„In unserer modernen Welt, in der sich die Macht immer mehr in den Händen einiger weniger Großer konzentriert, laufen alle europäischen Nationen Gefahr, bald zu kleinen Nationen zu werden und deren Schicksal zu erleiden. In diesem Sinne erscheint das Schicksal Mitteleuropas als Vorwegnahme des europäischen Schicksals im Allgemeinen, und seine Kultur erhält von vornherein eine enorme Aktualität.“
Dies sind Worte von Milan Kundera, der am 11. Juli 2023 in Paris starb, in seinem Artikel „Un Occident kidnappé, ou la tragédie de l’Europe centrale“, [dt. Der entführte Westen. Die Tragödie Mitteleuropas] der 1983 in der französischen Zeitschrift Le Débat erschien und in alle europäischen Sprachen übersetzt wurde. Im aktuellen Kontext des russisch-ukrainischen Konflikts, des Niedergangs der europäischen Nationen, der Rückkehr des Narrativs des „Kalten Kriegs“ und des Brüsseler Kreuzzugs gegen Polen und Ungarn ist dieser Text lesens- und wieder lesenswert.
Kundera liefert darin das, was Westeuropäer so schwer zu begreifen vermögen: die Besonderheiten dieser mitteleuropäischen Region, ihre Angst vor dem Verschwinden, ihre Eingezwängtheit zwischen den großen Imperien. Er tut dies, obwohl sich Europa auf dem ersten Blick stark von dem unterscheidet, was wir heute kennen. Mitteleuropa lag damals politisch im Osten, unter der Herrschaft Moskaus, während es historisch und kulturell im Westen lag. In dieser Hinsicht erlebt es eine Tragödie.
Milan Kunderas langer Artikel ermöglicht es jedoch auch, die Natur Russlands, des russischen Volkes und seiner imperialen Bestrebungen zu hinterfragen. 1983 war Kundera kategorisch: „[…] nicht Russland, sondern der Kommunismus beraubt die Nationen ihres Wesens und machte übrigens das russische Volk zu seinem ersten Opfer. Gewiss, die russische Sprache erstickt die Sprachen der anderen Nationen des Reiches; aber es ist nicht so, dass die Russen die anderen russifizieren wollen, sondern dass die zutiefst a-nationale, kontra-nationale, supra-nationale Sowjetbürokratie ein Werkzeug braucht, um ihren Staat zu vereinheitlichen.“
Er nuanciert seine Aussage weiter: „Abgesehen davon, ist der Kommunismus die Negation der russischen Geschichte oder vielmehr ihre Erfüllung? Er ist sicherlich sowohl seine Negation (z.B. Negation seiner Religiosität) als auch seine Erfüllung (Erfüllung seiner zentralistischen Tendenzen und seiner imperialen Träume).“ Kundera berührt auch die heikle Frage der Beziehungen zwischen Russland und dem Westen. Er erinnert daran, dass es russisch-westliche kulturelle Ehen gibt, und erklärt auch die russische antiwestliche Tradition – allesamt nuancierte Elemente, um zu versuchen, in der aktuellen Situation Klarheit zu gewinnen.
Der tschechische Autor, der die französische Staatsbürgerschaft besitzt, geht auf die komplexen Beziehungen zwischen Russland und der slawischen Welt ein, was eine weitere Gelegenheit bietet, die atypische Stellung Ungarns inmitten des mitteleuropäischen Raums zu verstehen. Ungarn ist zwar unbestreitbar Teil Mitteleuropas (Kundera beginnt seinen Artikel übrigens mit der Bedeutung von 1956), doch gibt es durchaus ein ungarisches „Geheimnis“, das nur erfahrene Magyarophonen und diejenigen mit einer intimen Kenntnis des ungarischen Volkes verstehen können – was bei Milan Kundera nicht der Fall war.
Es gibt jedoch eine mitteleuropäische Schicksalsgemeinschaft, auf die Milan Kundera in bewundernswerter Weise hinweist. Sie beruht auf den Begriffen Überleben, Identität, Kultur und Misstrauen gegenüber der Geschichte. Das ist es, was sie von Westeuropa unterscheidet. Derzeit. Denn vielleicht ist dies der Weg, den auch die westeuropäischen Nationen gerade gehen, der Weg der Niederlage und des Endes von Größe und Ruhm, die Erkenntnis, dass sie untergehen können.
Nichts ist also aktueller als Kunderas wunderbare Überlegung, die er vor nunmehr vierzig Jahren formulierte: „Das gesamte große mitteleuropäische Schaffen von unserem Jahrhundert bis heute könnte als eine lange Vermittlung über das mögliche Ende der europäischen Menschheit verstanden werden.“