischen Länder (einschließlich und besonders Rumänien, das musterhaft dem Diktat aus Brüssel und Washington unterworfen ist) gewöhnlich noch gravierender als Ungarn. In Wirklichkeit gibt sich diese Opposition, die nichts zu sagen hat, nicht einmal mehr der Illusion hin, ein Publikum für ihren verbalen Durchfall zu haben, und versucht vor allem ihre westlichen Sponsoren mit den Beweisen einer lobenswerten und entlohnbaren Tätigkeit zu überschütten: nicht nur wird besagter Videoclip in englischer Sprache untertitelt, sondern antwortet eine der Beteiligten (obwohl selber Ungarin und mit einem Ungarn redend) sogar gleich auf Englisch (Freudscher Versprecher?).

Soll man sich darüber freuen? Nein. Denn mit dem Mißkredit, der nunmehr auch die Jobbik trifft, regiert der Fidesz fortan ohne Opposition: legal betrachtet, wegen seiner überwältigenden Mehrheit im Parlament, aber auch und besonders moralisch, da es an achtungswürdigen Ansprechpartnern fehlt. Für einen Fidesz, dessen Funktionäre nicht alle die außergewöhnliche moralische Kraft eines Viktor Orbán besitzen, und der in acht Jahren an der Macht zwangsläufig viele Opportunisten angezogen hat, die sich um das Allgemeinwohl wenig scheren, wird unter solchen Bedingungen die Versuchung riesengroß, sich auf seinen Lorbeeren auszuruhen – in einer Zeit, wo die EU-Krise schlimmer wird, und wo die Auswirkungen einer möglichen internationalen Finanzkrise für dieses wirtschaftlich schwächere Land zur Nagelprobe werden könnten.

Bemerken wir en passant, dass die internationalen „Wohltäter“, die die ungarische Pseudo-Opposition de facto beherrschen, übrigens eine gewisse Verantwortung für das Verfahren der Kontra-Selektion tragen, das zur derzeit zu beobachtenden idiokratischen Situation geführt hat: erwähnen wir z.B. die ziemlich unklaren Bedingungen, unter welchen der talentvolle András Schiffer durch das globalistische Generikum namens Bernadett Szél an der Spitze der grün-zentristischen Bewegung LMP ersetzt wurde. Oder noch die unerklärliche politische Nachhaltigkeit des verabscheutesten Menschen Ungarns, des Oligarchen Ferenc Gyurcsány, ein echter Klotz am Bein für die ungarische Linke, den die Wählerschaft 2009-2010 schmählich hat abblitzen lassen, nachdem er selbst durch die EU in flagranti erwischt wurde, wie er die öffentliche Buchführung Ungarns frisieren ließ; trotz sonderbarer öffentlichen Auftritte, die den starken Verdacht unvorsichtigen Alkoholkonsums ernähren, ist er übrigens einer der einzigen Leader der sog. Opposition, der nach der Wahlschlappe von Sonntag Abend seinen Rücktritt nicht erklärt hat – was manche böse Zungen dazu führt zu fragen, ob es da keine geheime Absprache mit dem Fidesz gab, um die ungarische Linke langfristig zu diskreditieren.

Demonstration gegen die Wahlergebnisse und die „Diktatur“ Viktor Orbáns am 14. April 2018. Bild: Visegrád Post

 

 

 

 

 

 

Der Fidesz, Opfer seines Erfolgs?

Wenn man eine Parlamentswahl zu einem Referendum umfunktioniert, setzt man sich zweien größeren Gefahren aus. Die Hauptgefahr ist natürlich, das Referendum und dabei die Macht zu verlieren. Die folgende Gefahr in der Reihenfolge der Schädlichkeit ist es aber, die Abstimmung zu gewinnen und ipso facto unnützlich zu werden. Nach dieser ungarischen Ablehnung (die dank Visegrád ein regionales Ausmaß annimmt) der EU-Migrationspolitik und in einer verjüngten und technokratisierten politischen Landschaft in Europa (Macron, Kurz…) kann man nicht ausschließen, dass eine „gemäßigt globalistische“ Übergangsdoktrin erscheine, die das linksradikale „No-Borders-Ideal“ opfern würde, um die Brüssler „Boutik zu retten“. Wenn er somit einmal seiner „Allzweckwaffe“ beraubt wäre, könnte der Fidesz, um fortzubestehen, nur noch – vor allem imagemäßig – mit der Wertlosigkeit seiner Opposition rechnen – die wiedergutzumachen sein wird, wenn er keine strebsamere Politik entwickelt, die in der Lage sei, Ungarn vor hinterhältigeren – aber nicht weniger echten – Gefahren zu schützen, als die Bedrohung durch die Einwanderung.

Einige der von der linken Opposition ausgeschlachteten sozialen Themen verweisen auf echte Probleme in der ungarischen Gesellschaft hin (manche von ihnen haben wir hier erwähnt). Es gibt zuerst mal die Auswanderung der jungen Leute, die durch die europhilen Klageweiber wie ein politisches Exil vorgetragen wird und in Wirklichkeit in den allermeisten Fällen von einem wirtschaftlichen Hintergrund abhängt. Wird der Mißkredit der Opposition – die natürlich unfähig ist, lebensfähige Lösungen für Probleme vorzuschlagen, die sie und/oder ihre internationalen Sponsoren großteils selber geschafft haben – ad aeternam genügen, um in den Augen der Wähler die relative Ohnmacht des Fidesz in diesem Bereich zu entschuldigen? Es wäre wahrscheinlich illusorisch und auf jeden Fall feige dies zu hoffen. Doch ist es da eine verständliche Feigheit aufgrund der Schwierigkeit einer Übung, deren potentielle (finanzielle und politische) Kosten bei weitem diejenigen überragen, die man für die Errichtung eines Stacheldrahtzauns an der serbischen Grenze berappen mußte. Um unter dem EU-Joch, das es weiterhin akzeptiert, die Kaufkraft seiner unteren Schichten zu verbessern, verfügt Ungarn weder über eine währungspolitische Waffe (wie alle anderen Nicht-Euro-Währungen der EU ist der Forint ein Währungsbantustan unter der Tyrannei einer „unabhängigen“ Zentralbank), noch über die protektionistische Option (wegen WHO und EU – ohne seine Abhängigkeit vom deutschen Kapital zu berücksichtigen). Von der Seidenstraße hofiert, wäre es allerdings äußerst kühn, wenn es trotz seiner geringen finanziellen Tragfläche und seiner militärischen Quasi-Inexistenz sich allein in die Dissidenz wagen sollte. Die Verbesserung setzt also vorerst die Aufbewahrung der bestehenden Strukturen aber gleichzeitig die standhafte Neuverhandlung der Handelsbedingungen mit dem westlichen (vor allem deutschen) Kapital voraus. Folglich führt der Weg der wirtschaftlichen Emanzipierung auch über Visegrád, das imperativ zu mehr als einem Anti-Einwanderungs- bzw. Anti-Homosexuellenverband mit NATO-Filiale werden soll, wenn es langfristig (auch ohne sich zu leugnen) eine Daseinsberechtigung haben will. Beurteile man allerdings nach den Präzedenzfällen – angefangen von der Migrantenkrise von 2015 – so wird es nur geschehen, wenn Viktor Orbán als nunmehriger vollkommen gesalbter regionaler Anführer die Spitze des Kreuzuges übernehme – was im Westen eine erneute Zunahme der ungarnfeindlichen Medienkampagnen und gefüllte Auftragshefte für die gedingten Verleumder der CNN, BBC, ZDF und weiteren M6 verspricht.

Dieser Weg wäre mutig, aber aufgrund der langfristigen Alternativlosigkeit wäre er meiner Meinung nach auch notwendig. In der Tat, auch wenn die regierungsnahe Presse zurecht betont, dass der Fidesz am letzten Sonntag die Mehrheit in allen Altersklassen errungen hat, so bleibt es jedoch, dass gegenüber seinem innovativsten Gegner (Momentum, eine Art ungarische Replik der französischen Macron’schen Bewegung En Marche) die Fidesz-Wählerschäft eine beinahe umgekehrte Alterspyramide aufweist, die u.a. relativ schwache Truppen in der jüngeren Altersgruppe aufweist. Diese Wähler, von denen viele zur Zeit der Wende noch nicht geboren waren, können sich höchstens an die Gyurcsány-Jahre – als Abschreckung – erinnern (zwei Perioden, die jedoch fast nichts Gemeinsames haben, außer eine gewisse dynastische Kontinuität der ex-kommunistischen zum Neoliberalismus konvertierten Apparatschiks); „das System“ ist für sie der Fidesz – daher übrigens die besseren Ergebnisse unter der weiblichen Wählerschaft, die strukturell mehr dazu neigt, bestehende Hierarchien zu akzeptieren. Der Fidesz wird vernünftigerweise nach über zehn Jahren an der Macht die Rhetorik der Rebellion nicht endlos weiterverfolgen können, ohne sich der Gefahr auszusetzen, eine Alternative (wie Momentum) zu fördern, die in der Lage wäre, dieses faktisch überholte doch in der Trägheit des Diskurses behaltene Ideal besser als er zu verkörpern. Sehr intuitiv und gut beraten scheint sich Viktor Orbán übrigens dessen bewußt zu sein: anläßlich seiner historischen Rede am 15. März hat sich der starke Mann von Budapest, der auf seine 60er zugeht, zum ersten Mal an die ungarische Jugend mit dem Ton eines Großvaters gewandt. Um der ewigen Rückkehr der Farbenrevolution zu entgehen, soll man nicht nur älter werden, sondern ausdrücklich dem Jugendwahn abschwören.